Der fliegende See.

[52] Was nicht wo, nicht wann geschehn

Und doch nimmer kann vergehn,

Wundermär aus alten Tagen

Drängt es mich euch anzusagen ...


Auf der fetten Weide gehn

Still die schön gehörnten Rinder,

Während braune Hirtenkinder

In dem weichen Grase liegen,

Nach den Schmetterlingen sehn,

Die von Blum' zu Blume fliegen, –

Oder emsig sich bemühn

Katzenpfötchen, Gänseblümchen

Und Vergißmeinnicht zu finden,

Die am Grabenrande blühn,

Kleine Kränze draus zu winden.


Mitten auf der Wiese sitzt,

Von der Sonne überblitzt,

Da ein junges Menschenpaar;

Goldblond er, sie braun von Haar,

Er mit hellen, blauen Augen,

Welche gut zum Schmeicheln taugen,[52]

Sie mit dunkeln Feuerblicken,

Die nicht schmeicheln – doch berücken.

Aneinander dicht geschmiegt,

Wang' an Wange brennend liegt,

Hand und Hand verbinden sich.

Lipp' und Lippe finden sich.

Was die Hirtenkinder treiben,

Wo die schönen Rinder bleiben

Sehen ihre Augen nicht, –

Sehen nur das eigne Licht,

Gras und Himmel ringsumher,

Sonnenglanz und sonst nichts mehr ...


Schwüler wird die Sommerluft,

Stärker wird der Kräuter Duft

Und die Mittagssonne brennt

Steil herab vom Firmament.

Spricht das Mägdlein zu dem Knaben:

»Schon seit vielen Stunden haben

Wie zwei Ochsen wir gesessen,

Die, ihr Futter wiederkäuend,

Selbst das Brüllen ganz vergessen,

Brüllen zwar geziemt uns nicht,

Aber Singen scheint mir Pflicht

Echter Hirten! – Laßt uns singen,

Herz und Ohr zugleich erfreuend!«

Und im Wechselsange klingen

Ihre Stimmen silberhell

Durch die Einsamkeit – und schnell

Sammeln sich zu ihren Füßen,

Angezogen von der süßen

Weise, all' die andern Kinder,

Die gespielt im Grase rings,

Näher kommen auch die Rinder,

Weiden ruhig rechts und links.
[53]

»Pehrkon1 will ein Weib sich holen,

Fährt mit tausend weißen Rossen

Durch die Wolken übers Meer.

Sonne trägt ihm nach den Brautschatz

Und bestreut mit rotem Goldstaub

Alle weißen Wogenkämme.« –


Horch! welch donnerähnlich Brausen,

Welches Pfeifen, welches Saufen! – –

Aufwärts blicken sie erschrocken,

Sehen schwarze Wolkenflocken

Nahn von Osten schnell und schneller;

Werden dunkler bald, bald heller,

Gleich wie mächt'ge Wasserwogen,

Von der Luft emporgezogen.


Da ertönt ein Ruf gewaltig:

»Sorgt euch nicht, ihr guten Kinder!

Über euch und eure Rinder

Meine Hände schirmend halt ich!«


Steht ein Greis in ihrer Mitte,

Trägt ein Kleid nach fremder Sitte,

Hält ein Roß an goldnem Zügel,

Und das weiße Roß hat Flügel ...


Lauter saust es, lauter braust es,

Schwarz der Himmel, schwarz die Luft,

Kalt wie eine Totengruft –

Und den jungen Hirten graust es.


Wieder redet da die Stimme:

»Mit den Wolken auf der Höh'

Nieder kommt der Segensee;2[54]

Bald in seinem Wogengrimme

Wird er diese grüne Flur

Überschwemmen – alles töten,

Was zur Stunde sie betreten.

Retten werdet ihr euch nur,

Weil ein Lied ihr habt gesungen,

Das mir süß ans Ohr geklungen!«


Da mit lauten Donnerschlägen

Niederrauscht ein mächt'ger Regen;

Fische, Muscheln, Frösche, Quallen,

Schilf und Seegras niederfallen,

Und die Wolke aus der Höh'

Senkt sich nieder – wird zum See.


Doch ans ferne Ufer treiben,

Liegend auf dem grünen Rasen,

Drauf die Rinder ruhig grasen,

Die erschrocknen Hirten – bleiben

Lange noch in bangem Schweigen,

Wagen kaum den Blick zu heben,

Noch zum See hinabzuneigen,

Und umklammern sich mit Beben.

Doch der ihnen ließ das Leben

War verschwunden wie sein Blitz,

Heimgekehrt zum Göttersitz ...


1

Der Wetter- und Donnergott der alten Letten.

2

Ein See in der Gegend von Hasenpoth in Kurland.

Quelle:
Andrejanoff, Victor von: Lettische Märchen. Nacherzählt von -, Leipzig: Reclam, [1896], S. 55.
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