Kraft

[233] Kraft – Seit Galilei sind die mechanischen Kräfte genauer und immer genauer qualitativ unterschieden und quantitativ gemessen worden; es ist kein Ausnahmefall, daß über der wissenschaftlichen Durchforschung der Details der Begriff selbst immer unklarer wurde und endlich eigentlich verloren ging. Diejenigen Physiker von heute, die sich auch auf ihrem Gebiete erkenntnistheoretischen Studien nicht verschließen, gebrauchen den Kraftbegriff nicht mehr mit gutem Gewissen. Sie wissen, daß die Kräfte nur Personifikationen sind für die immer unbekannten Ursachen, für die nach einem schlechten Menschenausdruck letzten Ursachen wahrnehmbarer Bewegungen. Wenn wir wüßten, was eine Ursache ist, so wüßten wir immer noch nicht, was eine Kraft ist. Die Einsicht in die Schwierigkeit des einst so vertrauten Kraftbegriffs ist seit dem Ende des 18. Jahrhunderts (d'Alembert) bis auf unsere Zeit immer bestimmter geworden.

Allgemein wird jetzt zugegeben, daß der Kraftbegriff seinen Ursprung genommen hat von dem Menschengefühl der eigenen[233] Muskelkraft. Wenn ich mit einer Anstrengung, die vorher als Wille und nachher als Ermüdung oder sonstwie ins Bewußtsein fällt, einen schweren Stein nach einem Ziele werfe, so ist meine Muskelkraft ganz gewiß die Ursache der Steinbewegung. Außer dem Willen, überhaupt zu werfen, außer der bestimmten Absicht, das Ziel zu treffen, außer der Feinarbeit aller Organe, die zum Zielen nötig ist (und deren wir uns selten bewußt werden), außer der nachfolgenden Befriedigung oder Enttäuschung, Ermüdung oder gesteigerten Spiellust habe ich in meinem Bewußtsein das ganz sichere Gefühl: meine Kraft hat den Wurf verursacht. Dieses Gefühl ist nicht zu eliminieren; nicht einmal durch die wissenschaftliche Überzeugung, daß keine Kraft als Rest übrig bliebe, wenn unsere Biologie erst imstande wäre, das Fortfliegen des Steins auf chemische Veränderungen in den Nerven und Muskeln als auf seine letzten Ursachen zurückzuführen.

Das Gefühl der eigenen Muskelkraft ist also eine normale Illusion, wie das Ichgefühl, wie der freie Wille normale Illusionen sind. (Vergl. Art. Illusion.) Dennoch scheint mir, daß ein Analogen der eigenen Muskelkraft, also eine Personifikation, in die Ursachen aller physischen Bewegungen mit besserem Rechte hineingelegt wird, als wenn man mit dem Panpsychismus allen Tieren, Pflanzen und unorganischen Körpern ein Ich und einen Willen zuschreibt. Es liegt nämlich ein Unterschied vor (um nur diesen Vergleich zu ziehen) zwischen den beiden Personifikationen: der der Kraft und der des Willens. Wir werden noch sehen, daß der Begriff der psychischen Kräfte, zu denen auch das Ichgefühl und der Wille gehören können, eine neue anthropomorphe Metapher ist, von dem Begriffe der physischen Kräfte hergenommen.

Ich will mir die Vergleichung zwischen dem Willensgefühl und dem Kraftgefühl nicht leicht machen und werde darum von dem Sprachgebrauche absehen, der Wille und Kraft geradezu in einen Gegensatz bringt, der auch dann von einem Willen redet, wo das Phantasiebild einer künftigen Handlung, wo der Wunsch gar nicht zur Ursache einer Veränderung werden kann. Wo der Soldat an der Grenze der Möglichkeit, wo der ermüdete[234] oder unbegabte Schüler sagen oder doch denken darf: »Ich möchte gern! Ich will, aber meine Kraft genügt nicht!« – da wird das Wort wollen schon in uneigentlichem Sinne gebraucht, da findet sich im Selbstbewußtsein kein richtiges Willensgefühl vor. Der Wille ist die psychische Begleiterscheinung wirklichen Handelns, ist die innere Seite einer Kraftäußerung und erscheint uns nur darum als Ursache dieser Kraftäußerung, weil der Willensakt das Bild der künftigen Handlung ist, der Handlung also vorausgeht, und weil das notwendig zeitliche Prius eben die Ursache einer Änderung genannt zu werden pflegt. Der überaus schwierige Begriff der Möglichkeit spielt wunderlich genug in diesen Sprachgebrauch hinein, weil die normale Illusion des Willensgefühls in uns die viel gröbere Täuschung eines freien Willens erzeugt hat. Die Worte wenigstens zu verbinden gestattete. Die Täuschung der Willensfreiheit gestattet uns Sätze wie: Ich möchte, was nicht möglich ist. Die Möglichkeit ist aber ein rein logischer Begriff, der in der Wirklichkeitswelt keinen Platz hat.

Der Willensakt ist also die innere Seite eines Kraftaktes, seiner Kraftäußerung; ist also z.B. meine Muskelkraft die zureichende Ursache eines Steinwurfs, so ist der Wille zu diesem Steinwurf nur die psychische Begleiterscheinung meiner Kraftäußerung, nur die innere Seite eines einzigen Vorgangs; und der Steinwurf ist durch meine Muskelkraft so restlos verursacht, daß für meinen Willen als eine Ursache nichts zu bewirken übrig bleibt. Will ich meinen Willen durch eine Richtungsänderung meiner Aufmerksamkeit zur Ursache des Steinwurfs machen, so muß ich die andere Seite des einzigen Vorgangs ausschalten, so muß ich die physische Ursache des Vorgangs annullieren.

Der Wille ist also eine psychische Erscheinung, die psychische Begleiterscheinung einer Handlung, also eine subjektive Erscheinung, einzig und allein im sogenannten Selbstbewußtsein des Menschen zu beobachten, einzig und allein in der Sprache der Menschenpsychologie zu benennen. Die Kraft dagegen ist eine objektive Erscheinung, ist in der Natur objektiv zu beobachten, in der Sprache zu benennen, die uns in der objektiven[235] Welt orientiert. In dem Sinne der Wirklichkeit oder Wirksamkeit sind die physischen Kräfte auch dann noch objektiv, wenn weder die Kräfte noch ihre Träger wahrnehmbar sind. Wasserkraft ist ein ungenauer Ausdruck für die Energie einer Wassermasse, die aus natürlichen Ursachen von einem höheren Niveau auf ein niedrigeres fällt; auf das Wasser kommt es gar nicht an, weil ein Sturz von Quecksilber oder von Sand, wenn er in der Natur dauernd vorkäme, noch wertvoller wäre als ein Wasserfall. Aber irgend eine Substanz ist der wahrnehmbare Träger der Lagenenergie, die wir eine Kraft nennen; die Kraft selbst, die Ursache so vieler Bewegungen, ist ein bildlicher Ausdruck, hängt von der fast undefinierbaren Relation oben und unten ab, ist aber dennoch objektiv, ist nicht psychisch. Die Wasserkraft ist das lehrreiche Urbild aller Kräfte; es gibt nur Lagenenergien. Bei der Wärmekraft ist die eigentliche Kraft, die Molekularbewegung, jeder Beobachtung unzugänglich; wir können aber die sogenannte Wärme, die durch den Fall von einem höheren Niveau auf ein niedrigeres Arbeit leistet, recht gut den Träger dieser Kraft nennen, und diese Wärme ist wahrnehmbar; wir haben in diesem Falle nicht zwei verschiedene Wörter für den Träger und für die Kraft; Wärme und Wärmekraft aber sind objektiv, sind nicht psychisch. Bei den Erscheinungen der Elektrizität usw. ist weder die Kraft noch irgend ein Träger direkt wahrnehmbar, man wollte denn ganz brutal das Metall, den sogenannten Leiter, zum Träger machen, dergestalt, daß man analog das Flußbett zum Träger der Wasserkraft machen müßte, dennoch ist auch in diesem Falle die Kraft objektiv, nicht psychisch. Man hüte sich nur davor, Gedankendinge und psychische Begriffe um deswillen miteinander zu verwechseln, weil Gedankendinge immer Vorstellungen sind und weil Vorstellungen von der Psyche bearbeitet werden. Der Willensakt ist im sogenannten Selbstbewußtsein vor jeder psychischen Bearbeitung zu finden; die Kräfte sind Gedankendinge, sind Abstraktionen, sind Bilder, wie man will; sie werden nur vorgestellt; aber sie können nicht anders vorgestellt werden als objektiv. Und jetzt glaube ich es deutlich sagen zu können, weshalb[236] die Übertragung des menschlichen Kraftgefühls auf die übrige Natur so viel richtiger oder bequemer ist als die Übertragung des menschlichen Willensgefühls auf die übrige Natur. Der Wille ist eine ausschließliche menschliche Erfahrung, ist ausschließlich anthropologisch; die Kräfte sind anthropomorph. Der Willensbegriff war nur vom Menschen herzunehmen und kann (wie der Seelenbegriff) nur mit einer verwegenen Metapher auf die andre organische Natur oder gar auf die unorganische angewandt werden. Der Kraftbegriff hätte recht gut von irgend einer äußeren Naturkraft, z.B. von der Schwerkraft, seinen Ausgang nehmen können, da doch die Menschen ganz gewiß ziemlich früh den Fall der Körper beobachtet hatten, die populäre Erscheinung der Schwere (zunächst mit falschen Messungen oder Gesetzen) als Ursache der Fallbewegung erkannt hatten. Wäre es so gekommen, so wäre der Kraftbegriff vielleicht freier von allerlei mystischen, willensähnlichen Vorstellungen, und die Naturwissenschaft hätte heute nicht nötig, den an allerlei Aberglauben erinnernden Kraftbegriff durch den etwas gesäuberten Energiebegriff zu ersetzen. Aber die kindliche Menschheit liebte das Personifizieren beinahe noch mehr als die heutige, die sich für erwachsen hält. Wie ein menschenähnliches Wesen Blitz und Donner schickte, so mußte auch eine menschenähnliche Muskelkraft dem Steine den Impuls zu seinem Falle geben. Die kindliche Vorstellung sah keinen Unterschied zwischen dem geworfenen Steine und dem fallenden Steine. So wurde die Muskelkraft zum Urbilde aller Kräfte; und nach Jahrtausenden haben wir gelernt, daß zwischen dem geworfenen Steine und dem fallenden Steine wirklich nur ein meßbarer, ein ziffernmäßig meßbarer Unterschied besteht. Dem geworfenen Steine wird von der Muskelkraft ein einmaliger Impuls mitgeteilt; dem fallenden Steine wird von der fortdauernden Schwerkraft eine Beschleunigung mitgeteilt.

Wer sich nun jemals mit den Anstrengungen beschäftigt hat, die die neueren Physiker machten, um ihre eigenen Begriffe zu definieren, der wird mit mir erfahren haben: daß gerade für die erkenntnistheoretisch geschulten Physiker der ursprüngliche[237] Kraftbegriff verschwunden, der neue Kraftbegriff noch nicht gefunden ist. So wird in den verschiedenen Definitionen des Kraftbegriffs von einem Verhältnisse der Kraft und der Masse zu der Beschleunigung ausgegangen; es wird also, da doch eine Beschleunigung erst die Folge einer dauernden Kraft ist, bei diesen Definitionen von der Muskelkraft, die nicht so leicht eine Beschleunigung erzeugen kann, ganz abgesehen. Bei den Definitionen selbst scheint es nun gar ganz der Willkür überlassen zu sein, ob man die Masse als den zugänglicheren Begriff auffaßt, und nachher die bis dahin unbekannte Kraft das Produkt aus Masse und Beschleunigung nennt, oder ob man die Kraft als bekannt voraussetzt und nun die Masse den Quotienten aus Kraft und Beschleunigung nennt. Weiter ergeben sich Schwierigkeiten, wenn man zwischen der Masse und dem Gewicht eines Körpers begrifflich unterscheiden will; die Maßeinheiten sind ohnehin die gleichen. Endlich definiert die Physik die Kraft als das Produkt aus Masse und Beschleunigung, also als ein Produkt aus einem Körpermaß und einem Bewegungsmaß, aus einem Raummaß und einem Zeitmaß; zu gleicher Zeit ist die neuere Physik geneigt, auch die Raumerscheinungen der Körper (man denke vor allem an die Ausdehnung durch Wärme) auf Bewegungen zurückzuführen, also von der Zeit abhängig zu machen. Die kinetische Körpertheorie, zu der man die kinetische Wärmelehre ausgestalten will, würde demnach von den beiden Begriffen, auf welche sich die Definition der Kraft stützt (Masse und Beschleunigung), den einen zugunsten des andern eliminieren, Masse und Beschleunigung auf Bewegung zurückführen, also die Kraft zu einer Funktion der Bewegung machen. Wie denn auch die alte Lehre von der Erhaltung des Stoffs der neuem Lehre von der Erhaltung der Kraft hat weichen müssen, wofür man heute lieber Erhaltung der Energie sagt und morgen Erhaltung der Bewegung sagen wird.

Gegenüber solchen Begriffsschwierigkeiten kommt es auf die Herkunft und den Bedeutungswandel der Wörter Kraft, force sehr wenig an; wie denn überhaupt die Begriffe der Naturwissenschaften den Begriffen der Geisteswissenschaften gegenüber[238] eine viel geringere Stabilität haben, im guten und im bösen Sinne: sie werden nicht gedankenlos beibehalten, und sie bleiben selten lange in Geltung. Ich darf darum die Herleitungen des Wortes Kraft aus greifen, dann aus dem angeblich entsprechenden Sanskritworte übergehen; ebenso die Kuriosität, daß craft im Englischen das Handwerk, die Geschicklichkeit, dann aber die List und die Freimaurerei bedeuten kann. Noch viel kurioser ist eine Notiz Hildebrands (D.W.V. Sp. 1932), nach der Kraft ursprünglich eine Fleischgabel bedeutete, eine Krapfe, einen Haken: so recht die Substantivierung adjektivisch allein wahrnehmbarer Wirkungen.

Die spätere Wortgeschichte ist bekannt: wie Kraft zur Übersetzung von virtus dient, wie die sog. Seelenvermögen Kräfte genannt werden; sodann von den Kräften, heilenden besonders, der Kräuter, Steine und Sterne gesprochen wurde. So wurde Kraft eine Zeitlang zur Bezeichnung für das Wesen einer Sache (fünfte Kraft = quinta essentia), und war in Gefahr, wie einst is(vis) bei Homeros, zu einem leeren Füllworte herabzusinken (z.B. kraterê is Odysêos für Odysseus selbst). Und man muß schon genauer hinhören, um zu bemerken, daß es in der präzisen Sprache der Naturwissenschaft am Ende doch ebenso weit gekommen ist. Wie mir is Odysêos nicht mehr bedeutet als der Name eines Helden, dessen Kraft seine wesentliche Eigenschaft ist, – so bedeutet mir Kraft der Bewegung schließlich nicht mehr als der einfache Begriff Bewegung, der ja zunächst die Wirkung einer fremden Ursache oder Kraft bezeichnet; dann aber auch selbst eine neue Ursache oder Kraft, weil jede Bewegung in irgendeiner neuen Form erhalten bleibt.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 21923, Band 2, S. 233-239.
Lizenz:
Faksimiles:
233 | 234 | 235 | 236 | 237 | 238 | 239
Kategorien:

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Bozena

Bozena

Die schöne Böhmin Bozena steht als Magd in den Diensten eines wohlhabenden Weinhändlers und kümmert sich um dessen Tochter Rosa. Eine kleine Verfehlung hat tragische Folgen, die Bozena erhobenen Hauptes trägt.

162 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon