I.

[83] Der Beginn des Jahres 1841 brachte mir das freudige Ereignis, daß ich Regis, den ich damals bei all seinen Wunderlichkeiten noch als lieben und wahren Freund betrachten durfte, die Anzeige machen konnte, der König von Preußen, Friedrich Wilhelm IV., habe nach seinem großen Interesse für geistige Produktivität ihm eine Jahrespension von 300 Talern in Gnaden gewährt. Ich verdankte diese Mitteilung und großenteils zugleich die Vermittlung der Sache selbst unserer neuen, sich etwas von langem Kranksein erholenden Freundin, Frau von Lüttichau, und ihren gewichtigen Konnexionen in Berlin, und ich fühlte mich wirklich dadurch wesentlich beruhigt, da ich nun da eine Aussicht auf drückenden Mangel beseitigt sah, wo dieser mir besonders ans Herz gegriffen haben würde.

Wie denn aber im Leben wohl Glück als Unglück nicht allein zu kommen pflegen, so schloß sich auch diesmal solcher günstigen Begegnung alsbald eine andere an, und zwar eine, die wegen ihrer besondern Schönheit es gar sehr verdient, hier ihr Gedächtnis sorgsam zu bewahren. Es handelt sich aber um nichts Geringeres als um die Erscheinung sämtlicher neun Musen!

Für, den Abend des 3. Januar hatten nämlich den Meinigen unsere Künstler die Darstellung eines Tableau vorgeschlagen und eingerichtet, wie es in Dresden noch nie und überhaupt wohl bisher nur selten gesehen worden war. Im obern Salon meines Hauses war eine künstliche,[83] leichte, großenteils aus Karton bestehende Wand hergestellt und mit Kränzen architektonisch nach Art eines großen Marmorfrieses angenehm verziert worden, auf welcher nun der Chor der Musen, ganz so, wie sie etwa an Tempelfriesen des Altertums vorzukommen pflegen, diesmal aber aus wirklichen lebenden und schönen Gestalten dargebildet erscheinen sollte. Man kann denken, daß wenn Künstler wie Hübner, Bendemann und Rietschel solche Vorstellung ordnen und leiten und wenn sich Gestalten dazu verwenden lassen, die es verdienen, als Musen gesehen zu werden, so mußte, bei einer gewählten Beleuchtung, der Effekt ein außerordentlicher sein. Um die Ähnlichkeit mit dem Skulpturwerk eines Frieses vollständig zu machen, waren nicht nur auf lichtweißem Grunde die Gestalten alle mit weißen Draperien geziert und trugen goldene Attribute, sondern die Wand des Kartons war bei den meisten Figuren nach Maßgabe ihres Umrisses dermaßen ausgeschnitten, daß dieselben wirklich zum Teil in die Wand zurücktraten und somit die Eigentümlichkeit eines Hautrelief auf das merkwürdigste darstellten. In Wahrheit, als vor der versammelten zahlreichen Gesellschaft der breitgespannte Vorhang zurückwich, als die schönen Gestalten in voller Neunzahl sichtbar wurden, hier die schöne Melpomene mit tragischer Maske und der Keule des Helden, dort Urania sinnend, Polyhymnia in der schönen Stellung der gewandreichen Antike des Berliner Museums, Erato mit goldener Lyra, Klio mit der Rolle der Geschichte und so fort, wurde von allen Seiten ein allgemeiner Laut der Bewunderung hörbar, und gern hätte man stundenlang an den Schönheiten, deren immer mehr in Gliederhaltung, Antlitz und Gewandung erschienen, je mehr man hinsah, sich geweidet. Zugleich ertönte aus dem Nebenzimmer ein Quartettgesang wohl komponierter und gesungener Horazischer Verse, und[84] dreimal nacheinander zeigte sich und verschwand so das zauberhafte Bild, das gewiß keiner der Zuschauenden jemals wieder vergessen hat.

