Zauberschlangen und Drachen.

[10] Eine sehr alte persische Mythe erzählt, dass nach einem misslungenen, von Ariman an der Spitze seiner Dewen unternommenen Angriffe[10] auf das Reich Ormusds jener fliehen musste und sich in Gestalt eines Drachen vom Himmel auf die Erde gestürzt habe. Daraus kann man schliessen, dass die Völker im Drachen den verkörperten Ariman sahen. Und in der That erscheint der Drache in Mythen und Märchen als ein böses Wesen und grausamer Ausrotter des Menschengeschlechtes. Die Verehrung dieses Ungeheuers war ein besonderer Kultus, der im alten Medien und den Nachbarländern sehr verbreitet war. Nach den Worten des armenischen Geschichtschreibers Moses von Choren, wurden in einer der östlichen Provinzen Armeniens noch im vierten Jahrhunderte nach Christi Geburt zwei schwarz gewordene Drachen verehrt, denen man keusche Jungfrauen opferte.4 Es ist beachtenswert, dass sich diese Vorstellung vom Drachen noch bis auf unsere Tage in den armenischen Märchen erhalten hat. In den letzteren sind die Drachen böse und blutdürstig; sie sind sehr gierig nach Menschenfleisch und lauern daher beständig an Quellen den Mädchen auf, die hierher nach Wasser kommen. Eine ganze Reihe von Märchen erzählt ausführlich, wie die Drachen an der Quelle sitzen, wie sie die Mädchen nur um den Preis ihrer[11] Keuschheit Wasser schöpfen lassen und wie von ungefähr ein Held erscheint, dem Drachen mit seinem Blitzschwerte den Garaus macht und so das Volk von diesem Ungeheuer befreit.5

Es ist hier am Orte zu bemerken, dass die in den romanischen und slavischen Märchen vorkommenden romantischen Erzählungen von Drachen, die zu Königinnen und Prinzessinnen in sehr intimen Verhältnissen stehen und vom Sohne oder Bruder derselben verfolgt werden auch den armenischen Märchen nicht fremd sind. Die Russen kennen ein Märchen vom »Helden Iwan, dem Bauernsohne«, in dem sich die Schwester (oder Mutter) des Helden in den Drachen Gorynitsch verliebt und mit Hilfe desselben ihren Bruder umzubringen trachtet. Der letztere erfüllt alle launigen Wünsche der scheinkranken Schwester, aber als er sieh endlich von den bösen Absichten der Schwester überzeugt, tötet er den Drachen und verhängt über die Schwester eine schwere Strafe. Dieses Märchen ist auch den Slowaken, Kroaten und[12] Wallachen bekannt. Nicht uninteressant ist der Umstand, dass das armenische Märchen, die »verräterische Mutter« bis in die Einzelheiten dem wallachischen »Florianu«6 gleicht, während andere Abfassungen desselben Märchens von einander abweichen.7 Allerdings fehlt im armenischen Märchen die Geburt des Helden aus Zauberblumen, aber ausführlich wird der zweite Teil erzählt. Übrigens kenne ich eine Variante des Märchens von der verräterischen Mutter, in welcher ein Mädchen eine Glaskoralle verschluckt, davon schwanger wird und den Helden zur Welt bringt.

Im Volke sind viele interessante Erzählungen über Drachen im Umlauf. So zum Beispiel über die Dauer seines Lebens. Wenn dieses Ungeheuer tausend Jahre alt ist, wächst es über alle Masse und wird ungeheuer gross. Damit es nun nicht das Weltall verschlinge, steigen die Engel vom Himmel auf die Erde, fesseln es mit schweren Ketten und ziehen es[13] so lange in die Höhe, bis es von der Sonnenglut zu Asche wird. Dabei ist ein fürchterliches Krachen und Sausen zu hören, der Drache krümmt und windet sich, der Schwanz fällt ihm ab u.s.w.8

4

Vergl. N.O. Emin, Religion und Heidenglaube bei den Armeniern. Moskau 1864 (russisch).

5

Ein solches mit seinem Körper die Quelle verdeckendes Ungeheuer, welches über eine ganze Stadt Schrecken verbreitet, kommt ausser in den griechischen Mythen auch in mongolischen Märchen vor. Auch findet man in ihnen Wunderfrösche, die in den armenischen Märchen fehlen.

6

Vergl. »Wallachische Märchen« (No. 27), herausgegeben v. Arthur u. Albert Schott, Stuttgart u. Tübingen 1845.

7

Vergl. ähnliche Märchen in der »Zeitschrift für deutsche Mythologie und Sittenkunde«, herausgegeben von J. Wolf, Göttingen 1853. 4. Bd. II. S. 206–212. Littauische Märchen von Schleicher. S. 54–62. Deutsche Volksmärchen von Haltrich, No. 24. Deutsche Hausmärchen von Wolf, S. 154–155 und 251–257.

8

Eine ähnliche Mythe haben die Ossetiner, deren schlangenartiges Ungeheuer Ruimon dem Drachen entspricht. Ruimon wird von einer Hirschkuh geboren. Gleich nach der Geburt läuft diese weit weg und betrachtet ihr Kalb. Wenn es ihr ähnlich ist, kommt sie zurück und säugt es. Mitunter reisst das Neugeborene Bäume mit den Wurzeln aus und beisst in die Erde, was beweist, dass es ein Ruimon ist und da flieht die Mutter vor ihm. Zum Glücke für die Menschen wird der Ruimon blind geboren. Um die Menschen zu retten, lässt der heilige Elias eine Kette vom Himmel herunter, die mit Wolken umgeben ist, wirft sie dem Ungeheuer um den Hals und zieht es hinauf. Elias beeilt sich das zu thuen, so lange der Ruimon; noch blind ist und keinen Schrei von sich giebt. Wenn der Ruimon die Blindheit verliert, wächst sein Körper so gross, als der Raum ist, den er übersehen kann, und wenn der Mensch sein Gebrüll hört, wird er krank und stirbt. Wenn der Ruimon an der Kette den Himmel erreicht, zerhacken ihn die Himmelsgeister in Stücke und geben sie den Toten. Diese kochen sich eine Brühe davon, von deren Genüsse sie wieder jung werden, dass heisst sie nehmen dieses Alter an, in dem der Körper gestorben ist (Miller, Ossetinische Studien).

Quelle:
Chalatianz, Grikor: Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1887, S. X10-XIV14.
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