1. Der Fischersohn

[1] Es war einmal ein Fischer, der hatte einen Sohn. Eines Tages ging er fischen und nahm auch seinen Sohn mit. Als er an einen großen Fluß gekommen war, rief er Gott an und warf sein Netz auf des Sohnes Wohl und Glück aus. So viele Fische fing er da, daß er das Netz kaum ans Ufer ziehen konnte, und als er sich die Fische näher anschaute, sah er, daß einer dabei war, der war wie Blut so rot und wunderschön. Da sagte er zu seinem Sohne »Ich gehe heim und hole die Arba3, gib du solange acht, daß nichts passiert. Besonders den roten Fisch da laß mir nicht aus dem Auge!«

Als der Vater weg war, nahm der Fischerssohn den roten Fisch vor, streichelte und liebkoste ihn und sagte endlich: »Ist es nicht eine Sünde, einen so schönen Fisch zu töten? Ich will ihn lieber wieder loslassen!« Sprach's und warf ihn ins Wasser. Der Fisch aber schwamm ans Ufer zurück, bedankte sich schön, zog eine Gräte aus einer seiner Flossen und sprach:

»Weil du so gut zu mir warst, geb ich dir diese Gräte; wenn du einmal nicht weißt, wo hinaus, dann komm her ans Ufer, nimm die Gräte aus der Tasche, rufe mich beim Namen, dann komm ich gleich und helfe dir.«

Der Junge nahm die Gräte und steckte sie in die Tasche, der Fisch aber ließ lustig seinen Schweif springen und schoß in die Tiefe.

Als aber der Vater kam und sah, was sein Sohn getan hatte, wurde er furchtbar zornig und stieß ihn von sich: »Geh zum Kuckuck, mein Leben lang will ich dich nicht mehr sehen.«

Da ging der Fischerssohn von dannen. Auf einmal sah er einen ganz erschöpften Hirsch auf sich zulaufen und hinter ihm kamen die Jäger mit ihren Hunden. Dem Jungen tat[1] der Hirsch herzlich leid, er sprang auf ihn zu, faßte ihn am Geweih und rief den Jägern zu, sie sollten sich doch schämen, so ein Tier zu jagen, das sei ja sein zahmer Hirsch. Die Jäger glaubten ihm und ließen davon ab. Als sie hübsch weit weg waren, ließ der Junge das Tier los. Der Hirsch aber riß sich ein Haar aus, gab es dem Jungen und sprach:

»Weil du so gut zu mir warst, geb' ich dir dieses Haar; wenn du einmal nicht weißt, wo hinaus, nimm es aus der Tasche, rufe mich beim Namen, dann komm ich und helfe dir.«

Der Junge nahm das Haar, steckte es in die Tasche und ging seines Weges weiter.

War er weit gegangen, war er's nicht, wer weiß? Auf einmal sah er einen erschöpften Kranich, den ein Adler verfolgte und fast schon erreicht hatte. Dem Jungen tat der? Kranich leid, er faßte seinen Stock und warf ihn nach dem Adler. Der erschrak und ließ vom Kranich ab. Als dieser wieder zu sich kam, riß er sich eine Feder aus, gab sie dem Jungen und sagte:

»Weil du so gut zu mir warst, geb' ich dir diese Feder; wenn du einmal nicht weißt, wo hinaus, komm aufs Feld, nimm die Feder aus der Tasche, rufe mich beim Namen, dann komm ich und helfe dir.«

Der Junge steckte die Feder in die Tasche und ging seines Wegs.

Da sah er, wie Windhunde einen Fuchs vor sich herjagten und immer naher an ihn heran kamen. Dem Jungen tat der Fuchs leid, und er versteckte ihn unter seinen Rockschößen. Als die Windhunde weg waren, ließ er den Fuchs laufen. Dieser aber zog sich ein Haar aus, gab es ihm und sagte:

»Weil du so gut zu mir warst, geb ich dir dieses Haar; wenn du einmal nicht weißt, wo hinaus, nimm es aus der Tasche, rufe mich beim Namen, gleich komm ich und helfe dir.«[2]

Der Junge steckte das Haar in die Tasche und ging seines Wegs.

War er weit gegangen, war er's nicht, wer weiß? Aber bald kam er an ein Schloß, darin wohnte ein wunderschönes Mädchen. Die wollte nur den heiraten, der sich so verstecken könnte, daß sie ihn nirgends finden würde. Der Fischerssohn aber wollte um sie anhalten. Er ging ins Schloß und verlangte das Mädchen zu sehen.

»Warum bist du gekommen?« frug sie ihn.

»Heiraten möcht' ich dich«, antwortete der Junge.

»Ja, wenn du dich an einem solchen Ort verstecken kannst, daß ich dich nicht zu finden imstande bin, werde ich deine Frau, wenn aber nicht, so kommst du unfehlbar an den Galgen«, sagte das Mädchen.

Der Junge war's zufrieden und erbat sich nur die Erlaubnis, sich viermal verstecken zu dürfen. Das wurde ihm auch zugestanden.

Hinaus ging er aus dem Schloß, lief ans Wasser, holte seine Fischgräte heraus und rief den roten Fisch. Gleich war der auch da, grüßte und frug: »Was ist denn los, mein lieber Freund!«

»So und so steht meine Sache, und an einem solchen Ort muß ich mich verstecken, daß mich nicht einmal der Teufel finden kann.«

Der Fisch nahm den Jungen auf seinen Rücken und tauchte mit ihm bis auf den Grund des Meeres, setzte ihn dort in eine Höhlung und schwebte gerade über ihm, um ihn zu verbergen. Das Mädchen aber schaute in ihren Spiegel, schaute lange und suchte überall, bis sie ihn endlich auf dem Grunde des Meeres erblickte. Schön verwundert war sie, als sie ihn entdeckt hatte.

