Kanalisationssysteme

[355] Kanalisationssysteme, besondere, sind entstanden bei Durchführung des Grundsatzes der getrennten Abführung der verschiedenen städtischen Abwässer, weshalb diese Systeme allgemein mit dem Namen Trennsysteme bezeichnet werden. Allen Trennsystemen gemeinsam ist die gesonderte Ableitung der Regenwässer, sei es oberirdisch durch Rinnen, sei es ganz oder zum Teil unterirdisch. Eine Verschiedenheit in den Systemen ergibt sich aber dadurch, daß ein Teil derselben die Schmutzwässer und die Fäkalien durch eine gemeinschaftliche Rohrleitung abführt, während ein andrer Teil sich für die Abführung der Fäkalien einer besonderen Leitung bedient. Ein weiteres unterscheidendes Merkmal ist nebenbei die Art der Bewegungserzeugung des Kanalinhaltes: Natürliches Gefälle, dasselbe unter Verstärkung der Bewegung durch Spülvorrichtungen vorzugsweise selbsttätiger Art (s. Spüleinrichtungen) sowie Druckluft oder Absaugung.

Da beim getrennten System die Brauchwasserkanäle unter der Annahme halber Füllung nur für eine abzuführende Wassermenge von 150–200 l pro Kopf und Tag der Bevölkerung berechnet zu werden pflegen und hierbei ausreichend große Dimensionen erhalten, so ist klar, daß im Bau und Betrieb wesentliche Ersparnisse gegenüber dem einheitlichen System (Mischsystem) entstehen,. sofern die Ableitung des Regenwassers in billiger Weise (völlig oberirdische Ableitung, teilweise unterirdische Ableitung, kurze Stichkanäle in nahegelegene Wasserläufe) erfolgen kann. Außer diesen möglichen finanziellen Vorteilen bieten die Trennungssysteme noch den manchmal hoch anzuschlagenden Vorzug, daß die Regenauslässe der Schmutzwasserkanäle in Wegfall kommen. Ferner besitzen die Trennsysteme dort Vorteile, wo mit Rücksicht auf die Schwierigkeiten der Kanalwasserreinigung oder behufs Verbilligung und Vereinfachung eines etwa erforderlichen Pumpbetriebes möglichst geringe Abwassermengen erwünscht sind. Auch wird geltend gemacht, daß die Gefahr des Eindringens der Kanalgase in die Häuser eine verminderte sei gegenüber den einer größeren Luftmenge Platz bietenden gemeinsamen Abflußkanälen. Als Nachteil der Trennsysteme ist namentlich bei voller Durchführung derselben, mit welcher in der Regel auch höhere Baukosten verbunden sind, der weniger einfache Betrieb sowie die geringere Einfachheit und Uebersichtlichkeit gegenüber dem einheitlichen System anzuführen [1]–[4], [12], [14], [16].

Das gewöhnliche Trennsystem: besondere Ableitung des Regenwassers, im übrigen Abführung des Schmutzwassers mit den Fäkalien gemeinsam unter Abschwemmung derselben mittels Wasserklosetts, ist bereits unter Kanalisation der Städte und Ortschaften kurz besprochen und darauf hingewiesen worden, daß dieses System besonders für kleinere Ortschaften geeignet erscheine ([3], S. 358, und [5], [13], [15], [16]). Auch für solche Orte, wo die Fäkalien durch Abfuhr beseitigt werden, ist die getrennte Abführung der Hauswässer vom Regenwasser, welchem in vielen Fällen sein bisheriger Ablauf belassen werden kann, als meist vorteilhaft und recht geeignet zu bezeichnen. Wie im einzelnen Regenkanäle und Schmutzwasserkanäle anzuordnen oder in praktischer Weise miteinander zu kombinieren sind, zeigen an der Hand von Beispielen [6]–[8], [12] und [14].

Das System Waring stellt sich als ein vereinfachtes Trennsystem mit natürlichem Gefälle dar. Eine besondere Regenwasserableitung kommt bei ihm gewöhnlich nicht in Frage, sondern[355] es hat bei dem bisherigen natürlichen oder künstlichen Regenablauf sein Bewenden. Revisionsschächte sind entweder gar nicht oder nur in sehr beschränkter Anzahl, etwa an wichtigen Straßenkreuzungen vorgesehen; dagegen ist für eine intensive Spülung durch Spülschächte mit Selbstspüler (s. Spüleinrichtungen) in Abständen von 200–300 m gesorgt ([2], [9], [12]).

Das Shone-System, hauptsächlich in England erfolgreich ausgeführt, ist seinem Wesen nach nichts andres als eine nach dem Radialsystem (s. Kanalisation der Städte und Ortschaften) ausgeführte Trennkanalisation, deren einzelnen Pumpstationen verhältnismäßig kleine Entwässerungsgebiete zugeteilt sind. Die Pumpstationen bestehen aus je einem unterirdisch angeordneten, tiefliegenden, eisernen Behälter, dem Ejektor, in dem das Schmutzwasser, dem natürlichen Gefälle folgend, einfließt und nach Füllung desselben durch eine Schwimmeinrichtung selbsttätig durch Preßluft nach einer Druckleitung oder einem höher gelegenen Sammelkanal von einer Zentralstation aus gefördert wird (vgl. die Figur). Durch dieses System wird der Vorteil erreicht, daß auch in ganz flach gelegenen Entwässerungsgebieten die Kanäle ohne große Tiefenentwicklung genügende Gefälle erhalten, daß Terrainschwierigkeiten überhaupt leicht überwunden und dadurch Ersparnisse an Bau- und Betriebskosten erzielt werden ([1], S. 303; [3], S. 362; [4], S. 237; [10]), [12], [13], [16]. Nach dem gleichen Prinzip war die pneumatische Kanalisation des Terrains der Berliner Gewerbeausstellung 1896 von E. Merten & Cie. in Berlin ausgeführt. Desgleichen die Kanalisationen von Allenstein (Ostpreußen), Tempelhof bei Berlin, Arad (Ungarn).

Durch das Liernur-System sollen die menschlichen Exkremente, die Hauswässer, die Regenwässer und, wo erforderlich, das Grundwasser, jedes durch ein besonderes Kanalsystem, aus den Städten entfernt werden. Für die gesonderte Ableitung des Haus-, Regen- und Grundwassers hat Liernur die verschiedensten Vorschläge gemacht, welche alle darauf hinausgingen, die hohen Kosten so vieler Leitungen nebst der unschädlichen Beseitigung ihres Inhalts möglichst herabzumindern. Dieselben erwiesen sich aber nicht als praktisch durchführbar, so daß nur der Hauptteil des Liernur-Systems, d.i. der pneumatische Fäkalientransport durch Rohrleitungen, mehrfach zur Ausführung gelangte. Hierbei ist außerhalb der Stadt, womöglich auf einem tiefgelegenen Terrain, eine Luftpumpenanlage gebaut, von der aus unter Vermittlung von in der Stadt verteilten Bezirksbehältern die einzelnen Straßenleitungen möglichst luftleer gepumpt werden, um so die Exkremente von den Hausleitungen aus, in welchen sie in einem siphonförmigen Abschluß zur ersten Ablagerung gelangen, nach den Bezirksreservoiren und von da nach der Zentralstation zu saugen. Die auf der Zentralstation angelangten Fäkalien sollen alsdann in Poudrette verwandelt werden. Das Liernur-System weist in hygienischer Hinsicht manche Vorzüge vor der Fäkalienbeseitigung durch Abfuhr auf, da Bodenverunreinigungen vollständig ausgeschlossen sind. Der Betrieb ist indessen kein einfacher und billiger zu nennen. Ausführliches [4], S. 243 ff.; [2], S. 164 ff.; [3], S. 259 ff.; [7], [12], [16].

Das Berlier-System, gleichfalls ein pneumatisches Fäkalienbeseitigungssystem, unterscheidet sich vom Liernur-System dadurch, daß zwischen Fallrohr und Hausleitungen an Stelle des siphonförmigen Abschlusses ein Aufnahmegefäß mit Entleerungsvorrichtung nach der pneumatischen Leitung hin angeordnet ist. Durch die besondere Einrichtung des Aufnahmegefäßes (Sieb) mit Schwimmerventil wird es aber im Betrieb noch komplizierter als das Liernur-System ([1], S. 201; [2], S. 175). Andre Systeme sind diejenigen von Hempel ([4], S. 240) und von Brandis ([4], S. 241), welche keine praktische Bedeutung erlangt haben.


Literatur: [1] Baumeister, Städtisches Straßenwesen und Städtereinigung, Berlin 1890, S. 299 ff. – [2] Büsing, Die Kanalisation in Weyls Handb. der Hygiene, Jena 1894, S. 159–1880, mit zahlreichen Literaturangaben. – [3] Brix, Pfuhl und Nocht, Hygienisch-technischer Teil von Behrings »Bekämpfung der Infektionskrankheiten«, Leipzig 1894, S. 358. – [4] Vogel, Die Verwertung der städtischen Abfallstoffe, Berlin 1896, S. 135–278. – [5] Herzberg, Die Kanalisation kleiner und Mittelstädte, Gesundheitsingenieur, München 1896, S. 273. – [6] Keller, Die Kanalisation von Neapel, Zeitschr. f. Bauwesen, Berlin 1892. – [7] Frühling, Entwässerung der Städte in Handbuch der Ingenieurwissensch., Leipzig 1903. – [8] Metzger, Neues System der Städteentwässerung, Bromberg 1896. – [9] Waring, The sewerage of Memphis, Transactions of the American society of civil engineers, New York 1881. – [10] Knauff, Entwurf zur Kanalisation der Stadt Potsdam, 1885. – [11] Deutsche Vierteljahrsschr. s. öffentl. Gesundheitspflege 1898, Bericht über die 22. Versammlung in Karlsruhe. – [12] Büsing, Die Städtereinigung, Bd. 3, Der städtische Tiefbau, Stuttgart 1901. – [13] Canalis, Pietro, Intorno al Sistema di Canalizzazione[356] separata, Rivista d'Igiene e Sanita publica, 9. Jahrg., Turin 1898. – [14] Steuernagel, Die Entwässerung der Stadt Köln u.s.w. in Th. Weyl, Die Assanierung der Städte in Einzeldarstellungen, Leipzig 1906, Bd. 1. – [15] Salomon, H., Die städtische Abwässerbeseitigung in Deutschland, Jena 1906, Bd. 1 ff. – [16] Reich, A., Der städtische Tiefbau, Leipzig 1907, S. 202 ff.

J. Brix.

Schacht mit Ejektor nach System Shone (ausgeführt in Allenstein).
Schacht mit Ejektor nach System Shone (ausgeführt in Allenstein).
Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 5 Stuttgart, Leipzig 1907., S. 355-357.
Lizenz:
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