Kraft [1]

[551] Kraft, in der Naturlehre die Ursache, die man zur Erklärung einer Erscheinung, genauer der Umwandlung von irgend einer Energie (s. d.) in eine Bewegungsenergie oder umgekehrt annimmt. Begreiflich ist nämlich eine Erscheinung für uns nur dann, wenn wir sie (wenigstens in Gedanken) durch unsre eigne Muskelkraft hervorrufen können. Wir fühlen die Wirkung dieser K., wenn wir z. B. einen Wagen ziehen und gelangen hierdurch zu der Vorstellung, daß, wenn etwa ein Pferd oder eine Maschine den Wagen zieht, eine gleiche K. tätig sein müsse, obschon die Maschine sicher keine Empfindung der Kraftwirkung haben kann. Ebenso fühlen wir die Kraftwirkung, wenn wir einen bewegten Wagen zur Ruhe bringen und betrachten ebenso die Wirkung der Pufferfeder beim Anstoßen eines Wagens an einen Prellbock als Wirkung einer besondern K., der Elastizität. Eine K. ist nach Newton bestimmt, wenn ihr Angriffspunkt, ihre Richtung und ihre Größe (Stärke) gegeben sind. So nehmen wir z. B. als Ursache des Fallens der Körper die Schwerkraft an; ihr Angriffspunkt ist der Schwerpunkt des fallenden Körpers, ihre Richtung geht lotrecht nach abwärts (d. h. in gerader Linie dem Mittelpunkt der Erde zu). Ihre Größe bestimmt sich nach dem Gesetz, daß sich zwei Kräfte in ihrer Wirkung nicht stören (Gesetz der Superposition), daß also zwei Kilogrammstücke mit der doppelten K. von der Erde angezogen werden etc., wobei sich allerdings die Schwierigkeit ergibt, daß sich die Schwere eines Kilogrammstücks mit dem Ort auf der Erde ändert. Als wissenschaftliche Krafteinheit dient deshalb nicht wie in der Technik das Gewicht eines Kilogramms, sondern die Dyne, d. h. eine K., die einem Grammstück die Geschwindigkeit 1 cm in 1 Sekunde erteilt. An Orten mittlerer geographischer Breite beträgt das Gewicht eines Kilogramms 981,000 Dynen, gegen die Pole hin wird es größer, gegen den Äquator kleiner. Ebenso wie unsre Muskelkraft von unsrer Person ausgeübt wird, müssen wir für jede K. einen Träger annehmen, ein Agens, das sie ausübt. In manchen Fällen ist ein solcher nicht sichtbar, z. B. bei elektrischen und magnetischen Kräften, so daß man weiter zu der Vorstellung unsichtbarer Agenzien (Elektrizität, Magnetismus) geführt wird. Jede K. wirkt nach zwei entgegengesetzten Richtungen mit gleicher Stärke (Gesetz der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung). Das explodierende Pulver in einer Kanone bewegt nicht nur das Geschoß, sondern auch das Geschütz (Rückstoß); ein fallender Stein zieht die Erde mit gleicher K. gegen sich heran; wird ein Stein mit einer Schleuder im Kreise geschwungen, so zieht die[551] elastische Spannung der Schnur den Stein gegen den Kreismittelpunkt hin (Zentripetalkraft), die Hand selbst von demselben fort (Zentrifugalkraft); stoßen zwei mit gleicher Geschwindigkeit aus entgegengesetzten Richtungen kommende Eisenbahnwaggons zusammen, so werden beide durch die elastische K. der Puffer nach entgegengesetzten Richtungen auseinandergetrieben; schiebt ein Arbeiter einen Wagen, so treibt er gleichzeitig mit den Füßen die Erde nach der entgegengesetzten Richtung. Wäre der Wagen gebremst, so daß er sich nicht bewegen kann, so hätte man Gleichgewicht, d. h. die K. des Arbeiters würde durch elastischen Gegendruck gehemmt. Kann sich der Wagen bewegen, so macht sich zwar auch ein solcher Widerstand, der Trägheitswiderstand, geltend, es besteht indes kein Gleichgewicht, derselbe ist also wohl zu unterscheiden von einer einwirkenden oder treibenden K. und heißt geweckte oder induzierte K. Unsre Muskelkraft kann nur durch Berührung wirken, andere Kräfte, wie Schwerkraft (Gravitation), elektrische und magnetische K., können anscheinend auch durch den absolut leeren Raum in die Ferne wirken (Fernkräfte). Bezüglich der beiden letztern ist indes von Hertz der Nachweis geführt worden, daß sie in Wirklichkeit durch ein unsichtbares, auch im anscheinend leeren Raum vorhandenes Medium, den Äther, übertragen werden, und daß die Wirkung mit endlicher Geschwindigkeit im Raume fortschreitet, nämlich daß ein in 300,000 km Entfernung befindlicher Körper erst nach einer Sekunde von der Wirkung der K. erreicht wird, ähnlich wie ein Stoß auf ein eisernes Gestänge in diesem nur mit endlicher Geschwindigkeit (3500 m in einer Sekunde) fortschreitet. Vielleicht gilt ähnliches auch von der Gravitation. Beispielsweise wirken zwei dicht aneinanderliegende gleiche, entgegengesetzte Magnetpole nicht auf einen dritten, um 5 m entfernten. Nimmt man nun den einen weg, so tritt die Wirkung hervor, aber nicht sofort, sondern erst nach 5/300000000 Sekunde. Während nach Newton sowohl von der Erde wie von dem Mond als Kraftzentren eine nicht von der andern abhängige Kraftstrahlung in den Raum hinausgeht, gibt es nach Faraday keine solche Kraftzentren, sondern nur Kraftfäden (Kraftlinien), vergleichbar gespannten Muskeln, die ebenso wie diese zwei Angriffspunkte haben. In der Tat ist nach Newtons Auffassung nicht zu verstehen, weshalb die Anziehung des Mondes auf die Erde dieselbe ist wie die der Erde auf den Mond. Daß ein Angriffspunkt für die Kraftwirkung nicht genügt, erläutert drastisch der Spruch von Archimedes, er wolle die Welt aus den Angeln haben, wenn ihm ein zweiter Angriffspunkt gegeben würde. Unsre Person ist unteilbar. Die eigentlichen Träger der K. stellen wir uns deshalb ebenfalls unteilbar vor, es sind die Atome (das Wort bedeutet unteilbare Partikelchen). Eine gespannte Feder z. B. wird aus Atomen oder Gruppen solcher (Molekülen) zusammengesetzt gedacht, von denen jede auf die nächsten Kraftwirkungen ausübt. Beim Zerreißen eines Körpers werden diese Molekularkräfte überwunden (s. Kohäsion). Über ihre Natur ist wenig bekannt. Die Existenz flüssiger Kristalle läßt erkennen, daß dabei elektrische oder magnetische Kräfte beteiligt sein müssen. Jedenfalls vermögen diese Kräfte nur aus äußerst kleine, kaum meßbare Entfernungen zu wirken.

Über Elektromotorische K. s. d.; magneto-motorische K., s. Magnetismus; lebendige K., s. Energie, S. 775; über Einheit der Naturkräfte s. Energie, S. 780.

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Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 11. Leipzig 1907, S. 551-552.
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