Sitte [1]

[503] Sitte, jede in einer Volksgemeinschaft herrschende, von den Einzelnen freiwillig befolgte Regel des Verhaltens. In ihren äußern Wirkungen stimmt die S. mit dem Instinkt der Tiere überein, unterscheidet sich aber von ihm dadurch, daß dieser in der physischen Organisation begründet ist und mit ihr vererbt wird, während die S. eine geistige Macht ist und durch geistige Überlieferung sich fortsetzt. Beide fallen unter den Allgemeinbegriff der Gewohnheit, und man könnte die S. auch definieren als generell gewordene Gewohnheit. Ein Mittelglied zwischen der rein individuellen Lebensgewohnheit und der S. bildet der Brauch; dieser hat seinen Sitz in dem engern Kreise der Familie, des Stammes, die S. in dem weitern Kreise des Volkes, womit es zusammenhängt, daß letztere zugleich einen festern Bestand hat als jener. Die Motive, die den Einzelnen veranlassen, sich nach der allgemeinen S. zu richten, sind teils innere (z. B. die Scheu, sich durch ein von der Mehrheit abweichendes Verhalten auffällig zu machen), teils äußere (die Rücksicht auf die gesellschaftlichen Nachteile, welche die Mißachtung der S. nach sich zieht); im allgemeinen fehlt jedoch der S. (wenigstens in der Gegenwart) der Charakter des Verbindlichen oder Verpflichtenden, und sie unterscheidet sich dadurch einerseits vom Recht, dessen Verletzung die Gesellschaft mit Strafen bedroht, anderseits vom Sittengesetz (s. d.), dessen Befolgung durch das Pflichtbewußtsein kategorisch geboten wird. Zweifellos haben sich jedoch die Gebiete des Rechts und der Sittlichkeit (s. d.) erst im Laufe der Zeit von dem der S., die in der Urzeit alle Lebensbeziehungen ausschließlich regelte, abgetrennt, und noch jetzt ist die Grenze zwischen Recht und S. sowie Sittlichkeit und S. eine fließende. Daß die Sphäre der S. den letztern gegenüber die umfassendere ist, geht unter anderm auch daraus hervor, daß Verletzungen der Rechtsordnung und der Sittlichkeit im allgemeinen auch Verletzungen der S. sind, während durchaus nicht alle Sitten auch im sittlichen Gefühl ein Stütze finden, wie das Bestehen von Sitten beweist, die letzterm direkt zuwiderlaufen (Unsitten). Ursprung und Entwickelungsgeschichte der S. im allgemeinen sowie der einzelnen konkreten Sitten sind noch wenig aufgeklärt, ihre Erforschung ist eine Aufgabe, in die sich die Ethnographie (s. Völkerkunde), die Kulturgeschichte (s. d.) und die Völkerpsychologie (s. d.) teilen. Nach Wundt ist die Mehrzahl der Sitten aus Kultushandlungen hervorgegangen. Vgl. auch Gute Sitte und Sittenpolizei.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 18. Leipzig 1909, S. 503.
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