[361] Temperament (v. lat.), 1) im allgemeinen Alles, was als eine Ausgleichung von Gegensätzen, als eine Milderung von Extremen aufgefaßt wird; diese Bedeutung kommt aber weniger bei dem Substantivum T., als vielmehr beim Gebrauch des Zeitwortes temperiren, d.h. mäßigen, vor. Temperamentchen nennt man daher bisweilen scherzweise ein Auskunfts- od. Ausgleichungsmittel. Gewöhnlich bedeutet T. 2) die durch den körperlichen Organismus mitbedingte, also physiologisch zu erklärende individuelle Disposition in Beziehung auf die Gefühlsweise, die Affecte u. Leidenschaften sammt der daraus hervorgehenden Art des Handelns. Die Ansichten über die physiologischen Ursachen solcher physischen Verschiedenheiten haben aber so vielfach gewechselt, als die Charakteristik der letzteren. In ihren ersten Anfängen glaubte die Physiologie diese Verschiedenheit auf das Vorherrschen eines der vier damals angenommenen Elemente, Feuer, Luft, Wasser u. Erde, von denen das erste durch Wärme u. Trockenheit, das zweite durch Wärme u. Feuchtigkeit, das dritte durch Kälte u. Trockenheit, das vierte durch Kälte u. Feuchtigkeit charakterisirt ist, zurückführen zu können. Hippokrates u. dessen Nachfolger[361] namentlich Galenos u. seine Schule, beriefen sich zur Erklärung der T-e auf das Vorherrschen der vermeintlichen vier Hauptflüssigkeiten des menschlichen Körpers: der gelben Galle (Cholos), der schwarzen Galle (Melas cholos), des Blutes (Sanguis) u. des Schleimes (Phlegma), u. daher rühren die seitdem gebräuchlich gewordenen Namen der vier T-e, des cholerischen, melancholischen, sanguinischen u. phlegmatischen. Den Unterschied, auf welchen sie sich gründen sollten, nannte man den der Complexion. Später glaubte man den Grund des Unterschieds hauptsächlich in der Beschaffenheit des Blutes zu erkennen u. nannte das cholerische T. das warmblütige, das melancholische das schwerblütige, das sanguinische das leichtblütige, das phlegmatische das kaltblütige. Stahl u. seine Nachfolger suchten den Unterschied der Temperamentsverschiedenheit mehr in den festen als den flüssigen Theilen; von diesen T-en der Constitution wie man sie nannte, sollte das cholerische auf einer festen, das melancholische auf einer spröden, das sanguinische auf einer weichen, das phlegmatische auf einer laxen Constitution der Fasern u. Gewebe beruhen. Noch Andere glaubten die Verschiedenheit des T-s aus der verhältnißmäßig vorherrschenden Thätigkeit verschiedener Organe, das cholerische als das nervöse aus der der Cerebral- u. Rückenmarksnerven, das melancholische als das venöse aus der der Leber, das sanguinische als das arterielle aus der der Lunge, das phlegmatische als das lymphatische aus der des Lymph- u. Drüsensystems ableiten zu können. Haller u. seine Schule legten das Hauptgewicht auf die verschiedene Stärke u. Reizbarkeit des Nerven- u. Muskelsystems überhaupt. Im Zusammenhange damit hat man das Verhältniß zwischen Receptivität u. Reaction als den Grund der Verschiedenheit der T-e u. für das cholerische starke Receptivität u. gleich starke Reaction, für das melancholische ein Übergewicht der Reaction über die Receptivität, für das sanguinische ein Übergewicht der Receptivität über die Reaction, für das phlegmatische eine gleich schwache Receptivität u. Reaction als das charakteristische Merkmal erklärt. Endlich hat man die Verschiedenheit der T-e als eine Folge der größeren od. geringeren Regelmäßigkeit in den Hauptfunctionen des leiblichen Organismus, der Ernährung (Vegetation), der Reizbarkeit (Irritabilität) u. sinnlichen Empfänglichkeit (Sensibilität), so wie des Verhältnisses dieser Factoren unter einander angesehen u. daraus, wenn auch nicht gerade