5.

[328] Nummer 5, zu welcher ich jetzt übergehe, erinnert in einigen Einzelheiten lebhaft an Rückerts schönes Gedicht: »Es ging ein Mann im Syrerland, Führt' ein Kameel am Halfterband«, steht aber in der ganzen Ausführung und Fassung erheblich dahinter zurück. (Ich gebe auch diese, wie die vier folgenden Nummern, abgekürzt wieder). Ich muss vorausschicken, dass in der chinesischen Volksmythologie der Yáoch'ienshu oder der »mit Gold, Silber und Kupfergeld behängte Baum« eine grosse Rolle spielt. Man braucht ihn nur zu schütteln, so fallen einem die Schätze in den Schoss. Man sieht ihn häufig auf ausserordentlich roh ausgeführten Bildern dargestellt, welche sich die Chinesen um Neujahr an die Wände ihrer Zimmer kleben. In unserer Geschichte nun macht[328] eines Tages ein von Geldgier und Habsucht erfüllter Mann einen Spaziergang in die Berge und fällt dabei in eine Schlucht, wo er sich mühsam an dem Aste eines verkehrt mit der Krone nach unten zu wachsenden Baumes festhält. Schaudernd blickt er in die Tiefe und die Haare stehen ihm zu Berge. Von noch grösserem Grausen wird er erfüllt, als er plötzlich zwei Mäuse, eine schwarze und eine weisse, aus einem Loche hervorkriechen sieht, welche unablässig die Wurzel des Baumes benagen, an dem er sich festhält. Da auf einmal erblickt er in seiner Nähe einen zweiten ganz mit Gold, Silberbarren und Kupfermünzen behangenen Baum, eben einen Yaoch'ienshu von der so eben beschriebenen Art. Sich mit der einen Hand an dem einen Baum festhaltend, beginnt er mit der anderen die goldenen und silbernen Früchte des Goldbaumes zu brechen, und vergisst darüber ganz die gefährliche Lage, in der er sich befindet. Inzwischen aber haben die beiden Mäuse ihre unheimliche Arbeit vollendet, der Baum löst sich aus dem Erdreich, in dem er wurzelte, mit einem lauten Krach los, und der Schätzesammler stürzt in die gähnende Tiefe. Der Schreck weckt ihn auf und er wird nun gewahr, dass alles nur ein Traum gewesen ist.

Dies ist nun eben die Erzählung, bei welcher ich zweifelhaft bin, ob nicht wenigstens einzelne Züge derselben von anders woher entlehnt sein mögen. Schon der »Goldbaum«, um ihn so zu nennen, ist zwar jetzt ganz in den chinesischen Volksglauben übergegangen, aber ob er eine ursprünglich chinesische Erfindung ist, kann ich nicht sagen. Zumal aber die beiden Mäuse machen mir nach meiner sonstigen Kenntnis der chinesischen Litteratur und Denkweise keinen recht nationalchinesischen Eindruck, jedoch kann ich mich täuschen. Liegt hier wirklich eine Entlehnung vor, so wäre natürlich zunächst an indisch- buddhistischen Einfluss zu denken1.

Ich will nun noch einige, jedenfalls echtchinesische, Schwänke und Schnurren mitteilen.

Fußnoten

1 Die Vermutung des Herrn Verfassers ist richtig, denn Züge dieser Fabel erinnern an die bekannte in den Barlaamroman aufgenommene Parabel von den Gefahren des Lebens, die gleich dem ganzen Roman buddhistischen Ursprungs ist. Es genüge hier auf Fr. Liebrecht zu verweisen: Die Quellen des Barlaam und Josaphat in seinem Buche Zur Volkskunde S. 457 f.

K.W.


Quelle:
Arendt, C.: Moderne chinesische Tierfabeln und Schwänke. In: Zeitschrift für Volkskunde, 1. Jahrgang (1891), S. 329.
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