4. Leili Meğlum.1
4. Leili Meglum

4. Leili Meglum

[328] Ach, warum waltet die Welt so tief über mich! Es lebten zwei Liebende zur selben Zeit, die eine (hiess) Leili, der andere der gefährliche Meğlum. Sie sprach: ›Sohn, was traf dich für ein Unheil?‹ »Mutter, als ich den Kopf hinlegte und aufhob, sah ich im Traum die Schöne des Paradieses.« Meğlums Mutter sprach: ›Du mein Sohn, quäle dich nicht mit Kummer und Schmerz! Wenn das gute Licht morgens mich bescheint, decke ich den Kopf mit einem weissen Tuche, gehe nach dem Markt Ğezir und erkundige mich.‹

Als das gute Licht morgens sie beschien, deckte Meğlums Mutter den Kopf mit einem weissen Tuche, ging nach dem Markt Ğezir, erkundigte sich dort. Ich sah meine Leili, sich in den Hüften wiegend, von oben kommen, den Schlauch mit Matsun2 auf dem Rücken tragend; sie kam nach Ğezir, um sich zu erfreuen. ›Meğlums Mutter, guten Tag!‹ »Guten Tag, der Geliebte von Leilis Herzen sei auf meinen Augen!3« ›O Meğlums Mutter, wilde Frühlingsblume, wenn Meğlum liebt, ist er der Geliebte von Leilis Herzen. O Meğlums Mutter, Herbstblume, die auf dem Baume blüht, wenn Meğlum liebt, liebt ihn Leili zehnmal mehr.‹

Meğlums Mutter kehrte heim und erzählte dem Sohn, was sie gesehen: ›Sohn, die du meinst, ist schwarz wie Pech, die Fersen beider Füsse (Schuhe) sind abgenutzt.‹ »Mutter, gottlose Alte, ich rufe Gott an, und deine beiden Augen springen aus der Stirn heraus. Die Geliebte deines Sohnes hast du gut erkannt ... Mutter, lass die Milch deiner Brüste mir gut bekommen!4 Ich nehme mein Tamburin (Schellentrommel) und gehe zur Quelle Sinğan, die sehr weit ist.« ›Sohn, ich lasse die Milch meiner Brüste dir gut bekommen. Nimm dein verfluchtes Tamburin und geh zur Quelle Sinğan, die sehr weit ist!‹

Meğlum nahm sein Tamburin und ging zur Quelle Suğan. Ich sah meine Leili, sich in den Hüften wiegend, von oben kommen; mit dem Wasserschlauch auf dem Rücken kam sie zur Quelle Sinğan, um sich zu erfreuen. ›Meğlum, guten Tag!‹ »Guten Tag! Sei auf meinen Augen, Leili, du Geliebte meines Herzens!« Sieben Tage, sieben Nächte standen sie dort, sie dachten, sie stünden erst einen Augenblick dort. Leili sprach: ›Meğlum, gieb mir Erlaubnis, dass ich ein wenig Wasser dem Gaste des Vaters bringe, morgen früh wieder zu dir komme! Lass Jesus, Moses, alle Anbetungsorte der Welt Leili richten, morgen früh zu dieser Zeit bin ich hier. Mit Gott!‹[329]

Leili schöpfte Wasser, brachte es dem Gaste ihres Vaters. Leili ging hin, und was sah sie? Des Vaters Zelte haben sie (auf Tiere) geladen und ziehen davon. Leili holte des Vaters Zelt ein. Willkommen sei mir der Herbstmonat, willkommen sei mir der Wintermonat! Leilis Zelt aufgeladen, führten sie vom Bergtal5 nach Süden.

