Über die Dewen.

[14] Nächst den Drachen sind die Dewen einer Erwähnung wert, zumal in den armenischen Märchen viel von ihnen die Rede ist, ja, es[14] giebt fast kein Märchen mythischen Inhaltes, in denen sie nicht eine Rolle spielten.

Aus der Mythologie der orientalischen Völker ist es bekannt, dass der Dew (sanskr. deva, avestinisch daeva, armen. dew) ein unsichtbares Wesen – ein Geist war, welcher bei den alten Hindus gute, in der Lehre Zoroasters böse Eigenschaften besitzt. Die Lehre Zoroasters hatte ohne Zweifel Einfluss auf den religiösen Glauben der Armenier und infolge dessen erscheint wohl auch der Dew noch in den alten armenischen Sagen als ein böser Geist, der gegen alles Gute kämpft. In den folgenden Epochen änderte sich die Vorstellung von den bösen Dewen bedeutend, was aus einer ganzen Reihe Volksmärchen zu sehen ist. Es ist das kein körperloser, unsterblicher Geist, sondern ein halber Dämon und halber Mensch, das heisst ein unreiner Geist in Gestalt eines Riesen, Giganten, der oft mehrere Köpfe hat. Er ist sterblich; sogar der Mensch kann ihn töten, täuschen, erschrecken. Er kann ein Menschenweib zur Frau nehmen und wohnt in der Unterwelt oder im Reiche der Finsternis, manchmal in Höhlen hoher Berge oder in dichten Wäldern. Er erscheint immer als Besitzer unerschöpflicher Reichtümer, wie Gold, Silber und Edelsteine und raubt auch Königstöchter.[15] In seinen Gärten an der Quelle des Lebenswassers wachsen die Lebensäpfel und Lebensmelonen. In seinen Zauberschlössern wohnen die goldenen Zaubervögel, Feuerpferde und Feuerbüffel, die in einem Augenblicke das ganze Weltall durchfliegen. Alles das hat er Königen und Helden entrissen und geraubt und diese quälen sich lange Jahre damit ab, die Dewen zu vertilgen und wieder in den Besitz ihres Eigentums zu gelangen.9

Wenn der Dew eine Königstochter raubt, bleibt er beständig ihr treuer Diener. Sein ganzes Leben hindurch ist er bemüht, die Schöne zu befriedigen, die ihm ihrerseits die schwierigsten Aufgaben aufgiebt, wie z.B. ihr eine silberne Maus und eine silberne Katze, einen goldenen Hahn und einen goldenen Fuchs u.s.w. zu verschaffen. Und diese Wunderdinge müssen lebendig sein, beständig hinter einander herlaufen, dürfen einander aber nie einholen. Mit solchen Aufträgen beschäftigt die Königstochter den Dew, bis endlich ein Held oder eine Zauberin den Dew tötet und sie befreit.[16]

