II.

[91] Es kam jetzt der Mai [1842] heran und entführte uns Ludwig Tieck, den der König nach Potsdam kommen ließ, von wo er nur noch einmal nach Dresden zurückkehren sollte, um dann im Herbst, bei der völligen Übersiedlung nach Berlin, jenen gefährlichen Schlaganfall zu[91] erleiden, von welchem er nie ganz sich wieder erholt hat. Diesmal hatte ich ihn noch »Was ihr wollt« ganz prächtig lesen hören und verdankte außerdem seinen Gesprächen die erste Hinweisung auf Droysens Übersetzung des Äschylos, die mich denn in stillen Stunden späterhin viel beschäftigt hat. Mich interessierte zumal seine Schilderung des wunderlichen Satyrspiels »Proteus«, und zwar um so mehr, als ich nicht umhin konnte, zu erkennen, wie Goethe von daher so manches für den zweiten Teil des »Faust« und die »Klassische Walpurgisnacht« entnommen habe. »Der alte Schatzgräber hat doch überall eingeschlagen!« war der Gedanke, der mir hierbei oft vorschweben mußte. –

In dieser Frühjahrszeit kam es nun vor, daß wir auch in Dresden einmal eine größere Ausstellung hatten, und zwar für einen neugebildeten Verein, zum Andenken des vor nicht langem verstorbenen Tiedge veranstaltet, jenes Uraniasängers, welcher gleichsam den andern Pol unserer Dichterwelt so lange gebildet hatte. Eine Menge alter, fast vergessener Bildergespenster von Matthäi, Klengel, Hartmann standen da wieder auf und sahen einander gelangweilt an, selbst einiges von Friedrich nahm sich damals schon etwas wunderlich aus, gleichwie einiges Frühere von mir selbst. Sieht man doch bei solchen Gelegenheiten sogleich, wie schnell das meiste veraltet und wie bald nun das fremdartig werden kann, was eben in seiner Zeit doch so manchen Beifall fand. Aber wie weniges ist dagegen, was sich wirklich zum Zeitlosen zu erheben vermag! Diesmal erreichten übrigens all diese Sachen wenigstens einen Zweck, nämlich einigermaßen beizutragen zur Bildung eines Unterstützungsfonds für bedürftige Künstler, Dichter und deren Hinterlassene.

Bei alledem fällt mir gegenwärtig noch ein, daß um diese Zeit es sich auch ereignete, daß aus einer kleinen sächsischen[92] Fabrikstadt ein Kaufmann zu mir kam, dem seine wohl nur dürftigen Geschäfte Muße gelassen hatten, sich mit allerhand Lektüre, auch naturwissenschaftlicher, zu befassen. So waren ihm denn auch wohl einige Sachen von mir, die »Erlebenbriefe« und die »Physiologie« namentlich, in die Hände gekommen und hatten ihn warm, ja schwindelnd gemacht. Nach seiner Art – ohne alle nötigen Vorstudien – hatte er nämlich das alles auf seine Weise sich zurechtgelegt, seine Phantasie hatte in bunten Schwankungen ihre kleinen Flügel entfaltet, und Wahres und Falsches untereinander hatte ihn jetzt mit einemmal sich selbst als begabten Forscher empfinden lassen. Es blieb nichts übrig, als nach einigen freundlichen Worten ihn zu entlassen und ihm eine schwerlich benutzte Warnung mit auf den Weg zu geben. In Wahrheit ist mir (und zwar vielleicht mir gerade mehr als andern wegen meiner allgemeinern und poetisch lebendigern Weise auch in wissenschaftlichen Darstellungen) schon öfters aus dergleichen Zudrängen von Unberufenen zu den Mysterien der Wissenschaft mancherlei Not erwachsen! Scheinen doch die schwierigsten Fragen oft gerade dem Unwissenden nur ein leichtes Spiel und werden nicht von Leuten dieser Art Dinge für ganz außer Zweifel erklärt, worüber der Mann von Fach nur mit der größten Behutsamheit einige Vermutungen wagt! Solch ein zur Unzeit und nur halb Gelehrter zum Beispiel kann absprechen über die Natur des Sonnenkörpers oder über die Ringe des Saturn, als ob es sich um Rechenpfennige auf seinem Ladentische handelte, und schwer genug wird es dann immer bleiben, ihn zum Anerkennen seiner Unzulänglichkeit nur einigermaßen zu bringen. – Im ganzen wird man indes mit Leuten dieses Schlags immer noch leichter zu Fach kommen als mit manchem andern im Leben selbst! Wurde es mir doch schon damals recht oft deutlich, wie wenige[93] Naturen, mit denen man vielleicht früher einmal sogar ganz gut sich verständigt hatte, solchem Verständnis nun auch für spätere Perioden hinlänglich aushalten! Es ist seltsam, wie man sich nicht nur aus Epochen, sondern auch aus Menschen herauslebt! Nichtsdestoweniger erhält mein Herz für alle, die mir irgendeinmal wirklich einst nähertraten, eine feste und wohlwollende Erinnerung! Mein hiesiger nächster naturwissenschaftlicher Freund, Thienemann, ist jetzt auch, seit man ihn in die Bibliothek gespannt hat, tief hypochondrisch, glaubt hektisches Fieber zu haben, und ich kann ihn nicht bewegen, zuweilen wie sonst mit uns zu essen, da ich aber nicht Zeit habe, öfters zu ihm auf seinen Weinberg hinauszufahren, so sehe ich ihn auch fast gar nicht mehr! Dergleichen ist betrübend, und doch sind es am Ende nur die fortrückenden Abschuppungen und Dehiszenzen des Menschenlebens, zu denen niemand etwas kann!

Dabei darf ich wohl auch berühren, wie es von jeher mir Bedürfnis gewesen sei, wenn mich im Leben etwas recht scharf angriff und mich so ganz unbedingt festhalten wollte, daß ich dann mich zwischendurch und zeitweilig am liebsten zu einer ganz andern geistigen Aufgabe und Arbeit flüchtete, um so eine gewisse tiefere innere Freiheit mir nie rauben zu lassen! Man wird hiernach verstehen, warum auch in jenen schweren Wochen ich durchaus nicht aufhörte, ja nicht aufhören konnte, immerfort einzelne wenige Mußestunden der obgedachten Arbeit über Goethe1 zu bewahren und Trost und Erfrischung aus der Beschäftigung mit Vollendung eines Büchleins zu schöpfen, welches auch späterhin mir stets lieb geblieben ist, mir hier und da Freunde erworben hat und vielen ein willkommener Wegweiser zu jener mächtigen Individualität[94] wurde, welche vielseitig, wie sie im höchsten Grade selbst genannt werden muß, nie recht begriffen werden kann, wenn man ihr nur mit einem gewöhnlichen und einseitigen Maßstabe entgegentritt.

Als lebendige Gegenstände anthropologischer Studien kamen wir übrigens diesmal dort auch ein paar eigentümliche Gestalten recht echt moderner Welt vor: Fürst Pückler und Gräfin Hahn-Hahn; letztere von dem ersten mir zugeführt. Beide wurden den kranioskopischen Messungen unterworfen, und ich hatte denn meine eigenen Gedanken dabei. An der heitern, zwar etwas kuriosen, aber doch eigentlich bedeutenden Individualität des Fürsten erfreute ich mich immer am meisten. Ich hatte ihm verschiedentlich ärztlichen Rat zu erteilen und fand ihn da in der Stadt mitunter auf eine mir neue Weise in Toilettenmysterien vertieft, denn es ist bekannt, daß dieser Vielgereiste, der im Orient durch seinen schönen weißen Bart überall Aufsehen machte, in europäischen Kreisen dagegen nur mit dunkelgefärbtem Haar und Bart zu erscheinen pflegte, und natürlich verlangt denn dergleichen mancherlei Vorbereitungen, in denen ich ihn somit zuweilen überraschte. Auf unserm Landhause dagegen hatten einst auch die Meinigen ihr Vergnügen an dem freien, ungenierten und doch durchaus feinen Wesen des vollendeten Weltmannes, den es nicht im mindesten stört, wenn er im Vorbeifahren am Hause seines Arztes absteigt und die Familie eben bei Tisch findet, der sich vielmehr gleich mit hinsetzt, es sich trefflich schmecken läßt und dabei den angenehmen Gesellschafter vollkommen zu machen versteht, um endlich ebenso schnell und gemütlich wieder zu verschwinden.

Was dagegen die Gräfin betraf, so ließ sich damals noch wenig ahnen von ihrer spätern geistlichen Umkehrung; aber schon hatte sie ein Auge verloren, und wäre nicht[95] zu viel modernster Salonton in ihr gewesen, so hätte man an einzelnen Äußerungen von Geist und Gefühl sich wohl erfreuen können. Neulich schickte mir der Buchhändler ihre »Erinnerungen aus Frankreich« zur Ansicht, worin ich beim Durchblättern folgende hübsche Stelle fand, welche sie als Frau zu gut charakterisiert, um sie nicht hier mitzuteilen. Sie erzählt da viel vom Schauspiel und auch von Voltaires »Mahomed« und von der »Phädra«, dann sagt sie: »›Phädra‹ ist schön! Der lange Trauermantel, welcher der Liebe nachschleppt, ihre goldenen Flügel überhüllt und bald Schwäche, Sünde, Schuld, bald Schmerz heißt: der liegt auf der ›Phädra‹, und man fragt sich hier beklommen, ob solche Liebe nicht ein Fluch ist, den göttliche Mächte verhängen und den der Mensch erleidet!«

Ihre Kopfmaße waren nicht eben bedeutend, und der Verlust des einen Auges gab ihrem sonst nicht unangenehmen Gesicht ein etwas verstörtes Ansehen. Man nahm damals einen Abguß des ganzen Kopfes, welcher denn noch jetzt ebenfalls in meiner kranioskopischen Sammlung sich vorfindet.

Nebenbei fühlte ich mich übrigens diesen Sommer einmal wieder veranlaßt, einen öffentlichen Vortrag über Kranioskopie zu geben; denn da in Dresden eine von nun an jährlich wiederkehrende Versammlung sächsischer Bezirksärzte gehalten wurde, so ergriff ich diese Gelegenheit gern, um gerade die so wichtige Seite jener Lehren für gerichtliche Medizin auch in diesem Kreise mehr und mehr zur öffentlichen Geltung zu bringen! Dafür hat mir allerdings mancher vernünftige Mann seine Beistimmung erklärt, und schon damals hatte ich die Freude, daß Oken in der »Isis« meine Kranioskopie mit den Worten anzeigte: »Hier muß man keine zigeunermäßigen Deutungen der Schädelbuckel suchen, man findet nur eine wissenschaftliche[96] Grundlage für die verhältnismäßige Entwickelung der Hauptteile des Gehirns, aber damit sichere Anhaltepunkte für die Beurteilungen der Talente, Geistesrichtungen und Neigungen der Persönlichkeit usw.«

Für den Herbst dieses Jahres warteten meiner noch ein paar glückliche Begegnungen! Einmal, indem der 9. September, Geburtstag jener seit Jahren mir und den Meinigen treu bewährten Freundin, bei welcher wir neun Jahre früher den 28. August so schön feiern konnten, diesmal mich abermals mit Frau und Kindern auf ein anderes an den Ufern der Mulde in einer Art von Waldeinsamkeit gelegenes Gut derselben führte, wo wieder Sonnenlicht und Mondnacht, Waldesluft und Stille unserm kleinen Zirkel ein schönes Vollgefühl lebendigen Daseins gab, wie es denn auch gerade in diesem Sinne mir kaum je wieder erschienen ist, so viel auch sonst des Schönen und Großen mir noch für die künftigen Jahre bewahrt bleiben sollte.

Dann am 14. September sahen wir nun auch Tieck noch einmal nebst unsern Künstlern und einigen andern Freunden bei uns zu Tisch, und nur tags darauf siedelte er nun ganz nach Berlin über. Er war diesmal noch heiter und humoristisch mitteilend wie immer, schien dabei aber doch zuweilen das Ernste und Harte dieses Schrittes selbst zu fühlen; eine Vorempfindung, die nicht nur der bald nachher eintretende (oben schon erwähnte) Schlaganfall, sondern auch seine ganze, so viel andere dortige Stellung nur zu sehr bestätigt haben. Noch einmal auch hörten wir ihn lasen – er las den »Faust« (ersten Teil ohne »Walpurgisnacht«) ganz vortrefflich –, habe ihn dann aber später nie wieder lesen hören, und hat er doch unfehlbar auch da überhaupt nie wieder so gelesen; denn nach jenem Anfall blieb die Sprache merklich verändert, einer Glocke gleich, die weil sie einen Sprung bekommen, nie wieder[97] den frühern helltönenden Klang erhält. Es liegt ja so viel Wunderbares und Charakteristisches in der menschlichen Stimme, und welche Melodie hatte die seinige!

