|
[41] Das Herz des Hamutē Schankē ward kühl gegen seine Verwandten. Frühmorgens lud er sein Zelt (auf die Tiere) und schlug es gegenüber einem nicht Freunde, bei Gott, auf. Eines Morgens gelangte zu mir eine unglückliche Kunde; man sagte, es werde des Hamutē Schankē Hab und Gut2 herrenlos, besitzerlos entführt. ›Mutter, kümmere dich nicht darum, hab keine Sorge! Keiner, der die Stimme deines Sohnes hörte, wird je dein Hab und Gut überfallen.‹ Frühmorgens nahm die Mutter Hamutē Schankēs ihre Spindel, stieg auf das Hausdach3 und spann dort. Da schaute sie hin und gewahrte Hamutē Schankēs Hirten von der Höhe des Gebirges um Hilfe rufen. Sie schrie ihm zu: »Hirt, o du Hirt, Hundesohn, beeile dich nicht, sage einmal, was ist das für ein Hilfegeschrei?«
Der Hirt kam näher zur Mutter Hamutē Schankēs; sie sprach: »Was ist geschehen?« Er sprach: ›Schon seit drei Tagen und drei Nächten wird Hamutē Schankēs Hab und Gut herrenlos, besitzerlos entführt.‹ Hamutē Schankēs Frau sprach: ›Mutter, lass Hamutē Schankēs Schafe wegführen! Wir machen im Herbst statt Schafe aus Hamutē Schankē uns Braten.‹
[41] Bei diesen Worten erwachte Hamutē Schankē und sprach: »Mutter, beeile dich, führe mein Ross Lailē aus dem Stall, zieh den Bauchgurt fest, bind ihm die Nazarilanze auf die Schultern, mache mein scharfes Schwert aus Mesr bereit, lege mein Panzerhemd auf den Sattel! Ich will (das Pferd) besteigen und sehen, was geschehen ist.« – ›Sohn, jene Habe brauchen wir nicht mehr. Geh doch zu deinem Oheim, bitte ihn um Hilfe und hole einige Schafe statt deinigen!‹ – »Mutter, ich tausche kein Ohr selbst eines aussätzigen Schafes von mir gegen die ganze Schafherde meines Oheims ein.« – Er bestieg Lailē und ritt eine Strecke, aber er hatte das Panzerhemd vergessen. »O Gott, nach Hause zurückzukehren ziemt mir nicht, nicht heimzukehren bringt auch Schaden. Mögen die Augen meiner Mutter blind werden, ich will weiter gehen, wenn ich auch zu tausend Stücken zerhackt werde.«
Er kam zum Weideplatze und fand dort weder Schaf noch sonst etwas; er sagte: »O Gott, seit drei Tagen und drei Nächten führt man Hamutē Schankēs Hab und Gut herrenlos, besitzerlos hinweg.« Hamutē Schankē holte seine Herde um Mittag ein, sah durchs Fernrohr und schrie: »O du Detan Zeta, lachender Mund, mit Hina4 gefärbte Hand, wem gehört diese Habe? Ist sie etwa ohne Herrn, ohne Besitzer, dass du hinwegführst?« Lailē spitzte die Ohren, trat auf den Meidān (Kampfplatz) und erlegte dort hundert Männer. Detan Zeta schrie: »Hamutē Schankē, mein Zelt war hinter dem deinen; ich dachte, dies sei nicht dein Eigentum, vielleicht gehöre es den Zigeunern; darum führte ich es für mich hinweg. Hamutē Schankē, gib uns einige Schafe, als Ehre für diese fünfhundert Männer und führe dein Eigentum freudig heim!« Hamutē Schankē sprach: »Ich schwöre, keines Schafes Blut zu vergiessen.« Lailē spitzte die Ohren, trat auf den Meidān und erlegte dort hundert Männer. Der Räuberhauptmann schrie: ›Ihr Krieger, tretet beiseite! Ich und Hamutē Schankē wollen zum Abendgebet gehen!‹
Als Hamutē Schankē die Ärmel aufstreifte, um die Hände vor dem Gebet zu waschen, sah Detan Zeta, dass er ohne Panzerhemd war; er sprach: ›Wir wollen bis zum Tode uns verbrüdern!‹ Er gab ihm nach dem Gebet eine Galion (Pfeife) in die Hand und bestieg sein Pferd, die Lanze in der Hand haltend. Hamutē Schankē setzte seinen Fuss in den Bügel und ergriff den Zügel Lailēs. Detan Zeta hielt hinter seinem Bücken und stiess ihm seine Lanze zwischen die Schultern; Hamutē Schankē fiel auf die Erde. Lailē hob ihn mit den Zähnen hoch und warf ihn auf den Sattel; aber so oft er ihn auch hinschleuderte, fiel er auf der anderen Seite zu Boden. Detan Zeta schrie: ›Ihr Reiter eilt euch, Lailē zu fangen! Sonst bringt es die Kunde (von dem Geschehenen) nach den südlichen Gegenden; dann[42] kommen Detan Schkesti5 und Hamutē Schankēs Frau und vertilgen unsere Männer!‹
Das Ross Lailē wurde von allen Seiten umringt und hart an eine Eiche gedrängt; doch es bahnte sich den Weg durch das Heer und wandte sich gen Süden. Die Mutter Hamutē Schankēs stieg aufs Hausdach und sah Lailē von ferne blutend kommen; sie meldete es der Frau Hamutē Schankēs; diese zog ihre Kleider um und bestieg Lailē, eilte und brachte der Detan Schkesti die Nachricht, dass Hamutē Schankē getötet sei.
