Johanna [2]

[280] Johanna, die Päpstin (Frau Jutte), war, wie die Sage berichtet, von englischer Herkunft und in Mainz geboren. In jungen Jahren wurde sie von einem Liebhaber in männlicher Kleidung nach Athen gebracht, wo sie sich eine ausgezeichnete Bildung erwarb. Später ging sie nach Rom, unter dem Namen Johannes Anglicus die männliche Rolle fortspielend, hatte zahlreiche Schüler und wurde nach dem Tode Leos IV. (855) als Johann VIII. auf den päpstlichen Stuhl erhoben. Nachdem sie über zwei Jahre regiert hatte, kam sie während eines öffentlichen Aufzugs auf der Straße zwischen dem Amphitheater und der Klemenskirche nieder. Nach einem Bericht starb sie gleich darauf, nach einem andern wurde sie abgesetzt und lebte noch längere Zeit als Büßerin. Auf dem Platz ihrer Niederkunft wurde ein Denkmal errichtet; doch vermieden seitdem die Päpste die Stelle beim Kolosseum, wo der Vorfall stattgehabt hatte. Um indessen für die Zukunft einem ähnlichen Ärgernis vorzubeugen, mußte sich, wie später hinzugefügt wird, fortan jeder Papst vor seiner Weihe auf einen durchbrochenen Stuhl setzen, um sein Geschlecht prüfen zu lassen. Diese Erzählung, die zuerst um die Mitte des 13. Jahrh., freilich in andrer Fassung, in der Chronik des Predigermönches Johannes von Mailly auftritt, der die bei ihm noch namenlose Päpstin um das Jahr 1100 ansetzt, fand Aufnahme in die Chronik des Martin von Troppau und durch diese die weiteste Verbreitung. Sie galt bis in das 17. Jahrh. als historische Wahrheit, bis David Blondel 1649 ihre Ungeschichtlichkeit darlegte. Vier Dinge haben nach Döllinger zur Entstehung der Fabel beigetragen: Der Gebrauch durchbrochener Steinsessel bei der Einsetzung eines neugewählten Papstes, ein Stein mit einer Inschrift, den man für ein Grabdenkmal nahm, eine an demselben Orte gefundene Statue mit Gewändern, die man für weibliche hielt, und die Sitte, bei Prozessionen mit Vermeidung einer auf dem Wege befindlichen engen Straße einen Umweg zu machen (vgl. Döllinger, Die Papstfabeln des Mittelalters, 2. Aufl., Münch. 1890). Die Sage lieferte den Stoff zu einem der ältesten und berühmtesten deutschen Dramen, zu Th. Schernbecks »Ein schön Spiel von Fraw Jutten« (1480, gedruckt Eisleb. 1565); in der Neuzeit dichtete A. v. Arnim ein Schauspiel: »Die Päpstin J.« (1823).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 10. Leipzig 1907, S. 280.
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