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[43] Der Herrscher Arabiens, Kes, besass eine wunderbare Stute namens Alexander Beğan (sic!), deren Ruhm in der ganzen Welt verbreitet war. Einst sah der Hofhirt Slivi auf dem Weideplatz ein Feuerross aus dem Meer emporsteigen, welches der Beğan beiwohnte; diese wurde trächtig. Im nächsten Jahre verlangte Slivi vom Könige statt seines Lohnes das von Began geworfene Füllen, das er aufzog und Soseq nannte. Die Liebe zum Reiten trieb ihn, seinen Dienst aufzugeben und sich aufs Räuberhandwerk zu legen. Die schöne Vorteq, die Schwester der sieben tapferen Söhne Tutēs, bezauberte sein Herz, und er warb um ihre Hand; allein die Brüder verlangten dafür den Soseq; da Slivi sich nicht von seinem Liebling trennen mochte, entführte er das Mädchen und brachte es nach Wan, wo er dank seiner Reitkunst gute Aufnahme bei dem Stammhäuptling (El-Aĝasi) Amari Mli fand. Vorteq gebar ihm zwei Söhne, Qülleq und Kiarò. Die quälende Sehnsucht nach der Heimat, die er aus Furcht vor den grausamen Söhnen Tutēs nicht mehr zu besuchen wagte, brachte Slivi bald dem Grabe nahe; vor seinem Tode rief er seine Söhne ans Bett und liess sie schwören, Rache an ihren Oheimen zu nehmen.2
Um eine Gelegenheit dazu zu gewinnen, begannen die beiden Brüder nach dem Tode des Vaters die wunderbaren Eigenschaften der Beğan zu preisen, bis Amari Mli hohen Lohn und seine Tochter demjenigen versprach, der ihm das berühmte Ross bringe; allein kein Recke hatte den Mut, das Land des Königs von Arabien zu betreten. Da erbot sich Qülleq, diese schwierige Aufgabe zu lösen; ihm schlössen sich sein Bruder Kiarò und zwei kühne Armenier an. Ungern entliess die Mutter ihre Söhne und gab ihnen den Rat, wenn sie an einen bestimmten Teich kämen, Soseq nicht das schmutzige Wasser trinken zu lassen, da das Ross sonst erkranken würde. Doch infolge Nachlässigkeit der Brüder trank der müde und durstige Soseq bei nächtlicher Weile das schmutzige Wasser, und sofort begann sein Bauch zu schwellen. Langsam bewegte sich die kleine Reiterschar vorwärts, bis sie auf einer Anhöhe Halt machte; von[44] hier aus gewahrten sie in der Ebene auf beiden Seiten eines Flusses die unzähligen schwarzen Zelte des Araberheeres und in ihrer Mitte das weisse Zelt Mirs. Hier trennte sich Qülleq von seinen Genossen, stieg hinab und schlich sich unbemerkt bei Nacht in das Zelt des Königs; Mir schlief, den Kopf auf den Arm seiner Frau gelehnt; Qülleq hielt es für unwürdig, den schlafenden Feind zu töten, band die Halskette der Königin ab und entfernte sich mit ihr ins Dickicht. Als am nächsten Tage Mir Lärm schlagen und sein Heer sammeln liess, um die Räuber zu fangen, sah Qülleq eine Kurdin ein schönes Ross zur Tränke führen und erkannte an den von der Mutter beschriebenen Merkmalen die Stute Beğan; er entriss sie dem Mädchen, stieg auf und ritt davon; als das Mädchen schrie, ihn werde für diesen Diebstahl furchtbare Strafe von Mir treffen, rief er, er wolle Beğan nicht in verräterischer Weise entführen, sondern den Kampf mit Mirs Leuten aufnehmen, um sich Ruhm zu erwerben. Beim Zusammentreffen mit den Feinden forderten die beiden Brüder die sieben Söhne Tutēs zum Zweikampf heraus; trotz Kiaròs Warnung, Qülleq solle auf die Stute Beğan steigen, da Soseq noch krank sei, gehorchte ihm dieser nicht, weil der Feind sonst sagen würde, er verdanke den Sieg allein der Beğan. Im entscheidenden Augenblicke aber blieb Soseq wie festgenagelt auf dem Kampfplatze stehen; die Söhne Tutēs versetzten dein Qülleq je einen Schlag, und er fiel tödlich verwundet zu Boden. Kiarò erschlug darauf sechs seiner Oheime, dem siebenten aber schenkte er der Mutter wegen das Leben, und mit Hilfe der beiden Armenier trieb er die Araber in die Flucht. Qülleq bat den Kiarò, Soseq zu ihm zu führen da er vor dem Tode von ihm Abschied nehmen wolle; mit einem Schwertstreiche hieb er dem Rosse zwei Füsse ab, damit es nicht in die Hände des Feindes falle, weil es ja nicht laufen könne. Kiarò setzte den Leichnam des Bruders auf ein Kamel, so dass er von ferne wie ein Lebender erschien, und kehrte mit seinen Begleitern und Beğan heim. Vorteq kam der Karawane entgegen, und als sie die schaukelnde Leiche Qülleqs sah, fiel sie auf die Knie und sang die Totenklage. Amari Mli aber gab seine Tochter Rehan dem Kiarò zur Frau.
1 | Eminsche Ethnogr. Sammlung 5, 131–147: aus dem kurdischen Originale frei in Prosa übertragen; dazu Notenbeilage S. 6. Eine armenische Fassung, die S. 147–167 wiedergegeben ist, deckt sich im wesentlichen mit der ersten. |
2 | Nach kurdischer Auffassung ist es für einen Mann schmachvoll, im Bett zu sterben, ohne dass er sich an seinem Feind gerächt hätte. |