Detan Schkesti und die Frau des Hamutē Schankē bestiegen ihre Pferde. Schon drei Tage, drei Nächte führte man Hamutē Schankēs Hab und Gut herrenlos, besitzerlos hinweg. Um Mittag holten sie die Räuber ein; wie ein Wolf im Sommer in der Schafherde (wütet), so tötete Laile den Feind oder warf ihn haufenweise zu Boden.
Ein Alter ergriff Lailēs Füsse und flehte um Erbarmen; die Frau Hamutē Schankēs sprach: ›Sagt mir die Wahrheit, ob ihr Hamutē Schankē durch Tapferkeit getötet habt! Wenn ihr ihn durch Tapferkeit getötet habt, so verzeihe ich euch sein Blut; wenn aber durch List, so sagt mir es auch!‹ – »Der Teufel möge im Hause Hamutē Schankēs erscheinen, wie könnte man ihn mit Gewalt fangen und töten? Der Teufel möge im Hause Hamutē Schankēs erscheinen, Detan Zeta täuschte ihn, indem er ihn zu dem Abendgebet am Wasser einlud und ihm die Galion in die Hand gab; als er den Zügel Lailēs ergriff und den Fuss in den Bügel setzte, da stiess ihm Detan Zeta seine Lanze zwischen die Schultern. Schade hundertmal um Hamutē Schankē!« – ›Wo ist der Mann, der ihn getötet hat?‹ – »Er versteckte sich unter dem Leichenhaufen.« – Man fand Detan Zeta dort, die Hände mit Hina gefärbt, mit krummem Mund. Hamutē Schankēs Frau stach ihm mit dem Schwert in die Seite, legte ihre Lippen darauf und trank sein Blut. Danach liess sie den Verräter lebendig auf dem Scheiterhaufen verbrennen.6
1 | Eminsche Ethnograph. Sammlung 5, 274–279. Der kurdische Text besteht fast ganz aus Versen. Die Prosastellen sind hier kursiv gedruckt. |
2 | Der ganze Reichtum eines Kurden besteht in Pferden, Rindern und Kleinvieh. |
3 | Die Dächer im Orient sind bekanntlich flach; hier schläft man in der Sommerschwüle gerne. |
4 | Die Mohammedaner, auch viele Christen im Orient, färben das Haar, die Hände, die Männer auch den Bart mit dem bräunlichen, aus gewissen Wurzeln bereiteten Hina. |
5 | Die Mutter des Hamutē Schankē. |
6 | Vgl. ›Ahmede Schäng‹ bei A. Socin, Kurdische Sammlungen 2, 217–228. Diese umfangreiche Fassung weicht von der obigen in vielen Einzelheiten ab. Der Stamm Gesa zieht, 150 an der Zahl, unter Führung des Onkels Chauschabi, des Kaschamani und Sergisi von Bagdad aus, um Ahmede Schängs Hab und Gut zu erbeuten. Die auf Kundschaft voraufgeschickten drei Reiter finden Ahmede, den Tollen, nicht zu Hause und werden von dessen Frau gut bewirtet; sie kehren danach mit froher Kunde zurück, und das ganze Heer rückt furchtlos vor; nachdem die Gesa die Gastfreundschaft bei des Helden Frau genossen, treiben sie das Klein- und Grossvieh hinweg. Der heimgekehrte Ahmede Schäng erfährt von dem Vorfall, besteigt Leilekē und setzt dem Feinde nach. Es folgt eine schöne Beschreibung des langen Kampfes, in welchem die Gesa mehrfach mit grossen Verlusten zurückgedrängt werden. Der Held fällt durch Verrat des Sergisi Gesa, seines ehemaligen Knappen. Dieser nennt ihm seinen Namen, geht zu ihm über und gibt ihm die Pfeife in die Hand; im selben Augenblick stösst er ihm die Lanze in die Brust und wirft ihn vom Pferde zu Boden. Nachdem Leilekē vergeblich seinen Herrn wieder auf den Sattel zu setzen versucht hat, bricht es durch und rennt blutend nach Hause. Der Stamm Dodikia zieht unter der Führung von Naman, Atman und Schahin, von Leilekē begleitet, zum Kampfplatze, findet dort Ahmede Schängs Leichnam und bringt ihn heim. Sergisi Gesa, dessen Verrat niemand ahnt, will sich darauf in der Nähe der Wohnung seines ehemaligen Herrn niederlassen. Da frisst Leilekē drei Tage kein Futter; auf die Frage von Ahmedes Witwe, was ihm fehle, dringt Leilekē auf einmal in das Zelt des Verräters ein, packt ihn mit den Zähnen hinten am Genick, schleppt ihn hinaus und stampft auf ihm herum, bis er tot ist. Erst dann frisst es sein Futter. – Unsere Fassung erinnert durch manche Züge, wie den verräterischen Stoss des Feindes in den ungeschützten Rücken des Helden und die grausame Rache, die des Helden Frau nimmt, an die deutsche Siegfriedsage. |
Buchempfehlung
Der junge Naturforscher Heinrich stößt beim Sammeln von Steinen und Pflanzen auf eine verlassene Burg, die in der Gegend als Narrenburg bekannt ist, weil das zuletzt dort ansässige Geschlecht derer von Scharnast sich im Zank getrennt und die Burg aufgegeben hat. Heinrich verliebt sich in Anna, die Tochter seines Wirtes und findet Gefallen an der Gegend.
82 Seiten, 6.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro