Nach der Geschäftsordnung vom 10. Februar 1876 mit je zwei Abänderungen vom Jahre 1895 u. 1902 und einer solchen von 1906 treten bei Beginn einer Wahlperiode die Mitglieder des Reichstags zunächst unter dem Vorsitz ihres ältesten Mitglieds (des Alterspräsidenten) zusammen; letzterer kann dies Amt auf das ihm im Lebensalter zunächst stehende Mitglied übertragen. Zur Präsidentenwahl wird geschritten, sobald das Haus beschlußfähig, d.h. die Mehrheit (199) der gesetzlichen Anzahl der Mitglieder (397) anwesend ist. Es werden ein Präsident und zwei Vizepräsidenten sowie acht Schriftführer gewählt. Diese bilden den Vorstand des Reichstags. Für das Kassen- und Rechnungswesen ernennt der Präsident zwei Quästoren. Die dann vorliegende Konstituierung des Reichstags und das Ergebnis der Vorstandswahlen wird vom Präsidenten dem Kaiser angezeigt. Die Wahl der Präsidenten erfolgt durch Stimmzettel nach absoluter, die der Schriftführer nach relativer Stimmenmehrheit. Hat sich im erstem Fall eine absolute Majorität nicht ergeben, so sind diejenigen fünf Kandidaten, welche die meisten Stimmen erhalten haben, auf eine engere Wahl zu bringen; nötigenfalls ist auch noch eine zweite engere Wahl zwischen denjenigen beiden Kandidaten, die alsdann die meisten Stimmen erhielten, vorzunehmen; ergibt sich hier Stimmengleichheit, so entscheidet das Los. Die Präsidenten werden beim Anfang der Wahlperiode das erstemal nur auf vier Wochen, dann aber für die übrige Dauer der Tagung gewählt; in den folgenden Tagungen einer Wahlperiode erfolgt die Wahl sofort für die ganze Dauer der Tagung. Dem Präsidenten liegt die Leitung der Verhandlungen, die Handhabung der Ordnung und der Vertretung des Reichstags nach außen ob; er hat das Recht, den Sitzungen der Abteilungen und Kommissionen mit beratender Stimme beizuwohnen. Er beschließt über die Annahme und Entlassung des Verwaltungs- und Dienstpersonals sowie über die Ausgaben zur Deckung der Bedürfnisse des Reichstags innerhalb des gesetzlich festzustellenden Voranschlags. Der Präsident eröffnet und schließt die Plenarsitzungen und verkündigt Tag und Stunde der nächsten. Ihm liegt es ferner ob, mit zwei Schriftführern das Protokoll jeder Sitzung zu vollziehen. Will er sich an der Debatte beteiligen, so muß er den Vorsitz abtreten. Er ist ferner berechtigt, die Redner auf den Gegenstand der Verhandlung zurückzuweisen und zur Ordnung zu rufen. Ist das eine oder das andre in der nämlichen Rede zweimal ohne Erfolg geschehen, und fährt der Redner fort, sich vom Gegenstand oder von der Ordnung zu entfernen, so kann die Versammlung auf Antrag des Präsidenten, nachdem der Redner auf diese Folge aufmerksam gemacht worden, demselben das Wort entziehen. Bei allen Verhandlungen erteilt der Präsident demjenigen Mitglied das Wort, das nach Eröffnung der Verhandlung oder nach Beendigung der vorhergehenden Rede zuerst darum nachsucht. Sofortige Zulassung zum Wort kann nur verlangt werden, wenn der Redner »zur Geschäftsordnung« sprechen will. Persönliche Bemerkungen sind am Schluß der Verhandlung oder im Fall der Vertagung am Schluß der Sitzung, tatsächliche Ausführungen aber alsdann überhaupt nicht mehr zulässig. Wenn ein Mitglied die Ordnung verletzt, so ist es vom Präsidenten mit Nennung des Namens darauf zurückzuweisen. Im Falle gröblicher Ordnungsverletzung kann ein Mitglied durch den Präsidenten aus der Sitzung ausgeschlossen werden; wenn dasselbe den Saal trotz Aufforderung nicht verläßt, so kann der Präsident die Sitzung aussetzen oder aufheben. Gegen Ordnungsruf oder Ausweisung kann der hiervon Betroffene schriftlich Einspruch tun, worauf der Reichstag in der nächstfolgenden Sitzung ohne Verhandlung darüber entscheidet, ob die Einschreitung gerechtfertigt war. Ferner kann der Präsident, wenn in der Versammlung störende Unruhe entsteht, die Sitzung auf bestimmte Zeit aussetzen oder ganz aufheben. Kann er sich in solchem Fall kein Gehör verschaffen, so bedeckt er sein Haupt, womit die Sitzung auf eine Stunde unterbrochen ist. Sodann steht dem Präsidenten die Handhabung der Polizei im Sitzungsgebäude zu; er kann einzelne Ruhestörer von der Tribüne entfernen oder diese ganz räumen lassen. Der Präsident ist befugt, Reichstagsmitgliedern bis zu acht Tagen Urlaub zu geben. Endlich ist derselbe Vorsitzender einer etwaigen Kommission für eine Adresse an den Kaiser, auch Mitglied und Sprecher einer jeden Deputation. Die Schriftführer haben für die Aufnahme des Protokolls und den Druck der Verhandlungen zu sorgen, daher auch die Revision der stenographischen Berichte zu überwachen. Sie lesen die Schriftstücke vor, halten den Namensaufruf, vermerken die Stimmen etc.
