Kraft [1]

[645] Kraft, im allgemeinsten Sinne die unbekannte Ursache einer Erscheinung; in der Mechanik insbesondere der Bewegungsänderung einer trägen Masse.

Nach dem Galileischen Trägheitsgesetz haben wir für die Fortdauer der geradlinigen gleichförmigen Bewegung eines Massenpunktes keine Kraft anzunehmen, nur für die Veränderung der Bewegung. Geschieht diese allmählich, so setzen wir die Wirkung einer kontinuierlichen Kraft voraus, deren Größe gleich dem Produkt aus der Masse des Punktes und der Beschleunigung ist. Ihre Richtung wird durch die Richtung der Beschleunigung gegeben. Aendert sich die Geschwindigkeit des bewegten Punktes plötzlich, sei es nach Größe oder[645] Richtung, so sehen wir darin die Wirkung einer Momentankraft (Stoßkraft), deren Größe gleich dem Produkt aus der Masse des bewegten Punktes und der erfahrenen Geschwindigkeitsänderung ist, während die Richtung der Momentankraft durch die Richtung der eingetretenen Geschwindigkeitsänderung bestimmt wird. Dabei faßt man die Geschwindigkeitsänderung (ebenso wie die Beschleunigung) als geometrische Differenz der Geschwindigkeiten vor und nach der Aenderung auf. Mit dieser dynamischen Definition ist aber der Inhalt des Begriffes Kraft in der Mechanik noch nicht erschöpft. Aus metaphysischen wie aus Erfahrungsgründen setzen wir die Kräfte als dauernde, von der Zeit unabhängige, unter gleichen Umständen stets gleichwirkende Ursachen voraus. Tritt nun in einem Falle, wo nach Lage der Dinge die Wirkung einer Kraft zu erwarten ist, diese nicht oder nicht in dem erwarteten Umfang ein, so nehmen wir die Wirkung einer oder mehrerer weiterer Kräfte an, welche die Wirkung der ersten aufheben oder verändern. Eine Kraft P2, welche die Wirkung einer gegebenen Kraft P1 voll aufhebt, wird als mit ihr gleichgroß und entgegengesetzt gerichtet vorausgesetzt (P2P1 = 0). Hebt die Kraft P2 die Wirkung von P1 nicht auf, entsteht vielmehr eine Wirkung, die einer einzigen Kraft P3 entspräche, so wird: P2P1 = P3 oder P2 = P1 + P3 gesetzt, wobei die Addition bezw. Subtraktion geometrisch gemeint ist. Das gibt die Grundlage der statischen Vergleichung der Kräfte. Fast immer setzt man von den Kräften außerdem voraus, daß sie ihren Sitz in trägen Masten haben, d.h. von solchen ausgehen, wie sie auch auf solche wirken. Dann gilt noch das Gesetz von Aktion und Reaktion. Nach diesem treten stets zwei in der Verbindungslinie der beiden Masten wirkende gleichgroße, aber entgegengesetzt gerichtete Kräfte auf, die den Masten entgegengesetzt gerichtete Beschleunigungen erteilen, welche der Größe der Massen umgekehrt proportional sind.


Literatur: Mach, E., Die Mechanik in ihrer Entwicklung, 4. Aufl., Leipzig 1901; Voß, A., Die Prinzipien der rationellen Mechanik, Encyklopädie der mathem. Wissensch., Bd. 4, 1. Heft, Leipzig 1901.

Finsterwalder.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 5 Stuttgart, Leipzig 1907., S. 645-646.
Lizenz:
Faksimiles:
645 | 646
Kategorien: