26. Die verhexte Gans.1

[34] In einem Jahre wütete zu Worms eine furchtbare Seuche. Nur die Judengasse blieb verschont. So entstand denn das Märchen, die Juden hätten nachts die Brunnen vergiftet, und die ganze Judenschaft wollte man an einem Tage, dem zehnten Adar, ausrotten. Die zwölf Gemeindevorsteher waren auf diesen Tag nach dem Rathaus bestellt worden, um mit eigenen Ohren ihr Urteil zu hören. Sie hatten sich aber mit Messern bewaffnet, und als mit der Verkündung des Urteils das Zeichen zur Ermordung der Juden gegeben war, fielen die Ratsherren, die Anstifter all' der Greuel, von ihrer Hand.

Inzwischen hatte der Volkshaufe die Judengasse erstürmt, und ein furchtbares Blutbad räumte unter den Unschuldigen auf Einige mitleidige Bürger wollten die Verfolgten in ihrem Hause bergen. Doch die Mörder hatten eine Gans2 verhext, die flog auf jedes Haus, in dem ein Jude weilte.

Um jene Zeit hielt sich in Worms ein fremder Jude auf, der mit dem Ortspfarrer sehr befreundet war und gut Latein verstand. Auch das Evangelium kannte er gründlich. Dieser bat nun seinen Freund, er möge ihn einmal an seiner Stelle in der Kirche predigen lassen. Der Pfarrer ging darauf ein; denn er war den Juden gar wohl gesinnt. Auch der Bischof von Worms hatte anfangs den Juden seinen Schutz versprochen. »So wahr«, hatte er geschworen, indem er dabei mit einem Stöckchen auf eine eiserne Kette schlug, »so wahr dies Holz die Kette nicht zerschlagen kann, so wahr soll euch nicht das geringste Leid geschehen.« Doch seltsamer Weise zerbrach die Kette wirklich. Nun sah der Bischof in dem Blutbad ein Verhängnis, das er nicht hemmen dürfe.

Jener Jude predigte also in der Kirche und schalt seine Zuhörer, dass sie unmenschlich gegen das Gebot frevelten: »Du sollst nicht töten«, und dass sie einer dummen Gans glaubten.[34] »Schliesslich,« so rief er, »setzt sie sich noch auf das Dach der Kirche, und da werdet ihr auch Juden darin suchen wollen?!«

Kaum hatte er dies ausgesprochen, so stürzten in der That Leute mit der Meldung herein, die Gans sässe auf dem Kirchdach. Da sahen denn die Bürger ihr schweres Unrecht ein und liessen die überlebenden Juden unbehelligt.

Zum Andenken bestimmten diese den zehnten Adar zum Fasttag.

1

M N 9. Soll i. • J. 5109/1349 stattgefunden haben.

2

Die Gans ist historisch. Vgl. Grätz VI, 102: »Sie (die Teilnehmer am ersten Kreuzzuge) ... eine Gans und einige Ziegen, die sie vor sich gehen liessen und von denen sie fest glaubten, sie seien vom göttlichen Geiste angehaucht und würden ihnen den Weg nach Jerusalem zeigen.« Quellen zur Gesch. der Juden in Deutschland II, Berl. 1892, 90: »anserem quendam divino spiritu afferebant afflatum« (nach Albert von Aachen c. 31, vgl. Ekkeh. Hierosol. c. 10), vgl. Horst, Dämonomagie I, 92.

Quelle:
Märchen und Sagen der deutschen Juden. In: Mitteilungen der Gesellschaft für jüdische Volkskunde, herausgegeben von M. Grunewald, Heft 2 (1898) 1-36, 63-76, S. 34-35.
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