Biegungsfestigkeit

[5] Biegungsfestigkeit wird die Festigkeit (s.d.) gegen Beanspruchung auf Biegung (s.d.) genannt. Bei Versuchen in dieser Hinlicht werden meist beiderseits frei aufliegende prismatische Stäbe mit horizontaler Achse durch eine Einzellast P in der Mitte ihrer Spannweite l belastet (vgl. Biegungselastizität). Man hat dann unter den Voraussetzungen der technischen Biegungstheorie horizontaler Balken (s. Balken, Biegung I) den größten Zug und Druck pro Quadrateinheit eines Querschnittelements in der Stabmitte (Zug positiv):


Biegungsfestigkeit

unter eu, eo die absoluten Entfernungen des untersten und obersten Querschnittselements von der Achsschicht verstanden (in denen die Grenzwerte der Normalspannungen σ eintreten). In 1. ist der gewöhnlich sehr geringe Einfluß des Eigengewichts vernachlässigt. Soll letzteres mit g pro Längeneinheit berücksichtigt werden, dann finden sich:


Biegungsfestigkeit

Für beliebige horizontale Balken hat man die größte Normalspannung in einem Querschnitt x:

σ = ± Mx/W,

3.


[5] worin Mx das Angriffsmoment, W das Widerstandsmoment (s. Balken, Biegung) und das obere oder untere Vorzeichen zu wählen, je nachdem e = eu oder e = – eo die absolut größte Entfernung von der Achsschicht ist.

Obschon die obigen Formeln selbst unter den Voraussetzungen der Biegungstheorie nur unterhalb der Proportionalitätsgrenze Gültigkeit beanspruchen, pflegt man doch die aus ihnen folgende größte Normalspannung b beim Bruche als Biegungsfestigkeit zu bezeichnen. Da aber bei zähem, dehnbarem Material vielfach überhaupt kein Bruch eintritt, weil die Träger schon vorher ihre Tragfähigkeit durch Strecken und Ausbiegen verlieren, so hat man in solchen Fällen die größte aus 1.–3. folgende Normalspannung im Augenblicke dieses Nachgebens an Stelle der Biegungsfestigkeit angegeben (vgl. Biegungselastizität). Mitunter jedoch wurde bei der Beurteilung der Tragfähigkeit belasteter Balken die Biegungsfestigkeit überhaupt aus dem Spiele gelassen, indem man die zulässige Belastung als Teil der unter gleichen Verhältnissen ermittelten Bruchlast P festsetzte, ohne eine Verwertung der Versuchsergebnisse für andre Trägerarten, Spannweiten und Querschnitte anzustreben. Dies kann für häufig vorkommende Träger von bestimmter Belastung besonders dann vorzuziehen sein, wenn es sich um Material handelt, für das die Voraussetzungen der Biegungstheorie (insbesondere gleiche und konstante Elastizitätsmoduln für Zug und Druck) nicht wenigstens annähernd erfüllt sind.

Bei Versuchen mit den wichtigsten Konstruktionsmaterialien begann der Bruch meist auf der Zugseite, wie auch das Strecken wesentlich auf Zugbeanspruchungen zurückzuführen ist. Demgemäß wird die Biegungsfestigkeit b häufig im Verhältnis zu der durch Zerreißversuche ermittelten absoluten Zugfestigkeit z angegeben, die am meisten bekannt ist. Setzt man nun

b =β z,

4.


so läßt sich auf Grund neuerer Versuche für Dimensionierungszwecke vorläufig annehmen: Für gewalzte Träger aus Schweißeisen und Flußeisen

β = 1

(vgl. Biegungselastizität und [6], S. 257); für genietete Blechträger aus Schweißeisen von genügender Stehblechstärke und Querversteifung

β = 0,9,

für ebensolche aus weichem Flußeisen, insbesondere Martinflußeisen,

β = 0,8

(vgl. Blechträger). Bei den Versuchen, aus denen diese für gutes Material und gute Arbeit nicht zu günstigen Mittelzahlen entnommen sind, wurde bei Ermittlung von b die Nietverschwächung in J, W berücksichtigt. z hat dem Material der äußersten Fasern (Deckplatten, Flanschen u.s.w.) zu entsprechen. Für Gußeisenbalken kann man nach Versuchen Bachs ([5], 1888, S. 1094, [14], S. 237) im Falle eu = e setzen:


Biegungsfestigkeit

worin c die Entfernung des Schwerpunktes des zwischen äußerster Zugfaser und Achsschicht gelegenen Querschnittsteils von der letzteren, μ ein Erfahrungskoeffizient, der für quadratische und rechteckige Querschnitte mit vertikalen Seiten sowie für den symmetrischen I-Querschnitt mit vertikalem oder horizontalem Steg etwa 6/5, für das Quadrat mit vertikaler Diagonale und den Kreis etwa 4/3 zu wählen ist, bei Stäben mit Gußhaut jedoch um 1/6 dieser Werte kleiner. Für Laub- und Nadelbauholz hat man nach Tetmajer [15], S. 440:

β = 0,7–0,75.

Die letztere Zahl kann auch nach Winkler ([9], S. 24) als Mittel gelten. Mit Rücksicht auf die Versuche von Durand-Claye [12] und Hanisch [13] empfiehlt Tetmajer ([15], S. 439) vorläufig zu setzen:


Für granitartige Gesteineβ = 1,7,
Für kristallinische Kalksteineβ = 1,5,
Für dichte und poröse Kalksteineβ = 1,2,
Für Trümmergesteine, hartβ = 1,5,
Für Trümmergesteine, weichβ = 1,1.

Für Stahl von geringem Kohlenstoffgehalt kann ß wesentlich höher als 1 liegen (vgl. die Tabelle unter Biegungselastizität) und selbst über 2 hinausgehen ([4], S. 49, 60), doch gilt dies zunächst nur für schlichte Stäbe, während für Blechträger (s.d.) die Verhältnisse ungünstiger liegen. Wie für Zug und Schub, so fand Wöhler auch für Biegung die Fertigkeit bei zahlreichen Wiederholungen wesentlich geringer als bei einmaliger ruhender Belastung (s. Arbeitsfestigkeit). Für Glas hat sich die Biegungsfestigkeit als abhängig von der Dicke erwiesen und sind besondere Formeln für Weichglas und Hartglas aufgestellt worden ([8], S. 109). Im übrigen ist besonders auf die Veröffentlichungen der verschiedenen Versuchsanstalten, z.B. [1], [2], hinzuweisen. Ueber einheitliche Prüfungsmethoden s. [3].


Literatur: [1] Mitteilungen aus dem mechanisch-technischen Laboratorium u.s.w., München, Heft I, 1873 (Zementmörtel), III, 1874 (Ternitzer Bessemerstahl), IV, 1874 (Bausteine), VIII, 1879 (Portlandzement), IX, 1883 (Fichten- und Kiefernbauholz), X, 1884 (Bausteine Bayerns), XVI, 1888[6] (verschiedene Nadelhölzer), XVIII, 1889 (verschiedene Steinmaterialien), XXIV, 1896 (Steinbalken), XXVI, 1898 (gekrümmte Stäbe). – [2] Tetmajer, Mitteilungen u.s.w., Zürich, II, 1884 (Schweizer Bauhölzer, S. 46), III, 1886 (I-Träger in Schweißeisen und Flußeisen, S. 95, 104, 116, 134, 144; Schienen, S. 238, 248), IV, 1890 (Zoreseisen, I-Träger, Blechträger in Schweißeisen und Flußeisen, S. 82, 91, 94, 183, 193, 210, 223), VII, 1894 (Betongewölbe, S. 195). – [3] Feststellung einheitlicher Prüfungsmethoden: Beschlüsse der Konferenzen zu München, Dresden, Berlin und Wien, München 1893. Verhandlungen in München (1884–85): Bauschingers Mitteilungen u.s.w., XIV, 1886; in Dresden (1886) und Berlin (1890): Ebend., XXII, 1894; in Wien (1893): Zeitschr. d. österr. Ing.- u. Arch.-Vereins 1893, S. 321, 327. – [4] Considère, Mémoire sur l'emploi du fer et de l'acier, Paris 1885, p. 38 (Schmiedeeisen, Stahl, Gußeisen). – [5] Bach, Die Biegungslehre und das Gußeisen, Zeitschr. d. Vereins deutscher Ingenieure 1888, S. 193, 221, 1089; 1889, S. 137. – [6] Bischoff, Bericht des Brückenmaterialkomitees, und Brik, Fachwissenschaftliche Erörterungen dazu: Zeitschr. d. österr. Ing.- u. Arch.-Vereins 1891, S. 63, 73 (verbundene Blechträger). – [7] Schwering, Ueber die Biegungsfestigkeit des Glases mit Rücksicht auf die Konstruktion von Glasbedachungen, Zeitschr. d. Arch.- u. Ing.-Vereins zu Hannover 1880, S. 69. – [8] Connert, Ueber die Biegungsfestigkeit des Glases, Civilingenieur 1888, S. 1, 119, 621. – [9] Winkler, Die hölzernen Balkenbrücken, Wien 1887, S. 24. – [10] Forchheimer, Versuche über das Verhältnis der Biegungsfestigkeit zur Scherfestigkeit des Holzes, Zeitschr. d. österr. Ing.- u. Arch.-Vereins 1891, S. 157. – [11] Bericht des Gewölbeausschusses, Zeitschr. d. österr. Ing.- u. Arch.-Vereins 1895 (Gewölbe). – [12] Durand-Claye, Essai sur la limite de la résistance à la rupture par traction des ciments et autres matériaux analogues, Annales des ponts et chaussées 1895, t. 1, p. 604. – [13] Hanisch, Bestimmung der Biegungs-, Zug-, Druck- und Schubfestigkeit der Bausteine der österreichisch-ungarischen Monarchie, Wien 1901. – [14] Bach, Elastizität und Festigkeit, Berlin 1902. – [15] v. Tetmajer, Die angewandte Elastizitäts- und Festigkeitslehre, Leipzig und Wien 1904.

Weyrauch.

Biegungsfestigkeit
Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 2 Stuttgart, Leipzig 1905., S. 5-7.
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