In einer Nacht schlief Mamē aus dem Hause Alpascha in seinem, und die ›Schöne der Welt‹ Zin in ihrem Schlafgemach. Da stiegen drei Taubenschwestern vom Himmel herab, setzten sich auf dem Fenster der Prinzessin von Ğesirē und Bohtan2 und berieten sich über die Art, Mamē und Zin glücklich zu vereinigen. Sie wandten sich im Gebet an Gott; Gott liess ein Taubenfell (!) vom Himmel herabfallen; dies zog die Schöne an und flog mit den drei Tauben hinweg, bis sie an Mamēs Fenster kamen.3 Mamē erwachte, sah die Jungfrau neben sich auf dem Lager, und von ihrer Schönheit bezaubert rührte er sich drei Tage und drei Nächte nicht. Die Tauben flogen mit Zin nach Hause zurück und erschienen in der vierten Nacht wieder; erst jetzt tauschten beide Liebende[35] ihre Ringe und fragten einander nach ihren Namen. Die Zeit der Trennung nahte; Zin band eine ›Schlafkoralle‹ an Mamēs Ohr, und als er einschlief, flog sie mit ihren Begleiterinnen heim.
Ein unbegreifliches Leiden ergriff seitdem Mamē, dessen Krankheit kein Weiser am Hofe seines Vaters zu enträtseln vermochte. Endlich gelang es von ihm zu erfahren, sein Herz gehöre der schönen Prinzessin von Ğesirē und Bohtān, der Tochter des Mir Sevtin. Niemand, ausser einem greisen Manne, wusste, wo dieses Land sich befinde. Mamē entschloss sich, nach der Schönen zu forschen, verabschiedete sich von seinen Eltern, bestieg sein treues Ross Bor und schlug den Weg nach Ğesirē ein. Unterwegs warf ihm das Ross vor, er habe bei dem tollen, Tag und Nacht dauernden Ritte vergessen, seine Vorderfüsse von den Fesseln zu befreien, daher blute es und könne nicht weiter laufen. Mamē war in Verzweiflung; da kamen die drei Tauben geflogen, setzten sich auf den Baum, unter dem der Held sass, und rieten ihm, die Feder, die sie ihm hinterlassen, in die naheliegende ›süsse‹ Quelle zu tauchen und damit die verwundeten Füsse des Rosses zu bestreichen. In wenigen Stunden war Bor geheilt und verhiess seinem Herrn, ihn in 40 Tagen nach Ğesirē zu bringen.
Am 41. Tage gelangte er in das gesuchte Land. Vor der Stadt ›Ğesirē und Bohtān‹ erblickte er bei einer Quelle ein Mädchen, das ihn sofort begrüsste, sie heisse Zin und erwarte ihn hier schon 40 Tage. Auf die Frage des Helden nach dem Ringe, den er ihr gegeben, antwortete das Mädchen, sie habe ihn kurz vor seiner Ankunft verloren. ›Wenn dies die schöne Zin ist, die ich gesehen, so war meine Mühe umsonst‹, dachte Mamē und wollte schon umkehren. Das treue Ross aber hielt ihn zurück und sagte, das Mädchen sei die böse Hexe Zin, die Tochter des Bagò, welche den Menschen auf der Strasse auflauere und ihr Glück vereitele. Bor brachte darauf seinen Herrn in die Stadt und hielt vor dem Hause des Ĝara Thajtin, der samt seinen zwei Brüdern, Tschagan und Afan, den Rat Mirs (des Königs) bildete. Die Brüder, bezaubert von der Schönheit des jungen Mannes, erschienen drei Tage lang nicht am Hofe des Königs; als dieser nun einen Boten zu Ĝara Thajtin schickte, um ihn mit seinem Gaste zu sich zu rufen, versetzte dessen Frau Gül Pheri (Mirs Schwester) dem Boten einen Hieb auf den Kopf und verwundete ihn mit den Worten: »Mir soll den Weg von seinem Hofe bis zu meinem Hause mit teuren Teppichen schmücken und sieben Adlige voraussenden, um den vornehmen Gast zu holen.« Entzückt von Mamēs Anblick, unterhielt sich Mir drei Tage, drei Nächte mit ihm, und erst der Vorwurf seiner Schwester, er lasse den Gast schon drei Tage hungern, erinnerte ihn an die Tafel. Mamē blieb bei Thajtin in seinem Sommerpalast Schahnaschin wohnen.
