Mathematische Naturerklärung

[307] Mathematische Naturerklärung – So oft von hoher Warte die Unvergleichlichkeit unserer gegenwärtigen Wissenschaft gepriesen wird, welche das Gebäude aller Erkenntnis auf einer mathematischen Grundlage errichtet habe, ebenso oft wird ein Wort Kants zitiert, das die mathematische Methode als die einzig richtige zu empfehlen und wenigstens für die Naturwissenschaften die jetzige Behandlungsart zu verherrlichen scheint. Kant sagt (in der Vorrede zu der 1786 veröffentlichten Schrift »Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft«): »Ich behaupte, daß in jeder besondern Naturlehre nur soviel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist.« Übersehen wird bei diesem Wanderzitat, daß Kant ein andermal deutlich genug erklärt hat, ein Newton des Grashalms, also ein Mathematiker der Lebenserscheinungen, sei noch nicht gefunden; übersehen wird auch, daß die zitierte Stelle von Kant ganz anders gemeint ist, als die Vertreter der mechanistischen Weltanschauung[307] sie verstehen müssen. Er nennt die Vernunfterkenntnis durch Konstruktion der Begriffe mathematisch; diese Erkenntnis setzt er der a priori philosophischen Erkenntnis entgegen. Er scheint mir also mit seinem Satze, der den Mathematikern so anmutig klingt, nur sagen zu wollen, daß die reine Vernunft allein über Naturdinge nichts aussagen könne; es wird noch dazu erfordert, »daß die dem Begriffe korrespondierende Anschauung a priori gegeben werde, d. i. daß der Begriff konstruiert werde.« Weit entfernt also, die Biologie oder gar die Psychologie auf mathematische Formeln bringen zu wollen, hat Kant da ahnungsvoll vor jener ganz anders konstruierenden Naturphilosophie gewarnt, die noch bei seinen Lebzeiten die deutsche Wissenschaft kompromittieren sollte. Mich will aber bedünken, daß Kants Warnung unglücklich genug an den Begriff Konstruktion anknüpfte; was Kant darunter verstand, das ging über die Empirie hinaus, das forderte von der mathematischen Darstellung ungefähr ein Schema; die Naturphilosophie konnte sich darauf berufen, daß auch sie ihre Begriffe nach einem Schema konstruierte, das von einigen Erfahrungen abgezogen war.

Mit besserem Rechte, als die Vertreter der mechanistischen Weltanschauung sich auf Kant berufen, könnten sich ihre wenigen ernst zu nehmenden Gegner auf Goethe berufen, der von seiner Jugend an bis zum Greisenalter nicht müde wurde, das Eindringen der Mathematik in die Naturbeobachtung zu bekämpfen. In Vers und Prosa, mit Zorn und mit Hohn wehrt sich Goethe gegen das Vordringen der Mathematiker. Man sieht: Kant war als Naturforscher ein Fortsetzer von Newton, Goethe ein Antipode. Ich zitiere als Beispiel aus unzähligen Stellen nur die folgende, die (wenn man sie mit dem vorausgehenden Spruche, von dem sie die Herausgeber losgerissen haben, als ein Ganzes betrachtet) darauf hinweist, daß Goethe seine Farbenlehre ebenso für eine Copernikanische Tat hielt, wie Kant seine Kritik der reinen Vernunft. »Newton, als Mathematiker, steht in so hohem Ruf, daß der ungeschickteste Irrtum, nämlich, das klare, reine, ewig ungetrübte Licht sei aus dunkeln Lichtern zusammengesetzt, bis auf den heutigen Tag sich erhalten hat; und sind es nicht[308] Mathematiker, die dieses Absurde noch immer verteidigen und gleich dem gemeinsten Hörer in Worten wiederholen, bei denen man nichts denken kann?« (Sprüche i. Pr. 994).

Und da ich schon Autoritäten für und gegen die Hegemonie der Mathematik angeführt habe, will ich gleich einen weit verbreiteten Irrtum berichtigen, als ob nämlich Spinoza und vor ihm schon Descartes Vertreter der mathematischen Methode gewesen wären, weil sie ihre Philosophien und deren Beweise more geometrico vorzutragen versprachen; bei der neuern Anwendung der Mathematik auf die Wissenschaften handelt es sich nicht mehr um die bloße Beweisform und um die Anordnung des Gedankengangs, sondern um die Frage, ob der Kalkül auf die Beobachtungen angewandt werden könne oder nicht.

