[405] Temperamént (lat.), im ursprünglichen (durch Galen festgestellten) Sinne die durch das Überwiegen des einen oder des andern der Hauptsäfte des menschlichen Körpers bedingte körperliche und seelische Eigenart. Da vier solcher Säfte unterschieden wurden, so ergeben sich vier Temperamente; das cholerische beruht auf dem Überwiegen der gelben Galle, die (wie das Element des Feuers) von warmer und trockener, das melancholische auf dem der schwarzen Galle, die (wie die Erde) von kalter und trockener, das phlegmatische auf dem des Schleimes, der (wie das Wasser) von kalter und feuchter, das sanguinische auf dem des Blutes, das (wie die Luft) von warmer und feuchter Beschaffenheit ist. Der vorstehenden Definition gemäß hatte man hierin also eigentlich nicht sowohl Modifikationen des normalen menschlichen Typus, sondern vielmehr Abweichungen von ihm (von der gefunden Mischung der Säfte) zu sehen, weshalb Galen auch nicht von Temperamenten, sondern von »Dyskrasien« (also eigentlich Intemperamenten) sprach. Im Laufe der Zeit hat sich nun die Annahme von vier Temperamenten aus einer vorwiegend physiologischen in eine rein psychologische Lehre verwandelt und sich erhalten, auch nachdem ihre ursprüngliche Grundlage längst als Irrtum erkannt worden war. In der Regel faßt man jetzt die Temperamentsverschiedenheiten als solche des Gefühls- und Gemütslebens auf und rechtfertigt die Unterscheidung von gerade vier Temperamenten damit, daß in bezug auf Entstehung und Verlauf der Gemütsbewegungen individuelle Abweichungen einerseits in Hinsicht der Stärke, anderseits in Hinsicht der Schnelligkeit der letztern denkbar sind: der Choleriker und der Melancholiker seien zu starken, der Sanguiniker und Phlegmatiker zu schwachen Gemütsbewegungen disponiert, während diese aber beim Melancholiker und Phlegmatiker langsam verlaufen, geschehe es beim Choleriker und Sanguiniker rasch. Die dem Choleriker und Melancholiker in der Regel zugeschriebene Neigung zu Unlustgefühlen würde sich hiernach dadurch erklären, daß diesen, bei ihrer Disposition selbst durch schwache Eindrücke relativ stark erregt zu werden, die vielen kleinen Leiden des Lebens besonders fühlbar werden müssen, während an dem Sanguiniker das Unerfreuliche rasch und also ohne tiefere Wirkung vorübergeht, und beim Phlegmatiker die Nachwirkungen der abwechselnd angenehmen und unangenehmen äußern Eindrücke sich zu einer ebenmäßig ruhigen Gemütsstimmung ausgleichen müssen. Man darf jedoch der ganzen Temperamentenlehre, da sie mehr in der Tradition als in der Erfahrung wurzelt, keine allzu große Bedeutung beimessen, insbes. wäre es falsch, anzunehmen, daß jedes einzelne Individuum sich hinsichtlich seiner Gemütsbeschaffenheit in eine der genannten vier Klassen müsse einreihen lassen; die[405] Temperamente sind höchstens ideale Typen, die nirgends rein verwirklicht sind, denen sich aber die Gemütsart des einzelnen mehr oder weniger nähern kann. Da ferner jedes seine Vorzüge und Nachteile hat, so ist auch nicht sowohl der Besitz eines einzigen von ihnen als vielmehr die Vereinigung aller wünschenswert: »Sanguiniker sollen wir sein bei den kleinen Leiden und Freuden des täglichen Lebens, Melancholiker in den ernsten Stunden bedeutender Lebensereignisse, Choleriker gegenüber den Eindrücken, die unser tieferes Interesse fesseln, Phlegmatiker in der Ausführung gefaßter Entschlüsse« (Wundt). Vgl. Hellwig, Die vier Temperamente bei Erwachsenen (6. Aufl., Paderb. 1905) und bei Kindern (9. Aufl., das. 1907); Hirt, Die Temperamente (Wiesbad. 1905).