[744] Reichstag, Bezeichnung für die Volksvertretung eines Reiches, wie sie im gegenwärtigen Deutschen Reich (s. unten), in Dänemark (s. d.), Schweden (s. d.), Ungarn (s. d.) und seit 1906 in Rußland (s. d.) üblich ist, während die Volksvertretung des zisleithanischen Teiles der Österreichisch-Ungarischen Monarchie Reichsrat heißt. R. hieß im frühern Deutschen Reiche die Versammlung der Reichsstände, d. h. der reichsunmittelbaren Mitglieder des Reiches, und später ihrer Bevollmächtigten (s. unten). Auch die 1848 in Frankfurt a. M. zusammenberufene deutsche Nationalversammlung wurde R. genannt, eine Bezeichnung, die mit der Gründung des Norddeutschen Bundes auf die Gesamtvolksvertretung der verbündeten deutschen Staaten übertragen ward.
Der Ursprung der deutschen Reichstage ist auf die Versammlungen der geistlichen und weltlichen Großen zurückzuführen, die im fränkischen Reiche teils gleichzeitig mit den Volks- und Heerversammlungen der März- und Maifelder, teils von diesen gesondert zur Beratung wichtiger Reichsangelegenheiten stattfanden. Diese Versammlungen erlangten nach der Abtrennung Deutschlands vom fränkischen Reich durch die Goldene Bulle, die Wahlkapitulationen und den Westfälischen Frieden eine geregelte Verfassung. Der R. versammelte sich auf Einladung des Kaisers an dem von ihm bestimmten, wechselnden Ort. Zu erscheinen berechtigt waren die Bischöfe, Reichsäbte, Herzoge, Grafen und andre edle Herren und Ministerialen, die der Kaiser berief; später (zuerst 1255) erschienen auch Abgeordnete der Reichsstädte. Seit dem 15. Jahrh. traten die Kurfürsten vermöge ihrer bevorzugten Stellung zu abgesonderter Beratung zusammen; dem gegebenen Beispiel folgten die weltlichen und geistlichen Reichsfürsten, und so teilte sich der R. in die drei Kollegien der Kurfürsten, unter denen Kurmainz, der Reichsfürsten, unter denen abwechselnd Salzburg und Österreich, und der Reichsstädte, unter denen diejenige Stadt den Vorsitz führte, in welcher der R. stattfand. Im 17. Jahrh. gelangte der Grundsatz zur Geltung, daß im Fürstenkollegium nur diejenigen, die den R. von 1582 besucht hatten, Virilstimmen (s. d.) haben, neu erhöhte fürstliche Häuser aber solche nur mit Bewilligung der Mitstände erlangen sollten; zugleich wurde bestimmt, daß die 1582 geführten Stimmen als am Territorium haftend angesehen werden sollten, so daß nach der Teilung eines Fürstentums die Teilhaber zusammen nur eine Stimme führten. In der letzten Zeit des Reiches wurden im Fürstenrat, der in eine geistliche und eine weltliche Bank zerfiel, 94 Virilstimmen geführt, wozu nach 6 Kuriatstimmen (s. d.) kamen. Das allgemeine Direktorium führte Kurmainz als Reichserzkanzler, bez. dessen Gesandter. Nur ein übereinstimmender Beschluß aller drei Kollegien konnte als Reichsgutachten (conclusum imperii) an den Kaiser gebracht werden. Zu wichtigen Geschäften wurden vom R. Reichsdeputationen (s. d.) eingesetzt, deren Beschlüsse teilweise gleiche Geltung wie die des Reichtags selbst hatten. Als der 1663 in Regensburg zusammengetretene R. sich in die Länge zog und zuletzt dortselbst ständig wurde, ließen sich die Stände nur noch durch Gesandte vertreten. Der Kaiser sandte einen Fürsten als Prinzipal kommissar zu seiner persönlichen Vertretung mit einem staatsrechtskundigen Kon kommissar. Je mehr die kaiserliche Macht abnahm und die staatliche Tätigkeit aus den Zentralorganen sich in die einzelnen Territorien zurückzog, desto mehr verlor der R. selbst an Bedeutung und sank schließlich zu einer Gesandtenkonferenz mit ungemein schleppendem Geschäftsgang herab, so daß die Auflösung des Reiches (1806) wenig mehr als eine bedeutungslose Form beseitigte. Sämtliche auf einem R. gefaßten Beschlüsse wurden im sogen. Reichsabschied oder Reichsrezeß zusammengefaßt. Die historische Kommission der bayrischen Akademie der Wissenschaften gibt die deutschen Reichtagsakten in zwei Abteilungen (13761519 und 15201806) heraus. Von der ersten Reihe sind bisher 12 Bände (bis 1437 reichend, Münch. u. Gotha 18671901), von der zweiten 4 Bände (Karl V., Gotha 18931905) erschienen. Vgl. Guba, Der deutsche R. in den Jahren 9111125 (Leipz. 1883); Ehrenberg, Der deutsche R. in den Jahren 12731378 (das. 1883); Wacker, Der deutsche R. unter den Hohenstaufen (das. 1882).
Von 180667 hatte Deutschland keinen R. Am 12. Febr. 1867 fanden in den Staaten des Norddeutschen Bundes die Wahlen zum R. des Norddeutschen Bundes statt, der bereits 24. Febr. d. J. feierlich in Berlin eröffnet wurde. Durch die Gründung des Deutschen Reiches (18. Jan. 1871), die sich als Eintritt der süddeutschen Staaten in den Norddeutschen Bund charakterisiert, gingen alle Rechte und Verbindlichkeiten des Norddeutschen Bundes auf das Deutsche Reich über, und aus dem R. des Norddeutschen Bundes wurde der deutsche R., der am 21. März 1871 zum erstenmal als solcher zusammentrat.
(Hierzu 3 Beilagen: Tafel »Reichtagsgebäude in Berlin«, Karte der Reichstagswahlen und Textbeilage: »Geschäftsordnung des deutschen Reichstags«.)
Der R. des neuen Deutschen Reiches, die Verlre tung des einheitlichen deutschen Volkes, geht aus allgemeinen und direkten Wahlen mit geheimer Abstimmung hervor. Die Wahlen erfolgen auf Grund des Wahlgesetzes vom 31. Mai 1869 und des Wahlreglements vom 21. Mai 1870 mit verschiedenen Nachträgen, deren letzter vom 21. April 1903 (s. Klosettgesetz) völlige Gleichheit der Stimmzettel (weißes Papier, gleiches Format, ohne Kennzeichen) und verschiedene Vorschriften zur Sicherung des Wahlgeheimnisses enthält. Jeder Deutsche ist in dem Bundesstaat, in dem er wohnt, Wähler, sofern er das 25. Lebensjahr zurückgelegt hat. Für Personen des Soldatenstandes des Heeres und der Marine ruht die Berechtigung zum Wählen (nicht aber das Recht, gewählt zu werden), solange dieselben bei der Fahne sind. Ausgeschlossen von der Wahlberechtigung sind: Personen, die unter Vormundschaft oder Kuratel stehen, oder über deren Vermögen der Konkurs gerichtlich eröffnet ist, oder die eine öffentliche Armenunterstützung beziehen oder innerhalb des letzten Jahres bezogen haben, endlich Personen, denen durch rechtskräftiges Urteil die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt sind, oder denen nach Maßgabe eines frühern Landesstrafrechts der Vollgenuß der staatsbürgerlichen Rechte entzogen ist. Wählbar zum Abgeordneten ist im ganzen Bundesgebiet jeder Deutsche, der das 25. Lebensjahr zurückgelegt[744] und einem zum Reiche gehörigen Staat seit mindestens einem Jahr angehört hat, sofern er nicht von der Wahlberechtigung ausgeschlossen ist. Niemand kann zugleich Mitglied des Bundesrats und des Reichstags sein. Auf durchschnittlich 100,000 Seelen (nach der bei Erlaß des Wahlgesetzes maßgebenden Volkszählung) trifft ein Abgeordneter; jedoch wird für einen Bundesstaat, dessen Bevölkerung diese Ziffer nicht erreicht, ebenfalls ein Abgeordneter gewählt. Der R. besteht aus 397 Mitgliedern, nämlich 236 aus Preußen, 48 aus Bayern, 23 aus Sachsen, 17 aus Württemberg, 15 aus Elsaß-Lothringen, 14 aus Baden, 9 aus Hessen, 6 aus Mecklenburg-Schwerin, je 3 aus Sachsen-Weimar, Oldenburg, Braunschweig und Hamburg, je 2 aus Sachsen-Meiningen, Sachsen-Koburg-Gotha und Anhalt und je einen aus den