Weihnachtsspiele

[477] Weihnachtsspiele, eine besondere Gattung der mittelalterlichen geistlichen Spiele, die ebenso wie die Osterspiele, jedoch später als diese, sich aus dem kirchlichen Festgottesdienst etwa im 10. Jahrh. in der Weise entwickelten, daß die Wechselgesänge von Geistlichen in entsprechender Kostümierung vorgetragen wurden. So pflegte man am Weihnachtstag die Anbetung der Hirten, am Tag der unschuldigen Kinder (28. Dez.) den bethlehemitischen Kindermord, am Dreikönigstag (6. Jan.) die Anbetung der Weisen aus dem Morgenlande darzustellen. Später verband man diese Spiele zu einem zusammenhängenden Ganzen, das sich in mehreren stark voneinander abweichenden Texten erhalten hat. Außerdem führte man zur Weihnachtszeit Prophetenspiele auf, in denen, gleichfalls im Anschluß an einen liturgischen Text (eine Predigt Augustins), die Propheten vorgeführt wurden, die Christi Geburt voraus verkündigt hatten. Während die Vorführungen dieser ganzen Reihe mitunter die Gestalt von kostümierten Prozessionen annahmen, erweiterte man auch mitunter die Vorführung eines einzelnen Propheten zu einem besondern kleinen Drama. (Vgl. Sepet, Les prophètes du Christ, Par. 1878.) So entstand eine der formvollendetsten Dichtungen des Mittelalters, der »Daniel« von Abälards Schüler Hilarius. Mitunter wurden auch die Prophetenspiele mit den eigentlichen Weihnachtsspielen verschmolzen, z. B. im Benediktbeurer Spiel (13. Jahrh.). Die ältesten Spiele dieser Art sind lateinisch abgefaßt; sie stammen durchweg aus Frankreich und Deutschland. Doch gehört auch das älteste erhaltene geistliche Drama in einer Volkssprache, das anglonormannische Mysterium von Adam, zu den Prophetenspielen; das älteste vollständig erhaltene deutsche Weihnachtsspiel ist das St. Galler (Ende des 13. Jahrh., hrsg. von Klapper: »Das St. Galler Spiel von der Kindheit Jesu«, Bresl. 1904). Diese Spiele, in die schon frühzeitig komische Elemente eingemischt wurden, erfreuten sich großer Beliebtheit; während die Osterspiele und die Fronleichnamsspiele, in welch letztern mitunter auch Christi Geburt und Kindheit vorgeführt ward, im spätern Mittelalter den Charakter pomphafter Festlichkeiten annahmen, bewahrten die W., mitunter auch als »Krippelspiele« bezeichnet, einen mehr intimen, volkstümlichen Charakter und erhielten sich in fast allen europäischen Ländern bis in die Gegenwart;[477] dagegen traten die theologisch lehrhaften Prophetenspiele mehr in den Hintergrund. Unter den deutschen Weihnachtsspielen aus dem spätern Mittelalter sei das hessische (hrsg. von Piderit, Parchim 1869) erwähnt, auch mehrere Dramatiker des 16. Jahrh., unter andern Hans Sachs, haben die Ereignisse der Weihnachtszeit behandelt. Die W., die noch jetzt in vielen Gegenden ausgeführt werden, zeigen neben Bestandteilen, die auf das Mittelalter zurückgehen, auch Einwirkung der in den folgenden Jahrhunderten herrschenden literarischen Richtungen; in vielen dieser Spiele haben jedoch die überlieferten Motive dadurch einen eigentümlichen Reiz erhalten, daß sie in deutsch-volkstümlichem Sinn aufgefaßt und umgebildet sind. Sammlungen veranstalteten unter andern Weinhold, W. und Lieder aus Süddeutschland und Schlesien (neue Ausg., Wien 1875); A. Hartmann, Weihnachtsspiel und Weihnachtslied in Oberbayern (Münch. 1875); Pailler, Weihnachtslieder und Krippenspiele aus Oberösterreich und Tirol (Innsbr. 1881 bis 1883, 2 Bde.); Gröger, Hirten- und Weihnachtslieder aus dem österreichischen Gebirge (Leipz. 1898); F. Vogt, Die schlesischen W. (das. 1901). Vgl. Köppen, Beiträge zur Geschichte der deutschen W. (Paderb. 1893); Creizenach, Geschichte des neuern Dramas, Bd. 1 (Halle 1893); Anz, Die lateinischen Magierspiele (Leipz. 1905).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 477-478.
Lizenz:
Faksimiles:
477 | 478
Kategorien:
Ähnliche Einträge in anderen Lexika