Zum Zwecke der Wahlprüfung wird der Reichstag durch das Los in sieben Abteilungen von möglichst gleicher Mitgliederzahl geteilt, denen eine möglichst gleiche Zahl von Wahl Verhandlungen durch das Los zuzuweisen ist. Wahlanfechtungen und Einsprachen von Reichstagsmitgliedern, die später als zehn Tage nach Eröffnung der Tagung, bez. bei Nachwahlen nach Feststellung des Wahlergebnisses erhoben werden, bleiben unberücksichtigt. Wenn eine rechtzeitig erfolgte Wahlanfechtung oder Einsprache vorliegt, oder wenn die Abteilung die Gültigkeit einer Wahl durch Mehrheitsbeschluß für zweifelhaft erklärt, oder wenn zehn anwesende Mitglieder der Abteilung einen aus dem Inhalt der Wahlverhandlungen abgeleiteten, besonders zu bezeichnenden Zweifel erheben, so sind die Wahlverhandlungen an die Wahlprüfungskommission abzugeben. Findet die Abteilung sonstige erhebliche Ausstellungen, ohne daß die Voraussetzungen für Abgabe an die Wahlprüfungskommission vorliegen, so ist von der Abteilung an den Reichstag Bericht zu erstatten. Bis zur Ungültigkeitserklärung einer Wahl hat der Gewählte Sitz und Stimme im Reichstag.
Für die Bearbeitung derjenigen Geschäfte, welche die Geschäftsordnung, die Petitionen, Handel und Gewerbe, Finanzen und Zölle, Justizwesen, den Reichshaushaltsetat betreffen, können besondere Kommissionen nach Bedürfnis gewählt werden. Außerdem kann der Reichstag für einzelne Angelegenheiten die Bildung von Kommissionen beschließen. Jede Abteilung wählt durch Stimmzettel eine gleiche Anzahl von Kommissionsmitgliedern. Tatsächlich werden übrigens die Mitglieder der Kommissionen von den Fraktionen des Reichstags erwählt, indem durch den sogen. Seniorenkonvent, der aus den Vertrauensmännern der einzelnen Fraktionen besteht, im voraus festgesetzt ist, wieviel Mitglieder eine jede Fraktion jeweilig in die Kommissionen entsenden soll. Die Kommissionen wählen aus ihrer Mitte Vorsitzenden und Schriftführer; sie sind beschlußfähig, sobald mindestens die Hälfte der Mitglieder anwesend ist. Wird einer Kommission die Vorberatung eines von Reichstagsmitgliedern gestellten Antrags überwiesen, so nimmt der Antragsteller, bez. das zuerst unterzeichnete Mitglied mit beratender Stimme an den Kommissionssitzungen teil. Die Mitglieder und Kommissare des Bundesrats können diesen Sitzungen ebenfalls beiwohnen. Nach geschlossener Beratung wählt die Kommission aus ihrer Mitte einen Berichterstatter, der die Ansichten und Anträge der Kommission in einem Bericht zusammenstellt. Dieser Bericht wird gedruckt und verteilt. Die Kommissionen sind aber auch befugt, durch ihren Berichterstatter mündlichen Bericht an den Reichstag erstatten zu lassen. Doch steht es letzterm frei, die Sache zur schriftlichen Berichterstattung an die Kommission zurückzuverweisen.