übrigen Staaten. Die Wahlperiode dauert fünf Jahre (Reichsgesetz vom 19. März 1888; früher drei Jahre); eine Auflösung des Reichstags kann während der Wahlperiode durch Beschluß des Bundesrats unter Zustimmung des Kaisers erfolgen. In diesem Fall müssen binnen 60 Tagen die Wähler und binnen 90 Tagen nach der Auflösung der neue R. versammelt werden. Auch darf der R. ohne seine Zustimmung nicht auf länger als 30 Tage und nicht mehr als einmal während derselben Session vertagt werden.
Nach Art. 31 der Reichsverfassung durften bisher die Reichstagsmitglieder als solche keine Besoldung erhalten. Infolge des Diäten gesetzes vom 21. Mai 1906 erhalten sie jetzt von Reichs wegen eine sogen. Aufwandsentschädigung in Form von freier Eisenbahnfahrt und jährlich 3000 Mk. in sechs verschiedenen Raten. Jedoch werden für jeden Tag, den der Abgeordnete in einer Plenarsitzung fehlt, 20 Mk. in Abzug gebracht. Das Fehlen wird durch Nichteintragen in die Anwesenheitsliste oder Fehlen bei einer namentlichen Abstimmung festgestellt. Als Mitglied einer andern politischen Körperschaft darf jemand Diäten nur beziehen, soweit er sie im Reichstag nicht erhält. Freie Eisenbahnfahrt genießen die Abgeordneten während der Dauer der Sitzungsperiode sowie acht Tage vor deren Beginn und acht Tage nach deren Schluß auf allen deutschen Eisenbahnen. Solange der R. vom Kaiser vertagt ist, fallen diese Aufwandsentschädigungen weg. Beamte bedürfen keines Urlaubs zum Eintritt in den R. Wenn ein Mitglied des Reichstags ein besoldetes Reichsamt oder in einem Bundesstaat ein besoldetes Staatsamt annimmt oder im Reichs- oder Staatsdienst in ein Amt mit höherm Rang oder Gehalt eintritt, so verliert er Sitz und Stimme im R. und kann seine Stelle in demselben nur durch neue Wahl wiedererlangen (Reichsvefassung, Art. 21). Ohne Genehmigung des Reichstags kann kein Mitglied desselben während der Sitzungsperiode wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung zur Untersuchung gezogen oder verhaftet werden, außer wenn er bei Ausübung der Tat oder im Laufe des nächsten Tages ergriffen wird. Auf Verl an gen des Reichstags wird jedes Strafverfahren gegen ein Mitglied und jede Untersuchungs- und Zivilhaft für die Dauer der Session aufgehoben (Art. 31). Auch darf kein Mitglied wegen seiner Abstimmungen oder sonstigen in Ausübung seines Berufs gemachten Äußerung gerichtlich oder disziplinar verfolgt oder sonst außerhalb des Reichstags zur Verantwortung gezogen werden (Art. 30). Die Verhandlungen des Reichstags sind öffentlich; wahrheitsgetreue Berichte darüber bleiben von jeder Verantwortlichkeit frei (Art. 22). Beschlüsse werden mit absoluter Stimmenmehrheit gefaßt; jedoch ist zur Beschlußfähigkeit erforderlich, daß die Mehrheit der gesetzlichen Anzahl der Mitglieder (also 199 Abgeordnete) anwesend sei (Art. 28). Der R. wählt sein Bureau, entscheidet über die Legitimation seiner Mitglieder und regelt seinen Geschäftsgang und seine Disziplin durch eine Geschäftsordnung (Art. 27). Die neueste Fassung dieser Geschäftsordnung stammt vom 10. Febr. 1876 mit je zwei Abänderungen vom Jahre 1895 und 1902 und einer solchen von 1906. Die Reichstagsabgeordneten sind Vertreter des gesamten Volkes, nicht etwa nur der Interessen ihres Wahlkreises, und an Aufträge und Instruktionen der Wähler nicht gebunden (Reichsverfassung, Art. 20 ff.). Die Mitglieder und Kommissare des Bundesrats (s. d.) sind befugt, im R. zu erscheinen, jederzeit das Wort zu verlangen und den Standpunkt der verbündeten Regierungen oder ihrer eignen Regierung zu vertreten. Er hat insbes. das Recht der Mitwirkung bei der Gesetzgebung und bei gewissen wichtigen Akten der Verwaltung, wi Festsetzung des Reichshaushaltsetats, Ermächtigung zur Aufnahme von Anleihen, Übernahme von Garantien, Beschlüssen über Bau und Konzessionierung von Eisenbahnen, Kontrolle der Reichsverwaltung etc. Ferner steht ihm das Recht der Gesetzesinitiative, das Petitionsrecht und, wenn auch nicht auf Grund der Verfassung, so doch infolge praktischer Übung, das Recht, Adressen zu erlassen und Interpellationen an die Vertreter der Reichsregierung zu. Über die Verwendung aller Einnahmen des Reiches muß dem R., ebenso wie dem Bundesrat, jährlich durch den Reichskanzler Rechnung gelegt werden. Staatsverträge über Gegenstände, die in den Bereich der Reichsgesetzgebung gehören, bedürfen der Genehmigung des Reichstags. Die Beratungen des Reichstags werden entweder durch Vorlagen des Bundesrats oder durch Anträge der Mitglieder veranlaßt, auch durch Petitionen, die der R. verfassungsmäßig entgegennehmen und dem Reichskanzler oder dem Bundesrat überweisen kann. Die Reichstagsabgeordneten schließen sich je nach ihrer politischen Anschauung zu einzelnen Fraktionen (s. d.) zusammen. Über die Zusammensetzung des Reichstags seit 1871 vgl. die Tabelle auf beifolgender Karte »Reichstagswahlen«, mit Übersicht der Wahlkreise und Abgeordneten; die Geschäftsordnung des Reichstags s. in der Textbeilage. Vgl. Wiermann, Der deutsche R. (Leipz. 188485, 2 Bde.); v. Tzschoppe, Geschichte des deutschen Reichstagswahlrechts (Leipz. 1890); Robolsky, Der deutsche R., Geschichte seines 25jährigen Bestehens (Berl. 1893); Perels, Das autonome Reichstagsrecht (das. 1903); Specht und Schwabe. Die Reichstagswahlen von 18674903 (nebst den Programmen der Parteien, 2. Aufl., das. 1904); Weiß, Der deutsche R. und seine Geschäftsordnung (das. 1906); »Amtliches Reichstagshandbuch« (zuletzt Berl. 1903). Über das nach den Plänen P. Wallots erbaute Reichstagsgebäude in Berlin s. Näheres im Artikel »Parlamentsgebäude«, S. 457; Abbildung und Grundriß zeigt beifolgende Tafel. Vgl. Streiter, Das neue Reichstagshaus (Berl. 1894); Rapsilber, Das Reichstagsgebäude (das. 1895); P. Wallot, Das Reichstagsgebäude in Berlin (Tafelwerk, Leipz. 18971900).
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