Weit, weit von hier war einmal ein König, der hatte drei schöne Töchter von seiner ersten Frau. Aber er hatte keine Söhne, und deshalb hatte er die drei Prinzessinnen so gern, daß er ihnen alles gab, was sie sich wünschten. Aber einmal kam der Feind ins Land, und der König mußte in den Krieg. Als er abreiste, bat ihn die älteste Prinzessin, er möge ihr einen Ring kaufen, der die Eigenschaft habe, daß sie nie[131] sterben könne, solange sie ihn trage. Die zweite Prinzessin bat ihn um einen Kranz, der sie froh mache, sooft sie ihn anschaue, wenn ihr auch noch so bekümmert und weh ums Herz sei. »Kauf mir Sorge und Leid!« sagte die Jüngste. Der König versprach alles.
Als er den Feind aus dem Land und auch aus dem Nachbarland verjagt hatte und den Heimweg antreten wollte, fiel ihm ein, was er den drei Prinzessinnen versprochen hatte. Den Ring und den Kranz konnte er wohl auftreiben, aber Sorge und Leid waren weder da noch dort zu bekommen, denn alle Leute waren so froh, daß der Feind verjagt war, daß er weder Sorge noch Leid in seinem ganzen Reich finden konnte. Da er es nicht kaufen konnte, so war es überhaupt nicht da, und er mußte ohne das Gewünschte heimreisen, so ungern er es auch tat.
Aber als er nicht mehr weit von seinem Schloß entfernt war, mußte er durch einen dichten Wald. Da saß ein Eichhorn auf einem Baum am Weg. »Kauf mich! Kauf mich! Ich heiße Sorge und Leid!« sagte es. Der König dachte bei sich, es sei besser, ein Eichhörnchen zu haben als zwei leere Hände, und nahm es mit zu seiner jüngsten Tochter. Diese freute sich ebensosehr über das Geschenk wie ihre beiden Schwestern über den Ring und den Kranz. Das Eichhörnchen trieb sich in ihrer Kammer herum; manchmal wiegte es sich auf dem Bettpfosten, dann saß es wieder oben auf dem Schrank und hatte immer eine Menge zu schwatzen.
Aber in dem Augenblick, wo die Dunkelheit eintrat, verwandelte es sich auf einmal in einen Mann. Der erzählte, in dem goldenen Wald sei eine schlimme und böse Riesin, die habe ihn in ein Eichhörnchen verwandelt, weil er sie nicht heiraten wollte; in der Nacht habe sie keine Macht über ihn; aber jeden Morgen, wenn der Tag anbreche, müsse er wieder in die Eichhorngestalt schlüpfen.
Mit der Zeit kam es so weit, daß die Prinzessin Sorge und Leid heiraten wollte; aber als sie sich versprachen, bat er sie eindringlich und mit den besten Worten, daß sie niemals[132] Licht anzünden und ihn sehen wolle, »denn dann werden wir alle beide unglücklich«, sagte er. Nein, sagte sie, das wolle sie ganz gewißlich nicht tun.
Nun kam jeden Abend, wenn die Prinzessin sich gelegt und das Licht ausgeblasen hatte, ein Mann und legte sich neben sie; aber wenn sie am Morgen aufwachte, lag sie allein, und das Eichhörnchen saß auf dem Bettpfosten und begrüßte sie und plauderte und schwatzte mit ihr über alles mögliche.
Einmal aber dachte sie, er schliefe ganz fest, und da konnte sie nicht anders – sie stand leise auf, zündete ein Licht an und schlich sich wieder leise zum Bett hin, und als der Lichtstrahl auf ihn fiel, sah sie, daß er viel, viel schöner war als der allerschönste Prinz. Er war so über alle Maßen schön, schien ihr, daß es gar nicht auszudenken war, und sie mußte sich über ihn neigen, um ihn noch besser zu sehen, und schließlich konnte sie nicht anders, sie mußte ihn auf den Mund küssen. Aber da fielen drei Tropfen vom Licht auf seine Brust, und er erwachte.
»Aber wie hast du das tun können!« rief er und war ganz unglücklich. »Hättest du nur noch drei Tage ausgehalten, so wäre ich frei gewesen!« sagte er. »Aber nun muß ich wieder zurück zu der bösen Riesin und sie heiraten, und zwischen dir und mir ist es aus!« – »Darf ich dir nicht dahin nachfolgen?« fragte die Prinzessin. – »Nein, das bringst du nie im Leben fertig, denn wenn du dich ausruhst oder auch nur die Beine biegst zum Sitzen, so kommst du in der Nacht so weit zurück, als du am Tag vorwärtsgekommen bist«, sagte er, sprang gegen die Tür und war verschwunden.
Nun jammerte und weinte die Prinzessin und wartete darauf, daß er wiederkommen sollte; aber sie hörte und sah nichts mehr von ihm. Nach einigen Tagen wurde sie so elend und unruhig, daß sie nicht mehr zu Hause bleiben konnte und ihre Magd inbrünstig bat, sie solle doch mit ihr gehen auf die Suche nach dem goldenen Wald. Schließlich ließ sich das Mädchen erweichen; aber sie wollte nicht[133] eher fortgehen, bis sie eine Elle Drillich, eine Elle Zwillich und eine Elle feines Leinen beisammen hatte; und das bekam sie auch gleich, kannst du dir denken, denn auf dem Schloß war kein Mangel an solchen Dingen.
Also machten sie sich auf und wanderten lang und immer länger, bis ihnen die Füße wund wurden und der Mut sank. Am Abend kamen sie mitten in einen dichten, dunklen Wald; da kletterten sie auf einen hohen Baum. Die Prinzessin war so müde, daß die Magd sie in den Armen halten mußte, während sie ein wenig schlief. Aber in der Nacht wurde es um den Baum herum so unheimlich lebendig mit Wölfen, die heulten und schrien, daß sich die Prinzessin keinen Augenblick mehr zu schlafen getraute. Aber wie der Tag sich am Himmel zeigte, war es, als ob alle die Wölfe mit einem Male weggeblasen wären.
Am nächsten Tag wanderten sie weit und immer weiter, bis die Füße noch wunder wurden und der Mut noch tiefer sank. Als es gegen Abend ging, kamen sie wieder mitten in einen dicken, dunklen Wald. Da kletterten sie wieder auf einen hohen, hohen Baum; aber die Prinzessin war so müde, daß die Magd sie in den Armen halten mußte, während sie ein wenig schlief. Als es dunkler wurde, kam eine unheimliche Menge Bären unter dem Baum zusammen, und die fingen an zu tanzen und sich im Kreis zu drehen, ganz unheimlich schnell, und auf einmal versuchten sie auch auf den Baum hinaufzuklettern. Oben im höchsten Wipfel mußten die Prinzessin und ihre Magd die ganze Nacht stehen und konnten nicht ein Auge zumachen; aber als der Tag herankam, waren die Bären in einem einzigen Augenblick wie in der Erde versunken.
Am dritten Tag wanderten sie weit und immer weiter und noch ein Stück dazu. Am Abend kamen sie wieder in einen dicken, dunklen Wald. Da kletterten sie wieder auf einen hohen, hohen Baum; aber kaum waren sie oben, so wimmelte es von lauter Löwen unter dem Baum und überall im Wald, und die brüllten und heulten alle aufs Mal so[134] schauerlich, daß das Echo von Fels und Wald zurückkam. Auf einmal fingen sie an zu tanzen und so schrecklich herumzuwirbeln, daß die Erde bebte, und dazwischen klammerten sie sich wieder an den Baum und versuchten ihn zu schütteln und zu lockern und wollten ihn mit Stumpf und Stiel ausreißen. Oben im höchsten Wipfel mußten die Prinzessin und ihre Magd stehen, und obgleich sie so matt und müde waren, daß sie von Zeit zu Zeit fast heruntergefallen wären, wagten sie doch nicht einmal, an Schlaf zu denken; aber in dem Augenblick, wo der Tag sich zeigte, waren die Löwen, wo sie gingen und standen, auf einmal vom Erdboden verschwunden.