Einst machte die Prinzessin Zin mit ihren Dienerinnen und einer Karawane einen Ausflug zu einer Quelle ausserhalb der Stadt. Mamē sah sie vom Palast aus und wurde ohnmächtig; er beschloss, der Schönen[36] entgegenzufahren und von ihr ›Tribut und Pfand‹ zu verlangen.4 Vergebens warnte ihn Thajtin, dies sei die Königstochter und die Braut seines Bruders Tschagan; er wettete, dass er nicht mit leeren Händen zurückkehren werde, bestieg den Bor, ritt zu der Quelle und bat die Prinzessin um ihren Talisman als Zeichen ihrer Liebe. Zin reichte ihm einen Becher Wasser und warf den goldenen Talisman, den sie an einer Kette um den Hals trug5, hinein. Mamē trank das Wasser aus und kehrte mit dem ›Tribute‹ zurück.
Um seine Geliebte öfter zu sehen, um deren Hand er nicht zu werben wagte, bat Mamē den Mir, als Hofkoch bei ihm bleiben zu dürfen; allein die Liebesstunden liessen ihn stets seine Pflichten vergessen, weshalb er dies Amt bald aufgab und wieder bei Thajtin wohnte. Auf einem Turnier6 zeichnete er sich aus und gewann des Königs besondere Aufmerksamkeit, trotz aller Verleumdungen des neidischen Bagò. Einst veranstaltete Mir eine Jagd; auf Zins Wunsch entschuldigte sich Mamē mit Unwohlsein bei Mir, um Zwiesprache mit ihr zu halten, und die Liebenden begaben sich in den Surkerigarten. Da es stark regnete, wollte Mir heimkehren; allein Bagò, der von dem Stelldichein Mamēs und Zins wusste, schlug ihm vor, im Schloss des Surkerigartens einzukehren und sich dort zu wärmen. Der voraufgeschickte Diener fand im Zimmer das schlafende Liebespaar; aus Mitgefühl weckte er es nicht. Mamē aber wurde von dem Prasseln des Feuers im Ofen wach, und wie er vom Diener die herannahende Gefahr erfuhr, barg er Zin hastig unter seinem weiten Mantel und konnte kaum aufstehen und Mir begrüssen, als dieser mit seinem Gefolge das Zimmer betrat. Wie er sein Fernbleiben von der Jagd damit entschuldigte, dass er am ganzen Körper krank sei, erklärte der ›Ohrenbläser‹ Bagò sofort dem Mir, Mamē leide an der Liebe zu einem gewöhnlichen Frauenzimmer mit schwarzem Antlitze gleich einer Negerin. Empört über diese Verleumdung, erwiderte Mamē, er liebe die schönste unter den Tauben; ihr Name sei Zin, ihr Vater heisse Mir Sevtin und der Bruder Mir Thajtin. Mir geriet in Zorn und befahl den Dienern, Mamē augenblicklich niederzustechen; allein Thajtin trat mit seinen Brüdern hervor und drohte jedem[37] den Tod, der ihren Gast zu berühren wage.7 Um diesen aus der Gefahr zu retten, sandte Thajtin eilends einen Boten heim zu seiner Frau, sie solle ›die Wiege, das Ross Bor und das heilige Buch‹ aus dem Palast Schahnaschin fortbringen lassen und diesen in Brand stecken. Die Nachricht von diesem Unglück erschreckte Mir so, dass er sofort zu der Brandstätte ritt.