Soviel ist übrigens gewiß, daß von allen Arten der Tableaustellung, wie sie sich, namentlich nach dem Vorgange von Goethes »Wahlverwandtschaften«, mit zuweilen etwas zur Absurdität getriebener Wiederholung vielfältig ausgebreitet haben, keine ist, welche bei vollkommener Ausführung ein künstlerisches Auge so vollkommen zu befriedigen vermag als diese! Denn wenn das Nachahmen von Gemälden durch lebende Personen notwendig immer vieles vermissen lassen muß, wodurch uns eben erst das Bild recht zum Bilde wird, wenn hier die Feinheiten der Konzentration des Lichts meistens wegfallen, und selbst die zu große Annäherung an die Wirklichkeit, oder vielmehr die Wirklichkeit geradezu, sehr leicht eine Art von Wahrheit gibt, welche zu ihrem Nachteil mehr an Wachsfiguren als an Bilder erinnert, so hat dagegen eine von einem vollendeten Kunstsinne angeordnete Darstellung der obigen Art, eben weil sie entschieden von der bloßen Natur sich ablöst und einfachere Forderungen der Beleuchtung stellt, dabei aber in vieler Beziehung, besonders in der Gewandung, wirkliche Idealformen der Plastik darzubieten vermag, einen ganz entschiedenen Vorzug und kann zugleich wesentlich beitragen, bei vielen ein näheres Verständnis der Plastik selbst teils vorzubereiten, teils wirklich zu fördern.

Soll ich übrigens bei dieser Gelegenheit, nachdem nun nicht nur jene erste Ausgabe meiner »Physiologie«, sondern auch eine später mit Sorgfalt bearbeitete zweite Auflage derselben weit hinter mir liegen, mich noch einmal über dies Ganze aussprechen, so kann ich zwar nicht verkennen, daß dasselbe in Beziehung auf die jetzt mit hauptsächlichem Eifer fortgesetzten mikrologischen Forschungen[85] über Form und Mischung des menschlichen Organismus schon damals manche Mängel verriet und natürlich gegenwärtig deren noch weit mehr verraten muß, allein bei alledem glaube ich entschieden behaupten zu dürfen, daß in der Gesamtheit dieses Buches eine gesündere und angemessenere Ansicht des Lebens herrschte, als sie in fast allen übrigen, zum Teil mit so enormen Material überhäuften Physiologien damals gefunden wurde, und daß auch über das Wesen der einzelnen Lebensfunktionen hier Ansichten und Aufschlüsse gegeben worden sind1, welche insbesondere dem Arzte erfolgreicher und förderlicher erscheinen müssen, als sie gewöhnlich sonst ihm geboten worden. Es war jedenfalls wirklich für eine geraume Zeit das letzte philosophisch erfaßte Werk über die ganze ungeheuere Aufgabe, den Wunderbau der menschlichen Organisation in seinem fortwährenden Werden zur Anschauung zu bringen, und wenn einmal wieder die Zeit kommt, da man allgemeiner gewahr werden wird, daß der Geist des Menschen seinem eigenen höhern Wesen nach sich nicht an dem allein genügen lassen kann, was zunächst durch die Phantasmagorie der Sinne ihm vorgespiegelt wird, sondern daß er bestimmt ist, hinter allem Sachlichen dem Ursachlichen nachzuspüren und auch darüber ein entschiedenes Schauen zu erreichen, so wird es wohl nicht fehlen, daß man zugleich den Bestrebungen, welchen ich nun schon ein halbes Jahrhundert nachgehe und welche sich in diesem »System der Physiologie« ganz besonders konzentriert hatten, wieder genügende Anerkennung gewähren wird.[86]

Während ich denn nun in dieser Weise nach gewohnter Art von Tag zu Tag tätig mich bewies, bereitete sich ein Ereignis vor, welches auf einmal und für längere Zeit dem Kreise dieser Tätigkeit mich entrücken und einen ganz andern mir anweisen sollte. Unser gesamtes königliches Haus befand sich nämlich bereits seit Monaten durch Nachrichten vom toskanischen Hofe in Unruhe versetzt, Nachrichten, welche von einem längern und ernstern Erkranken der ältesten Tochter des Großherzogs, der Erzherzogin Karolina, meldeten. Viele dieser Berichte wurden mir mitgeteilt, und ich wurde gewöhnlich um so mehr aufgefordert, darüber mich auszusprechen, als ich das Glück gehabt hatte, vor mehrern Jahren die jüngere Schwester der Kranken, Prinzeß Auguste, welche ihre Tante, die verwitwete Frau Großherzogin Marie, damals hierher gebracht hatte, von einem drohenden Brustleiden wiederherzustellen. Nach und nach mochte nun, eben weil die Krankheit der Erzherzogin Karolina denselben Charakter, nur entschiedener, angenommen hatte, der Wunsch rege geworden sein, zu versuchen, ob eine Behandlung im Sinne der deutschen Medizin vielleicht kräftiger wirken und dem Leiden festere Schranken entgegenzustellen imstande sein möchte, als die bisherige Behandlung durch italienische Ärzte; kurz, in der Mitte des Februar teilte mir der König mit, daß es des Großherzogs und sein eigenes Verlangen sei, daß ich mich nach Florenz verfüge, um die Leitung dieser Behandlung zu übernehmen.

Ich verließ Dresden den 25. Februar abends, um erst den 4. Mai dahin zurückzukehren. Ein Tagebuch dieser Reise, die manche merkwürdige Erfahrung mir heranführte, findet sich in meiner »Mnemosyne« abgedruckt. Leider waren die Resultate derselben in ärztlicher Beziehung nicht erwünschter Art und konnten es nicht sein, da bereits entschiedene Kavernenbildung in den Lungen der Kranken[87] vorhanden war. Bei alledem hatte ich die Freude, als ich im April Florenz verlassen mußte, die Prinzessin etwas gekräftigt und beruhigt zu sehen; es war indes nur vorübergehende Erleichterung; sie starb im Oktober, und nur ein wichtiges Resultat ließ sich jedenfalls aus diesem Vorfalle für die Heilkunde ziehen, nämlich: daß auch da, wo entschiedene Anlage zur Phthisis vorwaltet, eine rechtzeitige gründliche Behandlung sie unschädlich zu machen imstande ist.

Übrigens sollte ich, ehe ich diesmal Dresden verließ, noch einen wahren Kummer erfahren, indem ich es durch keine angewandte Sorgfalt und Mühe verhindern konnte, daß meines teuern Freundes Tieck älteste Tochter, die vielbegabte Dorothea, infolge der Masern und eines daran sich unmittelbar anschließenden typhösen Fiebers ihm und zugleich eigentlich uns allen durch den Tod entrissen wurde. Die jüngere Tochter, Agnes, war ebenfalls masernkrank, kam aber glücklich durch. Tieck war tief erschüttert, und doch hatte er die Kranken selbst gar nicht besucht, was ihm denn vielfach als Egoismus und Härte ausgelegt wurde und mir freilich auch durchaus gegen die Natur gewesen wäre; aber wer will in Sachen des Gefühls dem andern Gesetze geben! Ist es nicht vielleicht so, daß manche sehr sensible Natur es überhaupt nicht erträgt, ein geliebtes Leben noch im Stande der beginnenden Auflösung zu sehen, während eine andere, stärker liebende und weniger empfindliche sich noch an den letzten Schatten mit Zähigkeit anklammert? Dorothea war seit langen Jahren zugleich sehr intim mit Frau von Lüttichau, und so erwuchs auch dieser kaum von eigenem schwerem Erkranken etwas sich erholenden Freundin ein tiefer Schmerz aus einem so tragischen Falle. Kurz, ich reiste sehr verstimmt ab und ließ viel Betrübte hinter mir. Es gehörte die ganze Fülle des Frühlings, wie er mir schon im März[88] in Florenz entgegenlachte, dazu, doch endlich alle diese traurigen Bilder wieder zu verscheuchen!

Einen interessanten Zuwachs zu Dresdens architektonischen Schönheiten fand ich übrigens bei meiner Rückkehr hier vor: es war das neue Theater! Reich und bequem in den besten Verhältnissen und im ganzen nach sehr origineller Anlage, war es in einigen Jahren nach Sempers Plänen heraufgestiegen und während meiner Abwesenheit mit Goethes »Tasso« glänzend eröffnet worden. Meine Beziehung zu der Familie des königlichen Intendanten, Herrn von Lüttichau, verschaffte mir die freundliche Einladung, die Loge desselben öfters zu benutzen, und wie manchen und großen künstlerischen Genuß hatte ich nicht seitdem diesem bequemsten der Plätze zu danken! Zunächst war mir unter manchen anderm merkwürdig, Mademoiselle Georges, jene damals freilich schon sehr passierte Größe des französischen Theaters, von dort noch einigemal zu sehen, und trotz ihres übermäßigen Embonpoint und der nur mäßigen Unterstützung durch ihre Truppe mußte man doch sagen: diese Leute verstanden das Handwerk und hatten längst das Stümperhafte abgelegt, das hin und wieder auf deutschen Bühnen mich so vielfaltig verdrossen hatte. Die Gesellschaft gab neben einigem sogenannten Klassischen auch »La Tour de Nesle«, eins jener Sprößlinge aus den Schulen Victor Hugos, und wir hatten freilich alle Ursache, den Himmel anzurufen, nicht zu viel von dieser neuen gallischen Art über den Rhein herüberzulassen! Um so mehr Freude machte es deshalb noch, die Ungher und den berühmten Tenor Moriani, deren beider persönliche Bekanntschaft ich schon in Florenz gemacht hatte, noch einmal hier im selben Sommer in einer italienischen Oper, und namentlich in der »Lucretia Borgia«, all den Reichtum an Stimmmitteln und Stimmkultur entfalten zu hören, der mich an[89] ihnen schon in Florenz entzückt hatte. Die Ungher-Sabatier wurde auf diese Weise zugleich für ein Jahr einigermaßen einheimisch in Dresden, und da ich mich veranlaßt fand, hier und da als Arzt ihr nützlich zu sein, so gab dies wieder einigemal Gelegenheit, daß sie, um mir sich dankbar zu zeigen, unsere Musikabende durch ihr großes Talent in wahrhaft dankenswerter Weise verschönte. Kurz, die Erinnerungen an Italien klangen in solcher Art sehr lange nach.

Sowie ich übrigens wieder etwas mehr zur Ruhe gekommen war, tauchten natürlich auch meine Vorarbeiten zu dem obgedachten Buche über Goethe wieder heller aus dem Dunkel hervor, wohin die Störung der Reise sie verwiesen hatte; die vergilbten Briefe und Papiere wurden aufs neue durchgesehen, mit manchem andern verglichen, und so kam ich denn auch oftmals auf das dicke Riemersche Buch über Goethe zurück, ohne mich jedoch irgendwie recht daran erfreuen zu können. Bei manchem Interessanten ärgert mich doch das Buch in vieler Beziehung, und ein anderer hätte wohl leicht etwas Tüchtigeres gegeben. Es ist zuweilen, als müßte dieser Name an »Leder« erinnern! Sucht man doch vergebens nach so recht pünktlicher historischer Mitteilung, vergebens nach Aufschluß über manche Verhältnisse, deren Einwirkung auf Goethe man klarer kennen möchte, vergebens auch nach genauen Angaben über irgend noch vorhandene handschriftliche Schätze; und aus dem persönlichen Umgange – wieviel Wichtigeres hat da Eckermann mitgeteilt! Gewiß, um nur eine dergleichen Zusammenstellung aus großenteils längst Gedrucktem zu geben, da hätte auch einer ausgereicht, der Goethe nie gesehen hatte, und doch, so groß ist der Zauber dieser Persönlichkeit, daß man immer wieder mit Interesse und Anregung in dem Buche liest!

Nicht unbemerkt will ich ferner lassen, daß die letzten[90] schönen Herbsttage dieses Jahres mich noch einmal nach Leipzig geführt hatten, wo manches Naturhistorische und Pathologische durchzusehen war und wo nebenbei auch die Ausstellung mich interessierte, obwohl ich mehr und mehr anfing einzusehen, woran es doch eigentlich der modernen Kunst überhaupt fehle. Jenes tiefe In-sich-selbst-Brüten der meisten alten Künstler nämlich, jenes gleichsam nur wie durch Naturnotwendigkeit bedingte Produzieren, weil man nicht anders kann – es verliert sich ja in den Neuern so viel mehr; es mischt sich – sowie in früherer Zeit oft das Handwerk – so in der neuern weit mehr die Industrie und das Elegante des Maschinenwesens hinein, und das war freilich nun auch hier genugsam zu bemerken. Andere und vielfältig bessere Gedanken erregte mir daher damals wie in alter Zeit ein Gang durch das Rosental an einem dieser feinen herbstlichen Morgen! Schon fielen die gelbbraunen Blätter der Eichen in Massen, Tausende der alten knorrigen Äste streckten aus blaulichem Duft und von hübschen Streiflichtern überstrahlt wie zum Gruß ihr letztes Laub mir entgegen, und wieviel Erinnerungen an all das, was in jungen Jahren ich dort gesonnen und geträumt hatte, tauchten dabei in meinem Geiste wieder auf! Bin ich doch auch später immer aus diesem Walde nur mit eigener innerer Bewegung getreten.

1

Ich rechne dahin namentlich die von mir zuerst als »photographisch« aufgestellte Theorie des Sehens, welche später von einem bedeutenden Augenarzte, Dr. Heymann, in einer Abhandlung (vgl. Verhandlungen der Kaiserlich Leopoldinisch-Carolinischen Akademie vom Jahre 1830) in zweckmäßiger Weise weiter ausgedeutet worden ist.

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 2. Band. Weima 1966, S. 83-91.
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