Eine bestimmte Reihenfolge der Beratungsgegenstände ist nicht vorgeschrieben. Die Regierungsvorlagen haben nicht, wie anderwärts, ein gesetzliches Vorzugsrecht. In der Regel findet in jeder Woche an einem bestimmten Tage (bis auf weiteres am Mittwoch) eine Sitzung statt, in der an erster Stelle die Anträge von Reichstagsmitgliedern und die Petitionen erledigt werden (sogen. Schwerinstag). Die Vorlagen des Bundesrats bedürfen dreimaliger Beratung (Lesung). Anträge von Reichstagsmitgliedern, die von mindestens 15 Mitgliedern unterzeichnet und mit der Eingangsformel: »Der Reichstag wolle beschließen« versehen sein müssen, erfordern nur dann dreimalige Lesung, wenn sie Gesetzentwürfe enthalten; außerdem genügt eine einmalige Lesung. Die dreimalige Lesung beginnt mit einer allgemeinen Verhandlung (Generaldebatte) über die Grundsätze des Entwurfs, die mit dem Beschluß darüber endigt, ob der Entwurf einer Kommission zur Vorberatung zu überweisen sei oder nicht. In diesem ersten Abschnitte der Verhandlung dürfen Abänderungsvorschläge (Amendements) nicht eingebracht werden. Die zweite Lesung erfolgt frühestens am zweiten Tage nach Abschluß der ersten und, wenn eine Kommission eingesetzt ist, frühestens am dritten Tage nach Verteilung der gedruckten Kommissionsanträge. Sie besteht in einer Verhandlung und daran sich schließender Abstimmung (Spezialdebatte) über jeden einzelnen Artikel der Vorlage. Nach Schluß der ersten bis zum Schluß der zweiten Lesung können Abänderungsanträge eingebracht werden. Am Schluß der zweiten Beratung stellt der Präsident mit Zuziehung der Schriftführer die gefaßten Beschlüsse zusammen, falls durch dieselben Abänderungen der Vorlage stattgefunden haben; diese Zusammenstellung bildet für die dritte Lesung die Grundlage, als welche außerdem die Vorlage selbst dient. Ist der Entwurf in zweiter Lesung in allen seinen Teilen abgelehnt worden, so findet eine weitere Beratung nicht statt. Die dritte Beratung erfolgt frühestens am zweiten Tage nach Abschluß der zweiten Lesung, bez. nach Verteilung der erwähnten Zusammenstellung; sie vereinigt nochmals eine General- und eine Spezialdebatte in sich. Bei der dritten Lesung bedürfen Abänderungsvorschläge der Unterstützung von 30 Mitgliedern. Die dritte Lesung endigt mit der Schlußabstimmung über Annahme oder Ablehnung der Vorlage, wie sie sich im Laufe der Verhandlungen gestaltet hat. Abänderungsvorschläge zu Anträgen von Reichstagsmitgliedern, über die nur einmal beraten wird, müssen ebenfalls von 30 Mitgliedern unterstützt sein.
Für die Reichstagsverhandlungen gilt der Grundsatz der Diskontinuität, d.h. die Verhandlungen einer jeden Tagung erscheinen als etwas Selbständiges, wenn sie auch tatsächlich freilich vielfach an Vorhergegangenes anknüpfen. Daher müssen Vorlagen des Bundesrats, die in einer Tagung nicht zur Beratung kamen (»unter den Tisch des Hauses gefallen« sind), Anträge und Petitionen in der nächsten Tagung wieder eingebracht werden, wofern sie zur Verhandlung kommen sollen. Ebenso sind Beschlüsse und Berichte einer Kommission, die in der einen Tagung dem Hause nicht unterbreitet wurden, für die andre Tagung nicht maßgebend.
Der Präsident hat die Fragen so zu stellen, daß sie durch »Ja« oder »Nein« beantwortet werden können. Unmittelbar vor der Abstimmung ist die Frage zu verlesen. Ist vor einer Abstimmung infolge einer darüber gemachten Bemerkung der Präsident oder einer der diensttuenden Schriftführer darüber zweifelhaft, ob eine beschlußfähige Zahl von Mitgliedern anwesend ist, so erfolgt Namensaufruf. Erklärt dagegen auf die erhobene Bemerkung oder den von einem Mitglied gestellten Antrag auf Auszählung des Hauses der Präsident, daß kein Mitglied des Bureaus über die Anwesenheit der beschlußfähigen Anzahl zweifelhaft sei, so sind damit Bemerkung und Antrag erledigt Die Abstimmung geschieht nach absoluter Mehrheit durch Aufstehen und Sitzenbleiben. Ist das Ergebnis nach der Ansicht des Präsidenten oder eines der diensttuenden Schriftführer zweifelhaft, so wird die Gegenprobe gemacht. Liefert auch diese noch kein sicheres Ergebnis, so erfolgt die Zählung des Hauses in folgender Weise: Der Präsident fordert die Mitglieder auf, den Saal zu verlassen. Sobald dies geschehen, sind die Türen bis auf zwei zu schließen. An jeder dieser beiden Türen stellen sich zwei Schriftführer auf. Auf ein vom Präsidenten gegebenes Glockenzeichen treten die Mitglieder, die mit »Ja« stimmen wollen, durch die eine, diejenigen, die mit »Nein« stimmen wollen, durch die andre Tür in den Saal ein. Die Schriftführer zählen laut die eintretenden Mitglieder. Sodann gibt der Präsident ein Glockenzeichen, schließt die Abstimmung und läßt die Türen des Saales öffnen. Jede nachträgliche Stimmabgabe ist ausgeschlossen; nur der Präsident und die diensttuenden Schriftführer geben ihre Stimmen nachträglich öffentlich ab. Der Präsident verkündigt das Ergebnis der Zählung. Auf namentliche Abstimmung kann beim Schluß der Beratung vor der Aufforderung zur Abstimmung angetragen werden; der Antrag muß von wenigstens 50 Mitgliedern unterstützt werden. Der Präsident erklärt die Abstimmung für geschlossen, nachdem der namentliche Aufruf sämtlicher Mitglieder des Reichstags erfolgt und nach Beendigung desselben durch Wiederholung des Alphabets Gelegenheit zur nachträglichen Abgabe der Stimme gegeben ist. Bei allen nicht durch Namensaufruf erfolgten Abstimmungen hat jedes Mitglied des Reichstags das Recht, seine von dem Beschluß der Mehrheit abweichende Abstimmung kurz begründet schriftlich dem Bureau zu übergeben und deren Aufnahme in die stenographischen Berichte, ohne vorgängige Verlesung in dem Reichstag, zu verlangen.
Die Zahl der Petitionen an den Reichstag ist sehr groß und nur ein geringer Teil derselben zur Verhandlung im Hause geeignet. Alle Petitionen gehen zunächst an die Petitionskommission. Petitionen, die mit einem Gegenstand in Verbindung stehen, der bereits an eine andre Kommission verwiesen ist, können dieser letztern durch den Präsidenten überwiesen werden.
Interpellationen an den Bundesrat müssen, bestimmt formuliert und von 30 Mitgliedern unterzeichnet, dem Präsidenten überreicht werden. Dieser teilt sie dem Reichskanzler abschriftlich mit und fordert denselben oder seinen jeweiligen Vertreter in der nächsten Sitzung des Reichstags zur Erklärung darüber auf, ob und wann er die Interpellation beantworten wolle. Erklärt sich der Reichskanzler zur Beantwortung bereit, so wird an dem von ihm bestimmten Tage zunächst derjenige, von dem die Interpellation ausgeht, der Interpellant, zum Wort und zu deren näherer Ausführung zugelassen. Hierauf folgt die Beantwortung, und an diese oder an eine etwaige Ablehnung der Beantwortung kann sich eine sofortige Besprechung des Gegenstandes anschließen, wenn mindestens 50 Mitglieder des Hauses darauf antragen. Adressen an den Bundesrat sind zwar nicht ausgeschlossen; üblich sind aber nur Adressen an den Kaiser, und nur von solchen handelt die Geschäftsordnung. Wird die Vorberatung einer solchen Adresse einer Kommission übertragen, so wird diese aus dem Präsidenten als Vorsitzendem und 21 Mitgliedern zusammengesetzt. Die Deputation zur Überreichung besteht außer dem Präsidenten aus durchs Los bestimmten Mitgliedern, deren Zahl der Reichstag feststellt.
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