die vier gewöhnlich angenommenen T-e, doch überhaupt die Möglichkeit der verschiedenen individuell bestimmten Formen, in denen sich eine Abhängigkeit des psychischen Lebens von dem leiblichen zu erkennen gibt, abzuleiten gesucht. Die neuere Physiologie hat die Versuche einer eigentlichen Theorie der T-e zum größten Theile aufgegeben; sie bekennt, daß das Verhältniß zwischen dem Leiblichen u. Geistigen noch viel zu dunkel ist, um für die Erklärung der sogenannten Temperamentsverschiedenheiten ausreichend bestimmte Anhaltepunkte darzubieten, u. viel zu complicirt, als daß die gewöhnlich angenommenen vier T-e für den erschöpfenden Ausdruck der in dieser Beziehung möglichen Verschiedenheit gehalten werden könnte, u. die psychologische Beobachtung kommt ihr in dieser Beziehung durch die Erinnerung daran entgegen, daß thatsächlich in der Erfahrung keine Veranlassung zu einer scharf abgegrenzten Classificirung der T-e vorliegt, daß die angenommenen vier T-e sich nur in verhältnißmäßig wenigen Fällen bei einzelnen Individuen ausgeprägt finden u. daß es zwischen denselben eine Menge von Mischungen u. Übergängen gibt, welche durch die obige Eintheilung nicht erschöpft werden. Trotz dieser Unsicherheit sowohl der Eintheilung als der Erklärung der verschiedenen T-e hat sich doch die Unterscheidung der oben genannten vier als Bezeichnung einer typischen Verschiedenheit eingebürgert, deren Grundzüge im Allgemeinen durch Folgendes bezeichnet werden können. a) Das cholerische T. äußert sich durch eine leichte Erregbarkeit zu starken u. heftigen Affecten, welche sich aber nicht lange auf ihrem Höhepunkte halten können u. daher in ihrem Einflusse auf das Begehren u. Handeln mehr stoßweise, als nachhaltig wirken. Die Äußerung seines Gefühls sind oft scharf, bitter, verletzend; es ist mehr geneigt zum aufbrausenden Zorn, als zur hingebenden Liebe, aber nicht unversöhnlich. Der Choleriker hat ein starkes Selbstgefühl; kleinliche Geschäfte sind ihm langweilig, pedantischer Gehorsam lästig; er neigt zur Herrschsucht; Ehrgeiz ist für ihn eine Haupttriebfeder; er ist momentan großer Kraftäußerungen fähig. Er kann großmüthig, aber auch hart, aufopfernd, aber auch stolzegoistisch sein. Im Ganzen herrscht bei ihm eine ern ste Stimmung vor; nur selten zeigen sich bei ihm Ausbrüche einer harmlosen Freude. Hochmuth, Jähzorn, Verwegenheit u. Tollkühnheit sind die Gefahren, welche diesem T. drohen. b) Das melancholische T. ist nicht empfänglich für leichte u. oberflächliche Erregungen, aber was dasselbe einmal afficirt, greift tief ein u. hält lange nach; es umfaßt seinen Gegenstand innig u. hält ihn fest. Vor heftigen u. rasch vorübergehenden Affecten ist es sicher, u. selbst die Leidenschaften beschleichen den Melancholiker mehr, als daß sie ihn überfallen. Er zieht seine Leidenschaften, in sich gekehrt über ihnen brütend, gleichsam mit Liebe groß; daher schlagen sie in ihm tiefe Wurzeln u. bestimmen vorherrschend das Ganze seiner Gemüthslage. Auch außerhalb des Kreises seiner Leidenschaft ist er vorsichtig u. bedachtsam, oft mißtrauisch Seine Stimmungist vorherrschend ernst, selbst zum Trübsinn geneigt. Um die Zukunft ängstlich besorgt u. unempfänglich für frohen Lebensgenuß neigt er sich nicht selten zum Geize. Treu in der Liebe bis zur Schwärmerei u. in der Freundschaft bis zur persönlichen Aufopferung ist er auch der sich selbst verzehrenden Eifersucht ausgesetzt. Er ist in seinen Geschäften pünktlich u. gewissenhaft, arbeitsam mehr aus Pflichtgefühl, als aus Trieb nach Thätigkeit; seine Ansprüche an andere sind streng. Für die Mühe, die es ihm macht, sich in etwas Neues zu finden, wird er entschädigt durch die Festigkeit, womit