Seitdem herrschte tiefer Groll zwischen Mir und Thajtin um Mamēs willen. Einst drang der Feind ins Land ein; Mir ging selbst zu Thajtin und flehte ihn um seine Hilfe, er solle das Heer führen. Dieser willigte ein und übergab ihm seinen Gast mit den Worten: »Du sollst für ihn gut sorgen, bis ich zurückkehre, und ihn mir übergeben, wie ich ihn dir übergab.« Dann zog er mit seinen Brüdern in den Krieg.
Bagò benutzte die Gelegenheit, um Mamē wieder bei Mir zu verleumden; er riet ihm schliesslich, sich des Wortes zu entbinden, indem er mit Mamē Würfel spiele; gewinne dieser, so solle er die Hand der Zin erhalten; andernfalls solle Mamē ins Gefängnis geworfen werden. Zweimal gewann Mamē; beim dritten Male aber, als Zin, durch den böswilligen Bagò von dem Glücke ihres Geliebten unterrichtet, an ihr Fenster trat, konnte er nicht mehr spielen und verlor die Partie. Mir liess ihn in ein dunkles Gefängnis werfen. Allein Zin verlor nicht den Mut; insgeheim liess sie einen unterirdischen Gang von ihrem Gemach zu Mamēs Kammer graben. Als Bagò durch die Zauberkunst seiner Tochter davon erfuhr, meldete er es dem Mir. Dieser ertappte den Geliebten seiner Tochter in ihrem Schlafgemach und liess Mamē in eine tiefe Grube werfen.
Als nach drei Jahren Thajtin siegreich zurückkehrte, bat Mir den Bagò um Rat, was er nun dem Thajtin für einen Bescheid geben solle. Bagò eilte zu Zin und teilte ihr in Mirs Namen mit, sie könne Mamē aus der Grube herausziehen und sich mit ihm vermählen. Zin begab sich mit vierzig Dienerinnen zu der Grube und liess den Geliebten herausziehen; aber kaum erblickte Mamē die schöne Zin, so fiel er tot zur Erde. Um sich mit ihm zu vereinigen, nahm Zin sich das Leben.
Thajtins Rache fürchtend, verbarg sich Mir mit Bagò in Weiberkleidung in einer Festung. Thajtin mit seinen Brüdern belagerte und nahm diese ein. Mirs Würdenträger baten den Thajtin um Schonung für ihren Herrn. Er hörte auf ihre Bitten und liess Mamē und Zin den Rücken einander zugekehrt zusammen begraben. Nach acht Tagen sagte er: »Lasst uns gehen und sehen, ob die Liebenden ihre Gesichter oder ihre Rücken gegeneinander gewandt haben!« Bagò kam ihm zuvor, öffnete nachts das Grab und fand das Paar in einer Umarmung liegen.[38] Er meldete dies Thajtin, der hineilte; als nun Bagò sich zum Grabe neigte, versetzte ihm Thajtin einen Schwerthieb und trennte ihm den Kopf vom Rumpfe8; ein Tropfen seines Blutes fiel zwischen die Liebenden, aus dem ein Unkraut hervorwuchs. Die beiden Seelen wurden zu zwei wundervollen Rosenstauden9; als diese zusammenwachsen wollten, da ragte das Unkraut dazwischen hervor und trennte sie voneinander. Dies wiederholt sich jedes Jahr.10
1 | Eminsche Ethnogr. Sammlung 5, 227–264 (Moskau 1904). Der Erzähler ist ein Jeside namens Mho. Leider fehlt das kurdische Original dieser schönen Dichtung. Die andere Fassung ›Mam und Zin‹ (in Prosa, stellenweise Verse) ebd. 5, 201–227 deckt sich mit der vorliegenden Sage vollkommen. |
2 | Nord- und Westmesopotamien. |
3 | [Zu dieser Vereinigung eines fern voneinander wohnenden Paares durch überirdische Wesen vgl. oben 15, 3252.] |