Verging der Winter, es kam der Frühling. Sei mir willkommen, April! Leilis Zelt, aufgeladen, trieben sie nach dem Tal. Da sah Leili einen Vogel am Himmel schweben: ›Vogel, unreiner Vogel, wende dich, steig herab! Ich will dich fragen, Bestimmtes fragen, ob du auf dem Wege zur Quelle Sinğan in Derkula einen getroffen, ob du einen Menschenleichnam da gesehen hast.‹ Unreiner Vogel stieg von der Höhe herab: »Du törichter und besessener Mensch, ich sah einen Leichnam, ich frass das Fleisch, häufte die Knochen auf, baute mein Nest darin, liess meine Jungen fliegen.« ›Tochter, besessenes Mädel, was hast du den unreinen Vogel gefragt und die Sorge der Welt auf dich und deine Mutter geladen?‹ »Mutter, lass uns Meğlum besuchen und sehn, wie es steht!«

Leili und die Mutter begaben sich zu Meğlum: »Gegrüsst seien deine aufgehäuften Gebeine!« Sie trugen die Knochen zusammen, legten einen auf den anderen, befestigten Gelenk an Gelenk und wandten sich mit Gebet an Gott. Gott liess Vernunft und Seele in ihn zurückkehren. Drei Tage, drei Nächte standen sie da, sie dachten, sie stünden erst einen Augenblick da. Gott machte sie beide zu Sternen, setzte sie an den Himmel, Leili nach Süden, nach Norden Meğlum.

1

Eminsche ethnographische Sammlung 5, 71–75 (Moskau 1904). Der Rezitator des Liedes ist derselbe Zatik, der mir eine sehr umfangreiche armenische Heldensage erzählte (oben 12, 140). Dem kurdischen Originale ist eine (nicht ganz getreue) armenische Übersetzung beigefügt, was mir die Übersetzung bedeutend erleichterte. – [Die Geschichte des unglücklichen Liebespaares Medjnun und Leila ist, wie Herr Professor Dr. V. Chauvin brieflich bemerkt, arabischen Ursprungs (Brockelmann, Gesch. der arab. Lit. 1, 48. 2, 690, Hammer, Literaturgesch. der Araber 2, 350, Flügel, Haji Khalfa 5, 346), hat aber besonders bei andern mohammedanischen Völkern Bearbeitungen erfahren: in Persien durch Nizâmî (Übersetzung von Atkinson, Lond. 1836. 1894), Dschâmî (französ. von Chézy 1805, deutsch von Hartmann 1808) und fünf andre Dichter (Hammer, Gesch. der schönen Redekünste Persiens S. 111. 172. 230. 241. 334. 356. 369); in der Türkei etwa zehnmal (Hämmer, Gesch. der osman. Dichtkunst 1, 151. 156. 213. 220. 231. 250; 2, 279. 294. 327. 398; 3, 173; 4, 70. 586) in der hindostanischen Literatur siebenmal (Garcin de Tassy, Hist. de la litt. hindouie 1, 267. 359. 592; 2, 176. 458; 3, 205. 207. 294. 301). Es gibt auch eine bengalische (Zenker, Bibl. orientalis 2, 317) und eine armenische Fassung (Ethnographische Übersicht 9, 270. Tiflis 1902).]

2

Saure Milch. Im Orient wird die Milch zuerst gekocht und dann in dem zugedeckten Topfe aufbewahrt, bis sie sauer wird.

3

Augen und Kopf werden von den orientalischen Völkern als die heiligsten Körperteile betrachtet; unter den zahlreichen Schmeichelausdrücken sind die lakonischen Sätze: ›Auf meinen Augen‹ oder ›Auf meinem Kopf‹ (sei du, dein Wort oder Befehl) die üblichsten. Bei der Begrüssung berührt man, sich bückend, den Erdboden mit der Hand und legt diese dann auf die Stirn; d.h. ›Die Erde deiner Füsse sei auf meinem Kopf‹ (ich bin dein Sklave).

4

Im Originale ›halal‹ (gesetzlich) sein, im Gegensatz zu ›haram‹ (gesetzwidrig).

5

Weideplatz auf den Gebirgen, wo sich die Kurden im Sommer niederlassen. Den Winter verbringen sie in der Ebene.

Quelle:
Chalatianz, Bagrat: Kurdische Sagen. In: Zeitschrift für Volkskunde 15-17 (1905-1907), S. 328-330.
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