Parlamentarismus

[456] Parlamentarismus, die Gesamtheit der parlamentarischen Einrichtungen, das parlamentarische Wesen und Leben eines Landes. Man versteht ferner unter P. die Parlamentsherrschaft, die parlamentarische Regierungsweise, parlamentarisches System, wobei der Schwerpunkt der Regierung und die Staatsgewalt selbst sich in den Händen des Parlaments befindet. Der P. herrscht namentlich in England. Nach einer 1782 zum Abschluß gelangten Übung wird nämlich das englische Kabinett (Ministerium) stets aus den Führern der Partei gebildet, die jeweilig im Unterhaus die Mehrheit hat. Daher ist der englische Premierminister zugleich Haupt der Regierung und der parlamentarischen Mehrheitspartei. Bei der Machtstellung des englischen Parlaments würde eine Regierung, die sich mit der Mehrheit desselben nicht im vollsten Einklang befände, in der Tat unhaltbar sein, und eben darum tritt das Kabinett ab, wenn es die Mehrheit im Unterhaus nicht mehr für sich hat. Jedoch ist z. B. das Kabinett Gladstones und kürzlich (20. Juli 1905) das Balfours trotzdem im Amte geblieben. Dies System hat auch in andern konstitutionellen Staaten Nachahmung gefunden, jedoch nicht in Deutschland; in der Tat ist der P. unvereinbar mit dem Wesen der Monarchie und mit der geschichtlichen Entwickelung derselben in den deutschen Staaten. Auch in Österreich ist dieses System nicht zur Geltung gekommen. Vgl. Bucher, Der P. wie er ist (3. Aufl., Stuttg. 1894); Hamilton, Parlamentarische Logik, Taktik und Rhetorik (2. Aufl., Tübing. 1872); Prins, La démocratie et le régime parlementaire (2. Aufl., Brüssel 1886); Ojea y Somoza, El parlamentarismo (Madr. 1884); M. v. Seydel, Staatsrechtliche u. politische Abhandlungen (Freib. i. Br. 1893); Weiteres s. Redefreiheit.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 15. Leipzig 1908, S. 456.
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