»Was muß das für ein Teufelskerl sein!« sagte sie zu sich selbst.

Am nächsten Tage aber kam der Junge ganz stolz ins Schloß.

»Oh, du, das war ganz umsonst, ich hab' dich ganz gut[3] gesehen, wie du unten am Meeresgrunde saßt und der rote Fisch dich zu verstecken suchte,« sagte sie zu ihm.

»Hilf Himmel,« dachte sich der Junge, »was ist das für eine Hexenmeisterin!« verließ das Schloß und suchte einen Ort, wo er sich verstecken könne. Er lief auf eine Wiese, holte das Hirschhaar hervor und rief den Hirsch herbei. Der kam auch im Nu, grüßte und frug: »Was ist denn los, mein Herzensfreund?«

»So und so steht meine Sache, und an einem solchen Orte muß ich mich verstecken, daß mich nicht einmal der Teufel finden kann.«

Der Hirsch nahm ihn auf seinen Rücken und lief davon wie der Wind; hinter dem neunten Berge hielt er an, versteckte den Jungen in einer Höhlung und stellte sich selbst noch darüber. Das Mädchen aber schaute wieder in ihren Spiegel, suchte und suchte und fand ihn endlich mit Mühe und Not. Am folgenden Tag kam der Junge keck zu ihr.

»Oh, das war wieder ganz umsonst, ich habe dich ganz gut gesehen, hinter dem neunten Berg warst du in einer Höhlung und der Hirsch stand noch über dir«, sagte sie. Der Junge aber wunderte sich noch mehr und bekam Angst.

Er verließ wieder das Schloß und suchte ein drittes Versteck. Auf einer Wiese holte er seine Feder hervor und rief den Kranich. Gleich kam dieser angeflogen, grüßte und frug: »Was ist denn los, mein guter Freund?«

»So und so steht meine Sache, an so einem Orte muß ich mich verstecken, daß mich nicht einmal der Teufel finden kann.«

Der Kranich nahm ihn auf den Rücken und flog zum Himmel empor, wo er ihn verbarg und unter ihm schwebte er selbst. Das Mädchen nahm ihren Spiegel vor und suchte, suchte in allen Himmelsrichtungen und konnte ihn nicht finden. Schließlich schaute sie in die Höhe und sah den Jungen, wie er am Himmel stak. Sie wunderte sich baß: »Was das für ein Hexenmeister ist, mein Gott!« Als aber der Junge am nächsten Tage zu ihr kam, sagte sie[4] »Oh, das war wieder ganz umsonst, ich habe dich ganz gut gesehen, am Himmel stakst du und unter dir schwebte der Kranich.«

Noch mehr wunderte sich der Junge und noch mehr erschrak er. »Weh mir, wenn sie mich beim vierten Male auch findet, dann bin ich verloren.« Und verließ das Schloß, um sich nochmals zu verstecken.

Auf eine Wiese ging er wieder, holte das Fuchshaar hervor und rief den Fuchs. Gleich kam der auch angesprungen, grüßte und frug: »Was ist denn los, mein gütiger Freund?«

»So und so steht meine Sache, an einem solchen Orte muß ich mich verstecken, daß dies scharfäugige Mädchen mich nicht findet, sonst muß ich unbedingt an den Galgen.«

»Hab' keine Angst,« sagte der Fachs, »gehe nur hin zu ihr und verlange zwei Wochen Frist, dann verstecke ich dich an so einem Orte, daß sie über dem Suchen sterben kann, aber finden wird sie dich nicht.«

Der Junge tat, was ihm der Fuchs geraten hatte. Dieser grub die Erde unter dem Berge aus, auf dem des Mädchens Schloß stand und führte den Gang gerade unter den Diwan hin, auf dem sie saß. Dort verbarg er den Jungen.

Das Mädchen nahm ihren Spiegel und fing zu suchen an: bald schaute sie nach Osten, bald suchte sie im Westen, bald im Süden, bald im Norden, dann suchte sie den Himmel ab und das Meer, aber umsonst: nirgends fand sie ihn.

»Wo bist du denn, du Hexenmeister?« rief sie endlich.

»Komm doch, nirgends hab' ich dich gefunden!«

Unter dem Diwan aber kam des Jungen Stimme hervor und gleich darauf sprang er selber heraus.

So blieb er Sieger in dem Kampfe mit dem Mädchen. Am nächsten Tag aber machten sie Hochzeit, eine so feine Hochzeit, daß es sogar Vogelmilch die Menge gab.

3

Der kaukasische zweirädrige Karren.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 1-5.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Mickiewicz, Adam

Pan Tadeusz oder Die letzte Fehde in Litauen

Pan Tadeusz oder Die letzte Fehde in Litauen

Pan Tadeusz erzählt die Geschichte des Dorfes Soplicowo im 1811 zwischen Russland, Preußen und Österreich geteilten Polen. Im Streit um ein Schloß verfeinden sich zwei Adelsgeschlechter und Pan Tadeusz verliebt sich in Zosia. Das Nationalepos von Pan Tadeusz ist Pflichtlektüre in Polens Schulen und gilt nach der Bibel noch heute als meistgelesenes Buch.

266 Seiten, 14.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon