Geschlecht

[643] Geschlecht – Nur auf einen kleinen wunderlichen Umstand möchte ich aufmerksam machen. Der Unterschied der Geschlechter ist die Grundbedingung und die mächtigste Erscheinung der lebendigen Natur, also der Natur, der wir Menschen selbst angehören. Wir wären ohne Vorhandensein des Geschlechtsunterschiedes ja nicht auf der Welt, und es ist gar nicht abzusehen, wie stark die menschlichen Handlungen, direkt oder indirekt, vom Geschlechtsleben beeinflußt werden, auch die Handlungen des Helden, des Dichters und des Denkers. Und diese übermächtige Erscheinung ist bei der Aufstellung aller alten und neuen Kategorientafeln übersehen worden. Man versuche einmal, das Geschlecht unter eine der Kategorien zu bringen, die doch die obersten Begriffe für alles Seiende darbieten sollen. Man lege die Kategorientafel von Aristoteles zugrunde, oder die von Kant; man wähle anstatt der bekannten zehn oder zwölf Kategorien nur deren drei, vier oder fünf; niemals paßt auch nur eine der Kategorien als der nächste oder der höchste Oberbegriff zu dem, was den Geschlechtscharakter der lebenden Wesen ausmacht. Ich will der Einfachheit wegen nur die fünf Kategorien bemühen, mit denen Leibniz ausgekommen[643] ist. Die Begriffe Mannheit und Weibheit fallen offenbar nicht unter die Kategorien der Substanz und der Quantität, ebenso wenig, wenn man nicht aus Sensationslust alle letzten Fragen aus dem einen Punkte des Geschlechtslebens beantworten will, unter die Kategorie des Tuns und Leidens; auch Qualitäten sind Mannheit und Weibheit nicht, mag man selbst männlich und weiblich dafür sagen, weil genau genommen (besonders deutlich wird das an den männlichen und weiblichen Blüten der Pflanzen) gar kein Was da ist, das übrig bliebe, wollte man von dem Wie absehen; und wiederum Relationen sind Mannheim und Weibheit nicht, so lebhafte Relationen auch zwischen den Subjektträgern dieser Begriffe bestehen mögen.

Ich habe auf diesen scheinbar nur logischen Umstand, der meines Wissens noch nicht beachtet worden ist, hinweisen zu müssen geglaubt, weil er die Erklärung dafür abgibt, daß wir irgend eine brauchbare, meinetwegen tautologische Definition des Geschlechtsbegriffs nicht besitzen. Das Geschlecht ist eine Kategorie für sich. Die meisten uns näher bekannten Lebewesen haben eines von zwei Geschlechtern, insofern sie mit Haut und Haar, mit primären und sekundären Geschlechtseigenschaften, entweder männlich oder weiblich sind. Nichts auf der Welt hat mit dieser Kategorie irgend eine Ähnlichkeit. Und da ist der Sprachgebrauch um so seltsamer, der lat. genus (griech. genos) in allen seinen Bedeutungen mit Geschlecht übersetzte und uns z.B. zu sagen gestattet: »Die geschlechtslosen Lebewesen pflanzen ihr Geschlecht ohne Zeugung fort.«

Die Sprache, die also keine Definition von Geschlecht besitzt, hat nun aber den Geschlechtsunterschied nicht nur auf die Formen ihrer Wörter übertragen, sondern auch gegen alle Natur ein drittes Geschlecht konstruiert, das Neutrum, und hat, namentlich in den meisten indogermanischen Sprachen, diese drei Geschlechter ganz sinnlos allen ihren Dingworten aufgeklebt. Es ist eine hübsche, aber unbewiesene Vermutung von Wundt (Die Sprache² II, S. 19 f.), daß das grammatische Geschlecht in Urzeiten eine Wertunterscheidung bezeichnet habe; wie bei den Irokesen höhere Wesen (Gott, Ich, Männer)[644] und niedere Wesen (Frauen und Kinder, Tiere und Sachen) grammatisch unterschieden werden, bei afrikanischen Stämmen alle menschlichen Wesen von andern Gegenständen, wie bei vielen Indianerstämmen irgendwie belebte und unbelebte Wesen, sprachlich auseinander gehalten werden, so sollen in den semitischen Sprachen und (abgesehen von der Hinzufügung des Neutrums) auch in unserm Sprachstamm männliche und weibliche Lebewesen grammatisch verschieden behandelt worden sein. Der groteske, heute beinahe schon als burlesk empfundene Satz, daß Frauen keine Menschen seien, läge also dem grammatischen Geschlechte zugrunde. Ich gebe nach Friedrich Müller ein auch von Wundt benutztes Beispiel aus der Sprache der Hottentotten; da bedeutet (sie können jedem Worte drei Geschlechter beilegen) das Wasser den Stoffnamen, die Idee des Wassers; der Wasser ein großes Wasser, z.B. einen Fluß; die Wasser ein kleines Quantum Wasser zum Waschen oder zum Trinken. Dabei scheint es mir aber zweifellos zu sein, worauf einmal aufmerksam gemacht werden muß: daß das Geschlechtsleben trotz der Undefinierbarkeit des Geschlechtsbegriffs wie alles Tun und Lassen der Menschen, so auch die Bildung der Sprache beeinflußt hat, nicht zuletzt die Formung des grammatischen Geschlechts. Zwar die Vermehrung der beiden natürlichen Geschlechter um ein drittes, das Neutrum (genas neutrum ist genaue Lehnübersetzung von griech. to oudeteron sc. genos), fällt offenbar mit der indianischen Unterscheidung zwischen belebten und unbelebten Wesen zusammen; es ist aber schon in diesem Falle beachtenswert, daß die Griechen ihre Liebste mit einem sächlichen Diminutivum anzureden pflegten, daß auch unsre Sprache mundartlich das Martha usw. zu sagen gestattet, daß das Weib, bei uns möglich wurde und Jahrhunderte hindurch (noch nicht im Mittelhochdeutschen) wirklich mit einem verächtlichen Nebensinn, wie ein Gebrauchsgegenstand, im Sinne des hottentottenschen Femininum. Kurz: Männer haben die Sprache geschaffen, Männer haben den grammatischen Geschlechtsunterschied geformt. Das zeigt sich deutlich an den weiblichen Formen[645] des griechischen Adjektivs, und ähnlich für schärfere Beobachtungen am weiblichen Adjektiv im Althochdeutschen und noch, im Neuhochdeutschen; das sogenannte Neutrum ist im Grunde nur ein unvollständiges Maskulinum; der Unterschied von Sache und Person wird nicht mehr hervorgehoben, und so mag sich das Neutrum an die bedeutendere Geschlechtsform angeschlossen haben; dafür wurde es eine Mode (die jetzt wieder langsam verschwindet, im Englischen und im Neupersischen beinahe völlig venschwunden ist), den natürlichen Geschlechtsunterschied in der Wortform auszudrücken; und so entstand das grammatische Geschlecht, das bald außer den Formen des Nomens auch die des Pronomens und selbst des Verbums beherrschte, und wie in einem Spiele der Analogie das Neutrum hinzu erfand. Man achte darauf, daß dieses Neutrum eigentlich auch im Französischen nicht fehlt, wenn es auch von der offiziellen Grammatik nicht anerkannt wird; le beau, l'absolu gehen auf alte griechische Neutra zurück, der Artikel le entspricht völlig dem griechischen to, auch ursprüngliche Feminina wie quelque chose, rien gewinnen so neutralen Charakter.

Sehen wir aber auch ganz vom Neutrum ab, das nur durch falsche Analogiebildung in den Verdacht kommen konnte, eine dritte Geschlechtsart zu sein, so bleibt doch die Trennung der Substantive nach den beiden natürlichen Geschlechtern eine unerträgliche Last für die Sprache. Eine Last auch für den, der den Gebrauch seiner Muttersprache ohne bewußte Anstrengung gelernt hat. Wo die Unterscheidung bei lebenden Wesen (beim Menschen selbst und bei den Haustieren) früh genug vom menschlichen Interesse vorgenommen worden ist, da wird Männchen und Weibchen sehr oft durch zwei ganz entlegene oder doch recht unähnliche Worte bezeichnet (Mann und Weib, Knabe und Mädchen, Hengst und Stute, Eber und Sau, Hahn und Henne usw. usw.); unwichtigere Beobachtungen des natürlichen Geschlechtsunterschieds werden dann analogisch so ausgedrückt, daß das schon vorher vorhandene maskulinische Wort für die Bezeichnung des Femininums irgend[646] eine Veränderung erfährt. Die Ausdehnung des Geschlechtsunterschieds auf die unbelebten Dinge läßt sich oft so erklären, daß bei einer Übersetzung das Geschlecht mitübersetzt worden sei; aber ein Sinn ist in die Geschlechtszuteilung an die Wörter nicht hineinzubringen. Man kann nicht andre und nicht bessere als historische Gründe dafür anführen, daß wir z.B. der Stamm, der Stempel, die Wurzel, die Rande, das Blatt, das Holz sagen müssen.

Es scheint mir ein aussichtsloses Unternehmen zu sein, wenn wir die Definition des Geschlechtsbegriffs in einer Sprache suchen wollen, die diesen Begriff so sinnlos auf ihre eignen Gestalten angewendet hat.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 21923, Band 1, S. 643-647.
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