er das, was er sich angeeignet hat, festhält. Geräuschvolle Vergnügungen sind ihm zuwider; er liebt die Einsamkeit, den Umgang mit der Natur, den menschlichen Verkehr nur unter vertrauten Freunden. Im Extreme gedacht kann dieses T. zum Menschenhaß, zur Selbstpeinigung, zur krankhaften, die Gesundheit des Geistes zerrüttenden Schwermuth (eigentlicher Melancholie) führen. c) Dem sanguinischen T. ist vor Allem ein hoher Grad leichter Erregbarkeit eigenthümlich, jedoch ohne Tiefe u. Nachballigkeit. Offen für alle Eindrücke interessirt es sich leicht u. lebhaft, aber Eins verdrängt immer[362] das Andere, u. so lebhaft sein Begehren erregt sein mag, u. so rasch der Sanguiniker im ersten Moment handelt, so wenig hat er zu anhaltender u. consequenter Thätigkeit Neigung. Er ist gelehrig u. vergeßlich, leicht gerührt u. ohne nachhaltige Theilnahme gutmüthig u. unzuverlässig; Freundder Geselligkeit u. ein heiterer, bequemer Gesellschafter; zur Hülfe stets bereit, freigebig mit Versprechungen, ohne die ernste Sorge für das Worthalten. Er beschließt leicht, ohne Beharrlichkeit in der Ausführung; macht harmlos dumme Streiche, gesteht sie bereitwillig ein, empfindet herzliche Reue u. wieholt sie bei der nächsten Gelegenheit. Er nimmt alles von der heitern, leichten Seite, ist aber ebenso wenig einem tiefen Glück, als tiefem Gram u. schweren Sorgen zugänglich. Ein hoher Grad von Leichtsinn, Oberflächlichkeit, Zerstreutheit u. Zerfahrenheit drohen diesem T. d) Das phlegmatische T. charakterisirt im Allgemeinen die Schwierigkeit, mit welcher es die einmal vorhandene Gemüthslage wechselt; es ist schwer u. langsam zu bewegen, einmal in Bewegung gesetzt, harrt es ohne einen verstärkenden inneren Impuls in der Bewegung aus. Der Phlegmatiker neigt sich zur Ruhe, läßt die Dinge an sich kommen, ist ein Freund u. Anhänger des Gewohnten u. Hergebrachten, liebt behaglichen Genuß, ist pünktlich in seinen Geschäften, wenn sie keine außergewöhnlichen Anforderungen an ihn stellen, frei von poetischen Illusionen u. leidenschaftlichen Aufregungen, daher besonnen, umsichtig, praktisch, zuverlässig, friedfertig, läßt andere gewähren, wenn sie ihn nicht stören, u. verliert nicht leicht das innere Gelehgewicht. Ein sehr hoher Grad des Phlegma kann aber leicht zur Faulheit u. Indolenz führen. In diesen ungefähren Grundzügen der einzelnen T-e liegt nun zugleich der Grund, aus welchem man das cholerischeals Gegensatz des phegmatischen, das sanquinische als Gegensatz des melancholischen anzusehen pflegt; nach. dem vorherrschenden Grundton der ganzen Gemüthsstimmung, welche man den einzelnen T-en beilegt, bezeichnet man das cholerische auch als starkmüthig, das phlegmatische als gleichmüthig, das sanguinische als frohmüthig, das melancholische als schwermüthig. Für das melancholische T. hat man auch die Bezeichnung des sentimentalen vorgeschlagen, weil bei ihm weniger die Neigung zum Trübsinn u. zur Schwermuth, als die, überhaupt in seine Gefühle zu versinken, das Charakteristische sei; das sanguinische T. hat man mit Beziehung auf die heitere Sorglosigkeit des Sanguinikers wohl auch das musikalische genannt; unter dem böotischen T. versteht man bald die Trägheit des Phlegmatikers, bald die Unlenkbarkeit des Cholerikers, des tückischen, trotzigen Dummkopfs. Vgl. außer den allgemeinen Werken über Anthropologie (s.d.), Kämpf, Abhandlung von den T-en, Frankf. 1761; Ign. Niederhuber, Über die menschlichen T-e, Wien 1798; W. Dirksen, Lehre von den T-en, Marb. 1804. 3) Bisweilen versteht man unter T. Erregbarkeit, Thätigkeitstrieb überhaupt, bes. bei Thieren, z.B. Pferden, Jagdhunden.
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