4 | Nach kurdischer Auffassung zeigt sich die Tapferkeit eines Mannes bei der Begegnung mit einer Karawane dadurch, dass er ›Tribut‹ für das Weiterziehen zu erlangen sucht. |
5 | Man trägt im abergläubischen Orient lebenslang einen ›Glückstalisman‹, bestehend aus einer Silber- oder Goldmünze, einem Stein, Siegel oder einem Stückchen Papier mit einem Gebet, der den Träger oder die Trägerin vor dem ›bösen Blick‹, vor Krankheit, Seuche und bösen Geistern beschützen soll. Oft werden auch wertvollen Tieren solche Talismane umgehängt. |
6 | Turniere (Ğerind) werden noch heute im Orient veranstaltet. Die mit Streitkolben bewaffneten Gegner suchen im rasenden Ritte einander durch mächtige Schläge vom Pferde zu werfen. Der gewandte Reiter biegt sich zur Seite, um dem Schlage zu entgehen. |
7 | Der Gast gilt im Orient als heilige Person. Sucht er Zuflucht auch bei seinem unversöhnlichen Feinde, so ist er sicher, dessen Schutz und Gastfreundschaft zu gemessen, solange er sich bei ihm aufhält. |
8 | Hier spiegelt sich die uralte Vorstellung der orientalischen Völker wieder, nach der der Verwandte des Getöteten, um sein Blut zu versöhnen, den Mörder auf seinem Leichnam töten muss. So schleppt Gev den Qevschil vom Throne des Königs Alvasya hinweg und tötet ihn auf dem Leichnam seines vom Qevschil verräterisch umgebrachten Bruders. Oben 14, 292. |
9 | [Vgl. zu diesem verbreiteten Zuge Koberstein, Aufsätze zur Literaturgeschichte 1858 S. 31–62. R. Köhler, Kleinere Schriften 3, 274–279. Doncieux, Romancéro pop. français p. 36–40.] |
10 | Vgl. ›Mam und Sin‹ bei A. Socin, Kurdische Sammlungen 2, 100 117, wo sich besonders folgende Abweichungen finden: a) statt der Tauben erscheinen hier drei Engel; b) die Frau von Qarataschdin Sinē ist eine Schwester des Mir; c) Mamē ist ein Sohn des Herrschers von Jemen (S. 107); d) Mamē wird von dem Mir als ihm ebenbürtig erkannt und soll seinen Sitzplatz ihm gegenüber nehmen (S. 110); e) die dramatische Szene spielt in Mirs Empfangszimmer, indem Mamē dem Qarataschdin heimlich zwei Locken der unter seinem Mantel verborgenen Sinē zeigt; f) danach begibt sich Qarataschdin traurig nach Hause, lässt das heilige Buch und Wiege hinausbringen und steckt den Palast in Brand; g) Qarataschdin hat drei Brüder; h) Mir erfährt erst beim Schachspiele durch Bagò den Namen der Geliebten Mamēs, der durch Qarataschdin vom Tode gerettet wird; i) Qarataschdin mit seinen Brüdern bringt Geld zu der Kaaba und kehrt erst nach sieben Jahren zurück, während deren Mamē in dem Gefängnis gehalten wird; k) der Bitte der Sinē nachgebend, begibt sich Mir Sevdin zu dem Grabe des Mamē und begrüsst ihn laut; Mamē erwidert den Gruss und fügt hinzu, in acht Tagen würden Mamē und Sinē beide ins Paradies gelangen (S. 116). – Ein von Jaba eingesandter Auszug des Gedichtes ›Mamuzin‹ ist von Lerch im Bulletin de la classe des sciences historiques de l'Académie impériale des sciences de Saint-Pétersbourg 15 (1858), 11 veröffentlicht. |
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