Moralische Wochenschriften

[130] Moralische Wochenschriften (moralische Zeitschriften), eine Gattung von Zeitschriften, die in England zu Anfang des 18. Jahrh. aufkam und dem Geiste jener Zeit entsprechend vor allem populärphilosophische Erörterungen, meist in der Form von humoristisch-satirischen Sittenbildern, darbot. Die Begründer dieses Literaturzweiges sind Steele und Addison durch ihre Zeitschriften »The Tatler« (»Der Plauderer«, 1709), »The Spectator« (»Der Zuschauer«, 1711) und »The Guardian« (»Der Hüter«, »Vormund«, 1713). Gewöhnlich wurde der Inhalt einer solchen Zeitschrift durch eine dichterische Einkleidung zusammengehalten; im »Spectator« ist die Fiktion diese, daß ein Kreis von Bekannten aus verschiedenen Berufskreisen sich abends regelmäßig versammelt und über die Ereignisse des Tages spricht. Mit diesem Umstande hängt auch die kurze Lebensdauer der meisten unter diesen Zeitschriften zusammen; wenn die dichterische Einkleidung Gefahr lief, ihren Reiz zu verlieren, ließ der Herausgeber die Zeitschrift eingehen und begründete eventuell eine neue. In den Zeitschriften Steeles und Addisons sind neben den satirischen auch die literarisch-kritischen Artikel, namentlich die Artikel über Shakespeare und über das Volkslied von Bedeutung. Die moralischen Wochenschriften kamen einem literarischen Bedürfnis des Bürgerstandes entgegen und hatten einen beispiellosen Erfolg. Sie wurden bald auch außerhalb Englands übersetzt und nachgeahmt und trugen wesentlich dazu bei, daß in der europäischen Literaturbewegung des 18. Jahrh. der englische Literatureinfluß sich immer entschiedener neben dem französischen geltend machte. Allerdings wurden die englischen Vorbilder von keiner der ausländischen Zeitschriften erreicht. Die ersten Blätter dieser Art erschienen seit 1713 in Hamburg, den größten Einfluß unter ihnen gewann der »Patriot« (1724–26). Die moralischen Wochenschriften, die Bodmer mit Breitinger u.a. (»Diskurse der Maler«, s. Bodmer 1) in Zürich und Gottsched (s. d.) in Leipzig veröffentlichten, sind insofern von Wichtigkeit, als wir in ihnen die Entwickelung der literarischen Grundsätze ihrer Herausgeber verfolgen können. Der »Spectator« wurde von Frau Gottsched ins Deutsche übertragen (1739–43, 9 Bde.). In der Zeit von 1713–61 sind in Deutschland 182 Zeitschriften dieser Art nachgewiesen. Unter den spätern verdient vor allem der »Nordische Aufseher« Erwähnung, den J. A. Cramer in Kopenhagen 1759–62 herausgab, und an dem auch Klopstock mitwirkte. Doch hat Lessing, dem die selbstgefällige Breite der moralischen Betrachtungen zuwider war, an dem »Nordischen Aufseher« in den »Literaturbriefen« eine scharfe Kritik geübt, der es mit zuzuschreiben ist, daß die moralischen Wochenschriften von da an immer mehr ihre literarische Bedeutung verloren. Vgl. Milberg, Die deutschen moralischen Wochenschriften des 18. Jahrh. (Meißen 1880); Kawczynski, Studien zur Literaturgeschichte des 18. Jahrh. (Leipz. 1880); K. Jacoby, Die ersten moralischen Wochenschriften Hamburgs (Hamb., Progr. 1888); Th. Vetter, Der Spectator als Quelle der »Diskurse der Maler« (Frauens. 1887).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 14. Leipzig 1908, S. 130.
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