Dennoch besteht ein historischer Zusammenhang zwischen diesen Bestrebungen namentlich Descartes und der modernen Tendenz, alle Wissenschaften auf Mathematik zu gründen. Zur Zeit des Descartes hatte eben Galilei die Mechanik zuerst auf genaue rechnerische Grundlage gestellt und eigentlich dem höhern Kalkül die neuen Aufgaben gesetzt; Descartes selbst hatte mit außerordentlichem Scharfsinn die Geometrie von der anschaulichen Konstruktion befreit und dem Kalkül unterworfen. Und das führt mich auf den Punkt, auf welchen ich allein die Aufmerksamkeit lenken möchte.

Das Wort Mathematik ist nur durch einen zufälligen Bedeutungswandel dazu gekommen, die Größenlehre zu bezeichnen; zuerst bedeutete es das Wissen überhaupt, dann durch Jahrhunderte die Astrologie; jetzt begreift man unter Mathematik allgemein Größenlehre und Meßkunst, also den niedern oder höhern Kalkül und die Geometrie, obgleich feinere Köpfe längst erkannt haben, daß Geometrie bereits angewandte Mathematik sei. Reine Mathematik hat es nur mit Quantitäten zu tun, Geometrie behandelt Qualitäten des Raumes, und auch die rein mathematischen Sätze der analytischen Geometrie sind nicht vorstellbar, wenn man Raumanschauungen nicht zu Hilfe nimmt. Meßkunst ist angewandte Mathematik; aber die ganze Größenlehre ist ja doch nur im Dienste der Meßkunst erfunden worden. Und unsere Frage[309] dreht sich etwa seit Descartes nur darum, welche Qualitäten in Quantitäten ausgedrückt werden können, welche Qualitäten gemessen, also in mathematischer Form dargestellt werden können. Die Qualitäten des Raumes und die der Bewegung ließen sich nach Erfindung des höheren Kalküls so restlos in mathematischen Formen ausdrücken, also in Quantitäten, daß die Mathematiker wie von einem Siegesrausche ergriffen wurden und, wie Mach das einmal ausgedrückt hat (Analyse der Empfindungen3 S. 67), daß »Philosophen, Psychologen, Biologen und Chemiker physikalische Begriffe in so freier Weise auf die weitesten Gebiete anwenden, wie dies der Physiker auf seinem eigenen Gebiete kaum wagen würde«. Noch sannen die größten Mathematiker mit nie zuvor erlebter Künheit über die Prinzipien der Größenlehre und der Raumlehre nach, noch war es kaum in das Bewußtsein der Gelehrten eingedrungen, daß die seit Jahrtausenden angenommene Geometrie nur eine unter mehreren möglichen Geometrien war, daß die geltende Geometrie nur die für die Menschen vorteilhafteste und bequemste Geometrie war, – und schon hofften mechanistische Physiker mit dieser Größenlehre und Raumlehre bis zum Ding-an-sich vorzudringen, vor allem den Kalkül auf die Psychologie und auf die Geschichtswissenschaft anwenden zu können.

Die glänzenden Leistungen, mit denen die Anwendung der mathematischen Methode auf die Physik zu Beginn des 17. Jahrhunderts in die Welt getreten war, ließ bald so kühne Hoffnungen fassen. Der Kalkül lernte die gleichmäßigen und die ungleichmäßigen Bewegungen beherrschen, und als die Aufgaben der Mechanik dem Kalkül selbst neue rein mathematische Aufgaben stellten, wurden auch diese von Descartes, Fermat, Newton und Leibniz in staunenswürdiger Weise gelöst. So schien es immer weiter gehen zu wollen: die Naturwissenschaften übergaben ihre Probleme der Mathematik zur Bearbeitung, und die Mathematik hatte sich den neuen Problemen anzupassen. Die Erfolge auf dem Gebiete der Mechanik, insbesondere der Mechanik der Gestirne, waren gewaltig. Aber auch darüber hinaus entwickelte sich die alte empirische Physik, die Lehre vom Schall, von der Wärme, vom Lichte, von der Elektrizität zu einer neuen theoretischen[310] oder mathematischen Physik, deren praktische Ergebnisse besonders in den letzten Jahrzehnten zu wahrhaft märchenhaften Erfindungen geführt haben. Beinahe noch mehr wurde die Chemie durch Anwendung der mathematischen Methode revolutioniert; und als es da gelang, die Eigenschaften noch niemals wahrgenommener Stoffe, deren Herstellung man von der chemischen Synthese erwartete, auf Grund mathematischer Proportionen vorauszusagen (so wie es der Astronomie gelungen war, Ort und Größe eines noch nicht wahrgenommenen Planeten zu berechnen), da kannte der Jubel keine Grenzen, und der Sieg der mathematischen Methode in allen Naturwissenschaften schien entschieden; denn wie in der anorganischen Chemie, so mußte es auch in der organischen Chemie gelingen, und auf die organische Chemie begründete die mechanistische Weltanschauung vorschnell die Erscheinungen des Lebens, des Empfindens und des Denkens.

Man übersah bei dieser Siegeszuversicht den Umstand, daß die absolute Gewißheit der mathematischen Sätze für die angewandte Mathematik nicht mehr gilt; sind nicht alle Vorfragen gelöst, sind die Größen nicht durch unabhängig bestimmte Maßeinheiten genau gezählt, so kann von einer Gewißheit der rechnerischen Ergebnisse keine Rede sein. Wir haben es dann mit einer vorläufigen Anwendung der Mathematik zu tun, die freilich, wie die Anwendung von Hypothesen, einen an sich wunderbaren heuristischen Wert haben kann. Man sieht es am deutlichsten an der theoretischen Chemie, wo die Hypothese des Atomismus die Anwendung des Kalküls erst möglich machte, und wo die oft ganz unvorstellbare Hypothese, daß die Stoffe nur nach Zahl und nach räumlicher Anordnung der Atome verschieden seien, dennoch zu neuen Entdeckungen geführt hat. Wir können also sagen: die Anwendbarkeit der Mathematik auf die Physik ist eine vorläufige Hypothese, die sich vorzüglich bewährt hat; aber das Operieren mit solchen vorläufigen Hypothesen widerspricht eigentlich dem Geist der Mathematik. Für die Vertreter der reinen Mathematik muß es zu gleicher Zeit etwas Beschämendes und etwas Aufreizendes haben, daß z.B. auf dem Gebiete der Optik, der Elektrizitätslehre und der Chemie die Rechnungsergebnisse[311] oft bestehen blieben, nachdem die Prinzipien dieser Wissenschaften gewechselt hatten; man könnte fast auf den verwegenen Gedanken kommen: es gibt in der anorganischen Natur eine Ordnung für sich, unabhängig von dem menschlichen Ordnungsbedürfnisse, unabhängig von den menschlichen Maßeinheiten. Ich fürchte, der eine oder der andere Leser wird den Gedanken gar nicht verwegen finden. (Vgl. Art. messen.)

Nun wollte aber die mechanistische Weltanschauung nicht auf halbem Wege stehen bleiben und war so vermessen1, die mathematische Methode auch auf die Physiologie der Sinnesorgane, auf die Psychologie und sogar auf die verwickeltsten psychologischen Erscheinungen, auf die geschichtlichen Ereignisse anwenden zu wollen. Wieder stellten die Beobachtungen der Mathematik neue Probleme; aber die Mathematik versagte. Mußte versagen, weil Maßeinheiten für psychische Erscheinungen nicht vorhanden sind. Psychische Qualitäten lassen sich nicht in physische Quantitäten übersetzen. Ich will das für jedes der drei Gebiete ganz kurz zu exemplifizieren suchen.

Für die Sinnesempfindungen hat man ein Gesetz aufgestellt, mit welchem eine ganze neue Disziplin, die Psychophysik, ihren Anfang zu nehmen schien: die Ordnungszahl der Empfindungen wächst proportional dem Logarithmus der Reizintensität. Zum Reize wird aber eine äußere Veränderung erst dadurch, daß ein lebendiges Organ ihr antwortet (vergl. Art. Leben), wir können also weder den Teil einer gemessenen Intensität messen, der von[312] dem Organ verarbeitet worden ist, noch können wir die Antwort auf den Reiz, die Empfindung, durch eine unabhängige Maßeinheit messen; von einer zahlenmäßigen Genauigkeit ist nicht die Rede, und man wird einmal über das Weber-Fechnersche Gesetz so überlegen lächeln, wie Fechner über die Sinnesphysiologie der Engel gespottet hat.

Die Psychophysik ist – wie gesagt – eine ganze Disziplin geworden und hat namentlich das Spiel der Assoziationen der Rechnung zu unterwerfen gesucht. Sieht man aber genauer zu, so wird dabei im Sinne der Mathematik höchstens eine Nebenerscheinung gemessen und verglichen, die bei psychischen Erscheinungen verbrauchte Zeit nämlich. Kein Chemiker glaubt aber das Wesen chemischer Verwandlungen dadurch erkannt zu haben, daß er neuerdings genauer als früher die bei den chemischen Prozessen verbrauchte Zeit in Betracht zieht. Streicht man aus der Psychophysik aber die mit den verschiedensten Kniffen annähernd und im Durchschnitt erlangten Zeitangaben, so bleibt von der Psychophysik nicht viel Mathematisches übrig.

Nicht viel besser steht es um die Anwendung der Statistik oder der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf die Geschichte. Es liegt im Wesen der Statistik, daß ihre sogenannten Gesetze nur für große Zahlen gelten; für den Einzelfall, für den Willensentschluß eines Königs oder eines Rebellen, der die historischen Ereignisse geleitet hat, ist die zahlenmäßige Unterlage der Geschichte ohne Bedeutung. Und die Wahrscheinlichkeitsrechnung hat uns gelehrt (vergl. Art. Geschichte), daß die Berichte über reale Veränderungen immer in hohem Grade glaubhafter sind, als Berichte psychologischer Vorgänge in den Seelen der Männer oder Frauen, welche die Geschichte gemacht haben.

Um das bisher Gesagte noch kürzer zusammenzufassen: eine mathematische Begründung oder Versinnbildlichung ist nur in denjenigen Wissenschaften möglich, auf welche sich noch mit einiger Vorstellbarkeit die Hypothese oder das Bild des Atomismus anwenden läßt. Und das ist fast ein selbstverständlicher Satz. Die Zahlen, auf deren. Erfindung doch die ganze Mathematik beruht, und die Atome sind – bis auf einen Punkt, auf[313] den ich gleich zurückkomme – Gedankendinge von ganz ähnlichen Eigenschaften; unser Zahlensystem gestattet es durch die Erfindung der Dezimalbrüche, die Maßeinheit selber wieder unbeschränkt zu verfeinern, die Reihe der diskreten Zahlen bis an die Grenze einer stetigen Linie zu bringen; ebenso hat die Entwicklung des Atombegriffs die Teilung der Stoffe unbeschränkt fortgeführt, bis der Streit um die Frage, ob ein Körper und ob der Raum aus diskreten Teilen bestehe oder ein Kontinuum sei, zu einem Wortstreit geworden ist; und das unendlich Kleine ist für den Atomismus der gleiche Grenzbegriff wie für die Zahlentheorie. In der Chemie, in der Wärmelehre ist die Abhängigkeit der mathematischen Methode vom Atomismus offenbar; aber auch in der neueren Auffassung der Elektrizitätslehre muß vor Anwendung des Kalküls im Gedanken eine Atomisierung des »Äthers« vorausgegangen sein. Ich muß darum an dieser Stelle versuchen, eine Fragestellung Boltzmanns zu verbessern. In seinen »Populären Schriften« (S. 141 f.) spricht Boltzmann über die Unentbehrlichkeit der Atomistik in der Naturwissenschaft; er unterscheidet zwischen der Darstellung der theoretischen Physik durch Differenzialgleichungen und der Darstellung durch Atomistik; er sieht sehr gut, daß auch die Differenzialgleichung nicht das Bild von einem Kontinuum schaffe; er sieht überhaupt, als ein Schüler von Mach, daß die Wissenschaft nur Bilder von der Wirklichkeit gebe; aber er ist doch der Meinung, daß das Bild der Atomistik besser und haltbarer sei, als das Bild des höheren Kalküls. Er hat nicht gesehen, daß die Vorstellung von Atomen der Anwendung von Differenzialgleichungen nicht widerspricht, ihr vielmehr zugrunde liegt. Wir nennen die Eigenschaften der Stoffe ihre Gesetze; dann legen wir diese Eigenschaften oder Gesetze in die Gedankendinge hinein, die wir Atome nennen, und werden so in die Lage gesetzt, diese Eigenschaften oder Gesetze in mathematischen Formeln auszudrücken. Der Atomismus will ein schematisches Modell der Welt anfertigen; die mathematische Physik will dieses dreidimensionale Modell in einem übersichtlichen zweidimensionalen Bilde darstellen. Die Atomistik ist (ich falle[314] aus dem Bilde) der Stramin, auf welchen die mathematische Methode ein Projektionsbild der Welt abzählend zeichnet. Ein Projektionsbild der innern, der psychischen Welt ist nicht ausführbar, weil die innere Welt keine drei und keine zwei Dimensionen kennt, weil sich von ihr kein Modell herstellen läßt, weil sie sich nicht in Atome teilen läßt, die durch den niedern oder den höhern Kalkül gezählt werden könnten.

Ich will das an dem einfachsten aller Beispiele erläutern. Eine Anwendung der Mathematik auf die Wärmelehre liegt nicht erst bei der kinetischen Theorie vor; auch das wohlbekannte Thermometer zählt die Wärmegrade, jetzt in den meisten Kulturländern nach dem Dezimalsystem. Die Zahlung wird so vorgenommen, daß die durch eine bestimmte Wärmedifferenz bewirkte Ausdehnung eines Stoffes, also ein Längenmaß, in hundert gleiche Teile geteilt wird, jeder Teil wieder in Zehntel; welche Unterteilung theoretisch weiter fortgesetzt werden könnte. Ob die Wärmeeinheiten ebenso gleichwertig sind, wie die gemessenen Längeneinheiten, darüber wissen wir sehr wenig; die Physik arbeitet zuversichtlich mit dieser Skala und berechnet nach ihr die Temperatur der Sonne, die uns eine Ziffer bietet, aber keinen Sinn. Mit dem Thermometer wird nun auch die Temperatur des menschlichen Blutes gemessen, d.h. die Temperatur des toten Körpers Blut, des Dinges Blut, wie dieses warme Blut die Ausdehnung des Quecksilberfadens bewirkt. Aber die Empfindungen der Wärme äußerer Körper, die Wirkung der Blutwärme auf den Organismus ist mit den Strichen der Thermometerskala nicht zu messen. Eine Differenz von 5° der umgebenden Luft wird oft kaum beachtet, eine Differenz von 5° der Blutwärme zerstört den Organismus.

Ich möchte dem Leser anheimgeben, dieses Beispiel mutatis mutandis auf das Problem zu übertragen, das darin zu liegen scheint, daß die psycho-physischen Untersuchungen eigentlich immer nur für das Zeitmaß psychischer Veränderungen ein Ergebnis haben. Nur ein Wort zur Orientierung: auch die Zeit kann objektiv nur an äußern Bewegungen gemessen werden; auch für den Wert der subjektiven Zeit haben wir kein Maß.[315] Ich brauche Mach glücklicherweise nicht zu widersprechen, der in seinen wahrhaft philosophischen »Prinzipien der Wärmelehre« einmal (S. 67) gesagt hat: »Die Zahlen sind ebenfalls Namen.« Ich habe (Kr. d. Spr. III2 S. 132 ff.) ausführlich dargelegt, warum die Zeichen des niedern und des höhern Kalküls keine Begriffe sind. Ich hoffe, daß Mach dieser Anschauung beistimmen würde, wenn er, einer der stärksten Sprachkritiker auf seinem Gebiete, sich dieser Frage zuwenden wollte; er behauptet ja auch nur, daß die Zahlen ökonomische Namen oder Zeichen seien. Daß aber die Zahlen (und das Differenzial als die Zahlengrenze) keine Begriffe sind, das scheint mir der letzte Grund für das seltsame Verhältnis zwischen der Mathematik und den organischen Naturwissenschaften, ja auch zwischen der Mathematik und den Disziplinen der Physik. Einerseits ist die Begriffssprache immer materialistisch, kann sich darum der äußern Welt annähern, kann aber an die innere Welt gar nicht herankommen; anderseits gehören die Zahlen zwar der Sprache im weitem Sinne an, sind aber keine Begriffe, sind vielmehr etwas ganz anderes, sind eine Wiederholung der Wirklichkeitswelt, sind ihr schematisches Modell. Darum lassen sich die physikalischen Erscheinungen durch mathematische Formeln übersichtlich ordnen, wenn auch niemals erklären; darum können wir die Innern Erlebnisse immer noch eher durch Worte oder Begriffe ausdrücken als durch mathematische Formeln. Ins Innre der Natur dringt kein erschaffner Geist; wir würden heute sagen können: ins innere Erleben kann die mathematische Wiederholung der Außenwelt nicht eindringen; und auch nicht ins Innere der Außenwelt.

Man denke doch zur Vergleichung an die Musik. Auch die Musik ist (nach Schopenhauers schönem Worte) die Welt noch einmal; auch die Musik läßt sich in ihren Elementen durch. Zahlen restlos wiedergeben; aber auch nicht einen Schimmer von der gewaltigen, mystischen Wirkung der Musik kann die Einsicht in die Zahlenverhältnisse ihrer Intervalle und Harmonien; gewähren. Die Mathematik ist ein unendlich subtileres Werkzeug als die Sprache; aber das Werkzeug ist für ein Verständnis[316] des Innern gar nicht eingerichtet. Darum ist es nicht so verwunderlich, daß gerade Mathematiker (ich nenne nur Kepler, Newton und Cauchy) fromme und eigentlich mystische Männer waren.

Der mechanistischen Überschätzung der Mathematik ist auch mancher philosophische Mathematiker entgegengetreten, so z.B. im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts die tief denkende Mathematikerin Sophie Germain. Die Positivistin (vor Comte) warnt hie und da vor dem Mißbrauche der mathematischen Sprache (OEuvres S. 196): »Aus dem ungeschickten Gebrauche der Ausdrücke, welche sonst die vollste Gewißheit bezeichnen, entspringt eine Art geistiger Enttäuschung, die unsere Vernunft und unsern Geschmack in gleicher Weise verletzt.« Ich wiederhole: Die mathematische Zeichensprache ist besser organisiert als die Begriffssprache; aber diese Zeichensprache darf nur auf meßbare Größen angewandt werden; Natur ist maßlos. Auch die Handwerker gebrauchen Meterstab, Winkelmaß und Lot nicht, um für sich die Natur zu erkennen, sondern um für mich ein Häuschen zu bauen; die Mathematiker messen immer nur die tote Natur, und wenn sie das Leben selbst messen, so haben sie vorher das Leben weggedacht. Ich möchte fast glauben, daß auch der Fürst der Mathematik, Gauß, der seine Wissenschaft doch so gern die Königin aller Wissenschaften nannte, dem Gedanken beigestimmt hätte, daß es falsch ist, Zahlen und Formeln wie die Begriffe der Sprache zu gebrauchen. Er schrieb einmal (an Schumacher 1829): »Lagrange, wie fast alle Analysten der neuem Zeit, trifft zuweilen der Vorwurf, beim Spiel der Zeichen nicht immer die Sache lebendig gegenwärtig zu haben.« Der Zusammenhang mit der Behauptung, daß Zahlen keine Begriffsworte seien, wird vielleicht dadurch heller, daß Gauß zu sagen pflegte, die Mathematik seit weit mehr eine Wissenschaft für das Auge als eine für das Ohr. Und Sophie, die mit Gauß schöne Briefe wechselte, scheint sich diesen Spruch angeeignet zu haben, da sie einmal schrieb: »L'analyse parle aux yeux.«

1

Zu dem Worte vermessen macht Kant einmal (Kr. d. Urteilskraft S. 309) eine sehr feine Bemerkung: »Das deutsche Wort vermessen ist ein gutes, bedeutungsvolles Wort. Ein Urteil, bei welchem man das Längenmaß seiner Kräfte (des Verstandes) zu überschlagen. vergißt, kann bisweilen sehr demütig klingen und macht doch große Ansprüche und ist doch sehr vermessen. Von der Art sind die meisten, wodurch man die göttliche Weisheit zu erheben vorgibt, indem man ihr in den Werken der Schöpfung und der Erhaltung Absichten unterlegt, die eigentlich der eigenen Weisheit des Vernünftlers Ehre machen sollen.« Das Zitat ist im D. W. drolligerweise an falscher Stelle untergebracht, unter dem Verbum vermessen, anstatt drei Spalten später unter dem Adjektiv. Das Wort hat seinen Sinn wohl im Gegensatze zu gemessen entwickelt.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 21923, Band 2, S. 307-317.
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