Reaktionen [2]

[367] Reaktionen, chemische, bei tiefer Temperatur.

Um die Moleküle und Atome der Körper in Schwingungen zu versetzen und die Atome verschiedener mechanisch zusammengebrachter Substanzen miteinander in chemische Reaktion treten zu lassen, ist die Zufuhr von äußerer Energie notwendig, die im allgemeinen in Gestalt der Erwärmung geschieht. Bei vielen Körpern genügt hierzu schon die normale Temperatur, bei andern ist künstliche Wärmezufuhr notwendig. Es folgt aus diesen Tatsachen, daß, je mehr man die Temperatur der Körper dem absoluten Nullpunkt nähert, bei welchem die Bewegungsform der Moleküle, die wir Wärme nennen, vollständig aufhört, um so geringer die Reaktionsfähigkeit werden muß, und[367] daß die eine Reaktion schon bei einer geringen, die andre bei einer stärkeren Abweichung von der normalen Temperatur zum Stillstand kommen wird. Beobachtungen in dieser Richtung finden sich vereinzelt in der Literatur verstreut; so geben Loir und Drion an, daß bei –65° flüssiger Ammoniak auf Schwefelsäure geschichtet werden kann, ohne Reaktion zu zeigen [1]. Eingehend haben sich erst Pictet und seine Mitarbeiter mit diesem Gebiet beschäftigt und eine große Anzahl von wichtigen Tatsachen festgestellt [2].

Das interessanteste Beispiel für das Aufhören der chemischen Reaktionen bei tiefen Temperaturen ist folgendes: Kühlt man mit Hilfe eines Gemisches von fester Kohlensäure und Aether, wodurch man etwa eine Temperatur von 90° erhält, gewöhnliche rohe Salzsäure (die bei dieser Temperatur nicht erstarrt) ab und bringt man ein Stückchen metallisches Natrium, das an einem Eisendraht aufgespießt ist und mit diesem in einem Reagenzglas hängt, auf dieselbe Temperatur, so tritt keinerlei Reaktion ein, wenn man das Natrium vermitteln des Drahtes in die kalte Salzsäure eintaucht. Nachdem die Flüssigkeit sich einige Minuten erwärmt hat, steht man zunächst längs des Eisendrahtes Wasserstoffblasen sich entwickeln, und einige Sekunden später verzehrt sich das Natrium mit explosionsartiger Geschwindigkeit in der Säure. Besonders interessant ist dabei auch die Tatsache, daß das Eisen, dessen Reaktion mit Salzsäure doch erheblich schwächer ist als die des Natriums, schon bei einer tieferen Temperatur zu reagieren anfängt als das letztere. Bringt man ferner Schwefelsäure von der Zusammensetzung H2SO4 + 7H2O, deren Gefrierpunkt sehr tief liegt, und gepulverten Marmor bei –70° zusammen, so erfolgt keine Reaktion. Bei –52° ist die erste Spur einer Reaktion bemerklich, bei –15° wird dieselbe energisch und zeigt bei –7° denselben Verlauf wie bei normaler Temperatur.


Literatur: [1] Loir und Drion, Ann. chim. phys. (3), 56, 1. – [2] Pictet, Essai d'une méthode générale de synthèse chimique, Genf 1893.

(Thilo) Bujard.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 7 Stuttgart, Leipzig 1909., S. 367-368.
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