Den ganzen Tag wankten sie nun hierhin und dorthin, bis die Füße wunder als wund wurden und der Mut tiefer als tief sank. Sie verloren Weg und Steg, und obgleich sie im Norden und Süden, im Osten und Westen suchten, konnten sie sich doch nicht aus dem großen, dunklen Wald herausfinden.
Schließlich wurde die Prinzessin müde und über alle Maßen traurig und wollte sich alle Augenblicke niedersetzen, um sich doch ein wenig auszuruhen; aber die Magd hielt sie und zog sie vorwärts und ließ sie keinen Augenblick sich auf gebeugten Beinen niederlassen, denn sonst wären sie ebenso weit zurückgekommen, als sie am Tage vorwärtsgekommen waren, müßt ihr wissen, die Riesin in dem goldenen Wald hatte es so eingerichtet.
Am Abend kamen sie an einen großen greulichen Felsen. »Hier will ich anklopfen«, sagte die Magd und pochte und klopfte. »Ach, nein«, sagte die Prinzessin, »bitte, klopf hier nicht an, du siehst ja, wie häßlich hier alles ist!« – »Wer rumpelt da an meiner Tür?« schrie das Riesenweib im Felsen laut und barsch, machte die Tür auf und steckte ihre Nase, die gut eine Elle lang war, durch den Spalt. – »Die jüngste Prinzessin und ihre Magd, die wollen zu einem Prinzen im goldenen Wald, der heißt Sorge und Leid«, gab die Magd zur Antwort. – »Ach, pfui!« schrie[135] das Riesenweib. »Das ist so weit im Norden, dahin kann man weder segeln noch rudern. Aber was wolltet ihr denn mit Sorge und Leid? Ist das vielleicht die Prinzessin, die ihn heiraten wollte?« fragte das Riesenweib. – Ja, das sei die Prinzessin. – »Ja, sie wird ihn nie im Leben bekommen«, sagte die Riesin, »denn nun muß er die große Riesin im goldenen Wald heiraten. Ihr könnt ebensogut jetzt heimgehen wie später«, sagte sie. – Nein, umkehren wollten sie unter keiner Bedingung, und die Magd fragte, ob es nicht möglich wäre, hier über die dunkelste Nacht unterzukommen. – »Unterkommen könnt ihr wohl«, gab das Riesenweib zur Antwort, »aber wenn mein Mann heimkommt, reißt er euch den Kopf ab und frißt euch auf!« Da war nichts zu machen, sie konnten mitten in der Nacht nicht weiterwandern. Da zog die Magd die Elle Drillich hervor und schenkte sie der Riesin für Leinenzeug. – »Ach nein, ach nein«, rief die aus, »nun bin ich doch schon hundert Jahre verheiratet und habe noch nie Drillich besessen!« Und sie freute sich so sehr, daß sie die Wandernden einlud und wohl aufnahm und aufs beste für sie sorgte. Nach einer Weile, als sie sich mit Essen und Trinken gestärkt hatten, sagte die Riesin zu ihnen: »Ja, er ist ein grimmiger Gesell, mein Mann, und ich muß euch schon in der Vorkammer verstecken, vielleicht findet er euch dann nicht.« Und sie richtete ihnen das Bett so weich und sanft, wie nur ein Bett sein kann; aber sie trauten sich nicht, weder darauf zu liegen noch zu sitzen, nein, sie konnten nicht einmal ein Auge schließen, weil sie achtgeben mußten, nicht die Beine zu beugen. So standen sie die ganze Nacht und hielten abwechselnd eines das andere unter den Arm, denn nun war die Magd auch so müde und elend, daß sie fast nicht mehr konnte.