Wie es scheint, kommen ähnliche Dewen weder in slavischen noch in deutschen Märchen vor. Allerdings treten in ihnen Riesen, Giganten und Weletne (bei den Kleinrussen) auf, die eine ähnliche Rolle wie die Dewen spielen, aber einen eigentlichen Dewen, wie ich ihn oben beschrieben, finden wir in ihnen nicht. Man ist der Meinung, dass das Auftreten der Dewen als mythische Wesen in Märchen auf eine ältere Abfassung derselben hindeutet. In den russischen Märchen vertritt die Stelle eines solchen Dewen oft der Koschtschej, der jedoch in den armenischen nicht in so typischer Gestalt vorkommt. Mit dem Koschtschej könnte man allenfalls den Otscho-kotschi (buchstäblich »Ziegenmensch« in der Bedeutung eines Waldteufels) der Mingrelier, den Lagsird der Ossetiner und den Ider-Tarbo der Mongolen vergleichen.10 Obgleich sich jedoch in den armenischen Märchen die antike Vorstellung vom Dewen erhalten hat, so sind ihnen doch keineswegs die Riesen der slavischen und deutschen Märchen fremd. Eins der charakteristischen, bei den Deutschen, Romanen und fast allen Slaven vorkommenden Märchen ist[17] das vom »Fliegenden Schiffe,«11 welches dem armenischen Märchen vom »Traumseher« sehr ähnlich ist. In der armenischen Abfassung treten dieselben Helden auf wie in allen anderen – der Vielfrass, der das auf sieben Mühlensteinen gemahlene Getreide auf einmal verzehrt und dennoch schreit: »Ich habe zu wenig, gebt mehr!« Der Vieltrinker, der einen ganzen See austrinkt und dennoch schreit: »Ach, Väterchen, ich verschmachte vor Durst!« Der Schnellläufer, der mit einem Beine nach Chisan (am Wansee), mit dem anderen nach Stambul schreitet. Der Riese, der die ganze Welt auf sich geladen hat und damit frei umher geht. Der Scharfhörige, der alles hört, was die Leute auf der Erde sprechen und die ganze Reihe der Wunderriesen, die dem Märchenhelden in seinen gefährlichen Abenteuern zu Hilfe kommen.12 Unter der Zahl ihrer Riesen haben die armenischen Märchen auch einen Orpheus. Der letztere spielt so bezaubernd die Schalmei, dass Menschen und Tiere, Berge und Wälder zu[18] tanzen anfangen. Selbst der König, der sich weigert, dem Riesen seine Tochter zur Frau zu geben, wird durch den tollen Tanz dahin gebracht, seinen Wunsch zu erfüllen, um ihn nur los zu werden.

Es ist interessant, eine andere Eigenschaft des Dewen zu betrachten, die sich unter dem Einflüsse christlicher Vorstellungen und der geistlichen Litteratur herausgebildet hat. Hier erscheint der Dew nicht mehr als hochmütiger, mächtiger Beherrscher der Unterwelt, der prächtige Paläste und zahllose Schätze besitzt. Sein Hochmut ist bezwungen, aus dem Herrscher ist ein Knecht geworden, der bei irgend einem Heiligen schwere Dienste verrichtet. Bei den armenischen Volkssängern finden sich interessante Episoden vor, die diese neue Eigenschaft des Dewen charakterisieren:

»Gregor unser Erleuchter liess alle Dewen zu sich rufen und befahl sie in einen Abgrund zu stürzen. Es erschien vor ihm ein lahmer Dew, hab Gnade mit mir! bittet er; ich werde bei der St. Johanneskirche Ofenheizer sein, ich werde die Öfen heizen und die Asche nach Prabratman (ein zwei Tagereisen von der erwähnten Kirche entferntes Dorf) tragen, bis zum jüngsten Tage!«

Auch wird erzählt, im Kloster des heil.[19] Konon (Provinz Musch) seien Dewen in Fässer gesperrt und in die Erde vergraben, wo sie bis zur Wiederkunft des Heilandes verbleiben sollen. Im Heiligengeistkloster bei Wan soll sich ein Dewenweib befinden, das ihre ganze Lebzeit als Heizerin dient.

Die Veränderung im Charakter des Dewen ist wahrscheinlich, wie das schon Athanassiew bemerkt hat, dadurch entstanden, dass auf ihn einige Eigenschaften des Teufels übertragen wurden, der unter dem Einflüsse christlicher Ideen erschien und die Vorstellung vom Dewen teilweise verdrängte, wobei sich aber sein Name erhielt.

9

Fast ebenso eine Vorstellung von den Dewen geben die georgischen und mingrelischen Märchen (Dew = georgisch Dewi oder Mdewi – mingrelisch Demi), welche überhaupt den armenischen Märchen in vielem ähnlich sind Zagareli, Mingrelische Studien.

10

Mingrelische Studien von Zagareli. Ossetinische Studien von W. Miller (russisch). Schiddi-Kur. No. 3.

11

Vergl. Deutsche Hausmärchen von Wolf, S. 307–311. Kinder- und Hausmärchen, gesammelt durch die Brüder Grimm. Grosse Ausgabe. Göttingen 1803. Bd. I, S. 405–407. Westslavischer Märchenschatz, S. 61–63.

12

Vergl. Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm Bd. II. No. 134.

Quelle:
Chalatianz, Grikor: Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1887, S. XIV14-XX20.
Lizenz:
Kategorien: