Mathematische Geographie

[434] Mathematische Geographie, der Teil der allgemeinen Erdkunde, dessen Endzweck es ist, die Lage eines mit dem Erdkörper fest verbundenen Punktes gegen ein im Raum angenommenes Achsensystem eindeutig zu bestimmen, also die Auflösung des allgemeinsten Ortsbestimmungsproblems. Diese Disziplin zerfällt wieder in drei unter sich koordinierte Einzelprobleme: 1) die Bestimmung der Gestalt und Größe des Erdkörpers; 2) die eindeutige Bestimmung der Lage eines Punktes des Erdkörpers in bezug auf die als Erdoberfläche definierte geometrische Fläche; 3) die Bestimmung des momentanen Ortes der Erde im Weltenraum. Von diesen drei Unterabteilungen steht die erste mit der Geodäsie, die beiden letzten mit der Astronomie in enger Verbindung, jedoch nur insoweit, als sie die Grundlagen und Entwickelungen derselben speziell auf die Erde anwenden. Überhaupt wird der Begriff der mathematischen Geographie nicht immer gleichmäßig definiert, und es existieren verschiedene Grenzgebiete zwischen der mathematischen und physikalischen Geographie, die eine Auseinanderhaltung beider Disziplinen kaum ermöglichen, wie z. B. die Lotstörungen, die durch die Anziehung der über der Erdoberfläche hervorragenden Massen hervorgebracht werden. Die m. G. ist der älteste Teil der allgemeinen Erdkunde; Ptolemäos kannte nur Ortsbestimmung und Kartenzeichnung als Aufgaben der Geographie, und diese Ansicht behielt auch bis zum 17. Jahrh. Geltung; erst Varenius behandelte in seiner »Geographia generalis« (1664) sowohl die matheamtische als die physikalische Geographie. Die Dreiteilung der Erdkunde wurde erst im 18. Jahrh. angebahnt und von Kästner (1781) zuerst in der jetzt geltenden Weise eingeführt. Im 19. Jahrh. wurde dann die m. G., die auch vorübergehend als astronomische Geographie bezeichnet wurde, als selbständiger Teil der allgemeinen Erdkunde behandelt und weiter entwickelt. Was die Gestalt und Größe der Erde betrifft, so läßt die bloße sinnliche Wahrnehmung die Erde als flache Scheibe erkennen, die längs ihrer Peripherie mit dem Himmelsgewölbe, das als eine gedrückte Kugel erscheint, zusammenhängt; wechselt man jedoch den Standpunkt, so erkennt man bald, daß die Erdoberfläche gekrümmt ist, und planmäßige Wanderungen ließen erkennen, daß die Krümmung überall gleichförmig sei, daß also die Erde eine im Raume frei schwebende Kugel sei, wie es zuerst Pythagoras annahm. Als man begann, an verschiedenen Stellen der Erdoberfläche Strecken von gleichem Bogenmaß auszumessen und Bestimmungen der Länge von Sekundenpendeln auszuführen, ergab sich, daß die Krümmung der Oberfläche nicht ganz gleichmäßig sei und ein Rotationsellipsoid der Erdoberfläche am besten entspreche. Die neuesten genauesten Messungen haben jedoch gezeigt, daß die Erdoberfläche überhaupt nicht als eine exakte geometrische Fläche aufzufassen ist, und es ist die Aufgabe der Geodäsie, die Abweichungen der wahren Erdgestalt oder der an ihrer Stelle eingeführten Niveaufläche, des Geoids, von dem Rotationsellipsoid zu bestimmen (vgl. Erde, S. 906 f., und Gradmessungen). Der zweite Teil der mathematischen Geographie umfaßt die eindeutige Bestimmung der Lage eines dem Erdkörper angehörigen Punktes gegen ein mit der Erde fest verbundenes Koordinatensystem, also die geographische Ortsbestimmung, diese ist aber ausgeführt, wenn die geographische Länge und Breite des betreffenden Punktes sowie seine Entfernung vom Erdmittelpunkt bekannt ist. Über die Methoden der Bestimmung dieser Größen vgl. Länge (geogr.), Polhöhe und Höhenmessung. Da die Erde im Raume nicht feststeht, sondern um eine eigne Achse rotiert und sich um die Sonne in einer Ellipse bewegt, die wieder durch Gravitationsstörungen von seiten andrer Planeten periodische Änderungen erleidet, so sind auch noch diese Bewegungen zu betrachten, um das allgemeinste Ortsbestimmungsproblem eines Punktes der Erde zu lösen, und diese Untersuchung bildet die Aufgabe des dritten Teiles der mathematischen Geographie. Es sind darin außer der Bahn- und Rotationsbewegung der Erde auch die Veränderungen zu betrachten, welche die Lage der Rotationsachse der Erde durch Präzession, Nutation und andre noch unbekannte Ursachen, welche die in neuester Zeit beobachteten Polhöhenänderungen hervorrufen, erfährt; s. Erde, Präzession, Nutation und Polhöhe. Vgl. J. C. E. Schmidt, Lehrbuch der mathematischen und physischen Geographie (Göttingen 1829–90, 2 Bde.); Studer, Anfangsgründe der mathematischen Geographie (2. Ausg., Bern 1842); Günther, Handbuch der mathematischen Geographie (Stuttg. 1890) und Erdkunde und Mathematik in ihren gegenseitigen Beziehungen (Münch. 1887); Klein, Katechismus der mathematischen Geographie (Leipz. 1894); N. Herz, Lehrbuch der mathematischen Geographie (Wien 1906).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 13. Leipzig 1908, S. 434.
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