Um Mitternacht fing es an, greulich zu donnern und zu poltern; das war der Troll, der heimkam; und kaum hatte er seinen ersten Kopf zur Tür hineingesteckt, so schrie er schon laut und barsch: »Pfui, pfui, ich rieche Christenfleisch!«, und er fuhr so wild und wütend herum, daß die[136] Funken stoben. – »Ja«, sagte die Riesin, »es ist ein Vogel vorbeigeflogen mit dem Knochen eines Christen; den hatte er durch den Schornstein herunterfallen lassen; ich habe ihn zwar eiligst wieder hinausgeworfen, aber es kann doch sein, daß es immer noch danach riecht«, sagte die Riesin und beruhigte ihn wieder. Und er gab sich auch damit zufrieden. Aber am nächsten Morgen erzählte die Riesin ihm, die jüngste Prinzessin und ihre Magd seien gekommen auf der Suche nach einem Prinzen mit Namen Sorge und Leid im goldenen Wald. – »Ach, pfui! Das ist so weit im Norden, dahin kann man weder segeln noch rudern!« schrie der Troll gleich. »Das ist die Prinzessin, die ihn heiraten wollte, ich weiß; aber sie bekommt ihn nie im Leben, denn in drei Tagen muß er sich mit der großen Riesin vermählen. – Aber die Mädchen kommen mir nicht von hier fort, wo sind sie, wo sind sie?« schrie er und schnüffelte und schnupperte in allen Winkeln und Ecken. – »Ach nein, du darfst ihnen nichts tun!« sagte die Riesin. »Sie haben mir eine Elle Drillich geschenkt, und nun bin ich schon hundert Jahre verheiratet und habe noch nie Drillich besessen, deshalb sollst du ihnen dein Siebenmeilenwams leihen bis zum nächsten Nachbarn«, sagte die Riesin und bat für die Mädchen. Und der Troll war auch einverstanden, als er hörte, wie freundlich sie gegen seine Frau gewesen waren.
Als sie gegessen hatten und reisefertig waren, zog er ihnen sein Siebenmeilenwams an. »Nun müßt ihr sagen: ›Vorwärts über Weidenbusch und Tannenbaum, über Berg und Tal zum nächsten Nachbarn‹«, sagte er, »und wenn ihr dort seid, müßt ihr sagen: ›Wo du heut morgen angezogen worden bist, sollst du heut abend aufgehängt werden!‹« Die Mädchen taten so und fuhren über Berg und tiefes Tal meilenweit. Am Abend in der Dämmerung kamen sie wieder an einen großen, häßlichen Felsen. Da zogen sie das Siebenmeilenwams aus und sagten: »Wo du heut morgen angezogen worden bist, sollst du heut abend wieder hängen«, und da lief das Wams ganz von selbst wieder heim.[137]
»Hier will ich anklopfen«, sagte die Magd und klopfte und polterte. »Ach, nein«, sagte die Prinzessin, »bitte klopf hier nicht an, du siehst ja, wie häßlich hier alles ist!« – »Wer rumpelt da an meiner Tür?« schrie das Riesenweib im Felsen noch lauter und barscher als die erste, und sie machte die Tür ein wenig auf und steckte ihre Nase, die gut zwei Ellen lang war, gerade durch den Spalt. – »Hier sind die jüngste Prinzessin und ihre Magd, die suchen einen Prinzen, der heißt Sorge und Leid und wohnt im goldenen Wald«, gab die Magd zur Antwort. Da sagte die Riesin ebenfalls, das sei so weit nordwärts, daß man dahin weder segeln noch rudern könne, und wollte sie durchaus zum Umkehren veranlassen. – »Ihr könnt ebensogut jetzt umkehren wie später«, sagte sie. Aber das wollten die Mädchen durchaus nicht, und die Magd fragte, ob sie nicht vielleicht hier unterkommen könnten, und wenn es auch nur über die dunkelste Nachtzeit wäre. »Ja, unterkommen könnt ihr wohl«, sagte das Riesenweib darauf, »aber wenn mein Mann heute nacht nach Hause kommt, reißt er euch den Kopf ab und frißt euch auf.« Da zog die Magd die Elle Zwillich hervor und gab sie der Riesin für Weißzeug. – »Ach nein, ach nein, nun bin ich schon zweihundert Jahre verheiratet und habe noch niemals Weißzeug aus Zwillich besessen«, rief die Riesin aus und freute sich so sehr, daß sie sie einlud und wohl aufnahm und es an nichts fehlen ließ. Nach einer Weile, als sie sich mit Essen und Trinken gestärkt hatten, sagte die Riesin: »Ja, er ist ein grimmiger Gesell, mein Mann, und frißt jede Christenseele, die hierherkommt, mit Stumpf und Stiel auf; ich muß euch draußen in der Vorkammer unterbringen, vielleicht findet er euch da nicht«, und sie richtete das Bett für die Mädchen. Aber die wagten sich weder zu setzen noch zu legen, nicht einmal einen Augenblick lang, denn sie mußten ja achtgeben, daß sie die Beine nicht beugten. Sie standen die ganze Nacht, und die eine hielt die andere abwechselnd unter den Armen, während sie ein wenig schlief.[138]
Um Mitternacht fing es greulich zu poltern und zu donnern an, daß sie spürten, wie die Erde unter ihren Füßen erbebte. Dann kam der Troll hereingestürzt. »Pfui, pfui, ich rieche Christenfleisch!« schrie er laut und barsch und fuhr so wütend herum, daß die Funken von ihm stoben wie von einem Feuer. – »Ja«, sagte die Riesin, »es ist ein Vogel vorbeigeflogen und hat einen Christenknochen durch den Kamin fallen lassen; ich habe ihn zwar eiligst wieder hinausgeworfen, aber es kann wohl sein, daß es jetzt noch danach riecht«, sagte sie und beruhigte ihren Mann. Er gab sich auch damit zufrieden. Aber als sie morgens aufstehen wollten, erzählte sie ihm, daß die jüngste Prinzessin mit ihrer Magd gekommen sei, sie seien auf der Suche nach einem Prinzen namens Sorge und Leid in dem goldenen Wald. Als der Troll das hörte, sagte er auch, das sei so weit im Norden, daß man nicht hinsegeln und nicht hinrudern könne. »Das ist die Prinzessin, die ihn hat heiraten wollen, ich weiß schon; aber sie bekommt ihn niemals im Leben, denn in zwei Tagen muß er die große Riesin selbst heiraten«, sagte der Troll. »Wo sind sie denn, die Mädchen, die sollen mir nicht lebend von hier fortkommen!« schrie er und schnupperte und schnüffelte überall herum. – »Ach nein, du darfst ihnen nichts tun!« sagte die Riesin und erzählte, sie hätten ihr eine Elle Zwillich für Weißzeug geschenkt. »Dafür sollst du ihnen dein Siebenmeilenwams bis zum nächsten Nachbarn leihen«, sagte sie. Er war auch gleich dazu bereit, als er hörte, wie freundlich sie gegen seine Riesin gewesen waren. Als sie am Morgen gegessen hatten, zog er ihnen das Siebenmeilenwams an. »Wenn ihr am Ziel seid, braucht ihr nur zu sagen: ›Wo du heut früh angezogen worden bist, da sollst du heut nacht auch wieder hängen!‹, dann reist das Siebenmeilenwams von selbst wieder heim«, sagte der Troll. Dann fuhren sie über Berg und tiefes Tal immer weiter und weiter. In der Dämmerung kamen sie wieder an einen großen, wilden Felsen.
»Hier will ich anklopfen!« sagte die Magd und klopfte und[139] polterte an die Bergwand. – »Ach, nein«, sagte die Prinzessin, »klopf doch, bitte, hier nicht an, du siehst ja, wie unheimlich es hier aussieht!« – »Wer rumpelt an meiner Tür?« schrie drinnen im Felsen das Riesenweib noch gröber und barscher als die anderen Riesinnen und machte die Tür gerade so weit auf, daß sie ihre Nase, die gut drei Eilen lang war, durch den Spalt stecken konnte. – »Hier stehen die jüngste Prinzessin und ihre Magd auf der Suche nach einem Prinzen, der Sorge und Leid heißt und im goldenen Wald wohnt!« gab die Magd zur Antwort. – »Ach, pfui!« schrie die Riesin. »Das ist so weit im Norden, daß keiner hinsegeln und hinrudern kann! Aber was wollt ihr denn von Sorge und Leid? Ist das vielleicht die Prinzessin, die ihn heiraten wollte?« fragte die Riesin. Ja, das sei sie, gab die Magd zur Antwort. Da sagte auch diese Riesin wieder: »Er muß die große Riesin im goldenen Wald heiraten, da könnt ihr ebensogut jetzt wie später heimkehren!« Aber umkehren wollten die Mädchen auf keinen Fall, und die Magd fragte, ob sie nicht vielleicht hier unterkommen könnten, wenn auch nur für die stockfinsterste Nacht. – »Ja, unterkommen könnt ihr wohl«, sagte die Riesin, »aber wenn mein Mann heut nacht nach Hause kommt, reißt er euch den Kopf ab und frißt euch auf.« Da war nichts zu wollen; sie konnten nicht in stockfinsterer Nacht durch Wald und Einöde weiterziehen. Da holte die Magd die Elle Leinwand hervor und schenkte sie der Riesin. – »Ach nein, ach nein«, rief diese aus, »nun bin ich schon dreihundert Jahre verheiratet und habe noch nie Weißzeug aus Leinwand besessen!« Und sie freute sich so sehr, daß sie die Mädchen einlud und sie freundlich empfing und es an nichts fehlen ließ. – »Er ist ein recht grimmiger Gesell, mein Mann, und bringt jede Christenseele um, die sich hierher verirrt«, sagte sie, als die Gäste gegessen hatten. »Aber ich will euch in der Vorkammer verstecken, vielleicht findet er euch da nicht«, und sie richtete ihnen das Bett so weich und sorgsam wie das schönste Bett von der Welt. Aber nun war die Prinzessin[140] über alle Maßen müde und elend und schläfrig. Sie konnte sich gar nicht mehr länger aufrecht halten und mußte sich schließlich legen und ein wenig schlafen, und wenn es auch nur ein winziges Weilchen wäre. Die Magd war auch ebenso müde und elend, daß sie im Stehen einschlief und von Zeit zu Zeit fast umfiel. Aber immerhin blieb sie doch so weit bei Besinnung, daß sie die Prinzessin unter den Armen ergriff und stützte und nicht die Beine beugen ließ. Um Mitternacht fing es ganz greulich an zu donnern und zu poltern, daß das ganze Haus wankte, als ob Dach und Wände zusammenfallen wollten. Das war der Großtroll, der nun nach Hause kam.
Als er die erste Nase zur Tür hereinsteckte, schrie er schon so wild und barsch, wie sie noch nie jemand hatten schreien hören: »Pfui! Pfui! Ich rieche Christenfleisch!«, und er war in heller Wut, daß Funken und Flammen von ihm stoben. »Ja, es ist ein Vogel vorbeigeflogen und hat einen Christenknochen durch den Schornstein fallen lassen; ich habe ihn zwar eiligst wieder hinausgeworfen, aber es kann schon sein, daß es immer noch danach riecht!« sagte die Riesin und suchte ihren Troll zu begütigen. Er gab sich auch dabei zufrieden; aber als sie am Morgen aufwachten, erzählte sie ihm, daß die jüngste Prinzessin und ihre Magd gekommen seien; sie seien auf der Suche nach einem Prinzen, der Sorge und Leid heiße und in dem goldenen Wald wohne. »Ach pfui! Das ist so weit im Norden, daß man nicht hinsegeln und nicht hinrudern kann!« schrie der Obertroll, gerade wie die kleineren Trolle gesagt hatten. »Aber sie bekommt ihn nie im Leben, denn morgen muß er die große Riesin heiraten. Wo sind sie denn, die Mädchen? Mn, mn, mn, das gibt einen feinen Leckerbissen!« schrie er und tanzte rund herum und schnupperte und schnüffelte mit allen seinen neun Nasen auf einmal. – »Ach nein, du darfst ihnen nichts tun!« sagte die Riesin. »Sie haben mir eine Elle Leinwand geschenkt, und nun bin ich doch schon dreihundert Jahre verheiratet und habe noch nie Weißzeug aus Leinen besessen; deshalb sollst[141] du ihnen dein Siebenmeilenwams bis zum nächsten Nachbarn leihen!« Als der Obertroll hörte, daß die Mädchen so freundlich gewesen waren, war er auch einverstanden.
Als sie sich am Morgen gestärkt hatten, zog er ihnen sein Siebenmeilenwams an. – »Nun müßt ihr sagen: ›Vorwärts, vorwärts, über Weidenbusch und Tannenwipfel, über Berg und Tal zum nächsten Nachbarn!‹, und wenn ihr am Ziel seid, so braucht ihr nur zu sagen: ›An dem Nagel, wo man dich am Morgen heruntergelangt hat, sollst du heut nacht wieder hängen!‹« sagte der Obertroll. Sie taten, wie er gesagt hatte, und fuhren weit und immer weiter über Berg und tiefes Tal.
In der Dämmerung kamen sie in einen großen, großen Wald, wo alle Bäume kohlschwarz waren. Wenn man sie auch nur ein wenig anrührte, wurde man schwarz und rußig wie ein Kaminkehrer. Aber mitten im Wald war eine Lichtung, und da stand eine elende und baufällige Hütte; sie hielt nur noch an zwei Balken zusammen und war jämmerlicher anzusehen als die elendeste Sennhütte. Und vor der Tür lag ein Kehrichthaufen mit alten Schuhen, schmutzigen Lumpen und anderem häßlichem Zeug. Hier tat die Magd das Siebenmeilenwams ab und sagte: »Wo du heut früh angezogen worden bist, sollst du heut nacht wieder hängen!«, und das Wams wanderte von selbst heimwärts.
»Hier will ich anklopfen!« sagte die Magd. – »Ach nein, ach nein«, jammerte da die Prinzessin, »bitte klopfe hier nicht an, du siehst ja, wie häßlich es hier ist!« – »Wenn du nun nicht tust, wie ich tue, so geht es uns beiden schlecht!« sagte die Magd, stapfte durch den Kehrichthaufen und klopfte an. Ein uraltes Trollweib mit einer drei Ellen langen Nase guckte zum Türspalt heraus. – »Wenn die Frauenzimmer herein wollen, so wollen sie, wenn sie aber nicht wollen, so können sie es bleiben lassen!« sagte sie und wollte ihnen die Tür vor der Nase zumachen. »Ja, freilich, wir wollen schon herein«, gab die Magd zur Antwort und zog die Prinzessin mit sich. – »Wenn die Frauenzimmer zur[142] Tür herein wollen, so wollen sie, wenn sie aber nicht wollen, so können sie es bleiben lassen«, sagte das Weib wieder. »Ja, danke, wir wollen herein«, sagte die Magd und stapfte über die Schwelle durch Schmutz und Lumpen. – »O weh, o weh!« jammerte die Prinzessin und stapfte hinterdrein. Überall war es häßlich und schwarz drinnen und rußig und dreckig wie auf einem Kornspeicher. Nach einer Weile ging die Riesin hinaus und holte ihnen Milch zum Trinken. – »Wenn die Frauenzimmer trinken wollen, so wollen sie, wollen sie aber nicht, so lassen sie es bleiben!« sagte sie und wollte sie schon wieder mit hinausnehmen. – »Ja, danke, wir wollen trinken«, sagte die Magd und trank. – »O weh, o weh«, jammerte die Prinzessin, als sie trinken sollte, denn die Milch war in einem Sautrog, und Schmutz und Haarwische schwammen obenauf. Dann setzte das Riesenweib ihnen Essen vor. – »Wenn die Frauenzimmer essen wollen, so wollen sie, wollen sie aber nicht, so können sie es bleiben lassen«, sagte die Riesin. – »Ja, freilich, wir wollen gern«, sagte die Magd, ehe das häßliche Nasenungeheuer die Speise wieder wegschaffen konnte. Das Brot war schimmelig, am Käse hatten die Mäuse gefressen, das Fleisch war so alt, daß man es von weitem roch, und zwei dreckige Kalbsschwänze waren um die Butter garniert. – »O weh, o weh«, jammerte die Prinzessin und wollte schon zu weinen anfangen; aber sie mußte ja tun, was die Magd tat, und die greulichen Gerichte versuchen. Nun mußten sie sich bedanken. In ein paar alten Pelzfetzen und anderen Lumpen auf dem Bett lag ein alter Mann, den sie bisher noch nicht gesehen hatten. Als sie zu ihm traten, ihm zu danken, stand er auf, und als die Prinzessin ihm die Hand gab, küßte er sie; aber in demselben Augenblick verwandelte er sich in einen Prinzen, der war unerhört schön, und die Prinzessin erkannte in ihm wieder Sorge und Leid, nach dem sie so sehr Sehnsucht gehabt hatte. »Nun hast du mich erlöst!« sagte er. – »Weh dem, der dich erlöst hat!« schrie die Riesin und rannte zur Tür hinaus. Aber[143] auf der Treppe blieb sie stehen wie aus Stein, denn der Wald war nicht mehr kohlschwarz; alle Bäume sahen aus, als wären sie von der Wurzel bis zum Wipfel vergoldet, und glitzerten und blinkten heller als die Sonne zur Mittagszeit. Die elende schmutzige Hütte hatte sich in ein Königsschloß verwandelt, ganz unermeßlich groß und schön. Man hätte meinen können, Dach und Wände seien aus purem Gold und Silber, und es war auch so. – »Nun kannst du deine Beine wieder beugen«, sagte der Prinz, »und hast du bis jetzt Sorge und Leid gehabt, sollst du von nun an um so mehr Freude haben.«
Die alte Riesin hatte gebraut und gebacken und das ganze Hochzeitsmahl fertig gemacht. Und als der nächste Morgen anbrach, feierten der Prinz und die Prinzessin und alle Leute im Schloß und im ganzen Land, dessen König er war, Hochzeit, und es dauerte viermal vierzehn Tage, so daß man in sieben Königreichen davon hörte und auch beim Vater und den beiden Schwestern der Braut. Die hätten auch mitgefeiert, wenn sie nicht gar so weit weg gewohnt hätten. Ich wurde auch zu dem Fest geladen, und der Bräutigam machte mich zum Küchenmeister, und ich mußte die Rede auf Bräutigam und Braut halten. Aber am letzten Tag des Festes mußte ich Bier zapfen aus einem großen, großen Faß, das zuhinterst im Keller lag. Ehe ich den vollen Krug wegschickte, trank ich zuerst selbst, wie es sich gehört. Aber das Bier war so stark, daß es mir auf einmal in den Kopf stieg, und ich flog in die Luft wie ein Vogel, und nun habe ich neun volle Jahre zwischen Himmel und Erde geschwebt, und dann fiel ich herunter hier ins Dorf vor das Haus hier oben auf dem Hügel. Und heraus kam Bertchen Freundlich mit einem Brief an mich von dem Prinzen, der inzwischen König geworden war, und darin stand, ihm und der jungen Königin ginge es sehr gut, und sie ließen dich grüßen, und du und deine Schwestern sollten am Sonntag nach Michaelis zur Einladung ins Schloß kommen, da könntest[144] du ein paar herzige kleine Prinzlein, den goldenen Wald und die alte steinerne Riesin sehen, die vor der Tür steht mit ihrer drei Ellen langen Nase.
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Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
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