Man kann übrigens denken, wie seltsame Gedanken mir nun gerade damals eine im vollsten Gegensatz zu solchem Sprechen stehende Stimme erregen mußte, als nämlich tags darauf, nachdem der scheidende Freund uns noch einmal durch den schönen Fluß seiner Rede erfreut hatte, ein gewisser Herr Faber aus Wien mich besuchte, welcher hierhergekommen war, um seine Sprechmaschine dem Publikum vorzustellen, und sofort auch mich einlud, derselben einen Besuch zu schenken. Der Apparat leistete wirklich Merkwürdiges, und in der zweiten Auflage meines »System der Physiologie« habe ich in der Lehre von den Sprachorganen deshalb dieser Leistungen ausführlicher gedacht, eben weil sie jedenfalls ganz geeignet waren, das Wunder der lebendigen Bildung besser begreifen zu lassen; aber nichtsdestoweniger wird man mir glauben, daß ich mich allerdings mitten in einem Hoffmannschen Märchen zu befinden wähnte, als das Ding mit seinen deutlich artikulierten, aber sonderbar hölzernen Tönen mich jetzt anschnarrte: »Der Hofrat Carus lebe hoch!« – Der Kontrast eines toten Mechanismus, mit dem Reize vollster und geistigster Lebendigkeit des Organismus, ist mir kaum jemals tiefer und eindringlicher erschienen!

Am 6. Oktober ging ich selbst auf einige Tage nach Berlin, wohin ich seit neun Jahren nicht wieder gekommen war, und zwar diesmal zuerst mit der Eisenbahn, jedoch noch über Leipzig. Ich verweilte etwas bei D'Alton in Halle, meinem treuen Mitarbeiter an dem großen Werke der Erläuterungstafeln, und freute mich seines zierlichen, ihm von seinem Schwiegervater Rauch trefflich ausgeschmückten Hauses sowie an seinem stillen hübschen Familienleben. Berlin selbst mit seinen von Jahr zu Jahr[98] mehr sich häufenden Schätzen von Kunst und Wissenschaft verfehlte abermals nicht, mir auch wieder einen bedeutenden Eindruck zu machen, obwohl immerfort dort das Factice mir ein mächtiges Übergewicht über das Naturwüchsige verriet. Eine angenehme Zugabe zu älterm Bekannten gewährte mir diesmal das an Kunstschätzen reiche Schadowsche Haus, noch von dem alten Herrn selbst und zugleich von den Eltern unsers Bendemann bewohnt.

Daß ich den erstern einige Jahre zuvor in Dresden mit Glück ärztlich behandelt und hergestellt hatte und in gleicher Weise auch den Kindern der letztern in Dresden als Arzt und Freund wert geworden war, verschaffte mir dort eine überaus freundliche Aufnahme. Jener Veteran der Kunst vergaß jetzt meine Kritik seines Polyklet in den »Berliner kritischen Jahrbüchern«, mit welcher er früher nicht so recht einverstanden gewesen war, und lud manche Notabilitäten Berlins für mich zu einem Festmahl zusammen, bei welchem er natürlich »des Mannes, der eine bekannte, aber schadhaft gewordene Antike in Dresden glücklich restauriert habe«, mit besonderm Toast rühmend gedachte. Bei dem greisen Paare Bendemann dagegen erfreuten mich vorzüglich manche treffliche Jugendarbeiten von Bendemann und Hübner sowie von dem Düsseldorfer Lessing. Zumal wurde mir des erstern erstes Freskobild im Salon seiner Mutter, »Die Künste, versammelt um den Springquell der Poesie«, äußerst merkwürdig und lieb. Trägt es doch durch und durch das Gepräge jenes tiefen Schönheitssinnes, der diesen Künstler so sehr auszeichnet und früh schon seinen »Trauernden Juden« ihre Berühmtheit verschaffte.

Man kann nun denken, daß ich nicht in Berlin sein konnte, ohne meinen verehrten, indes so hart betroffenen Freund Tieck in Potsdam aufzusuchen Am 11. Oktober war ich nach Sanssouci zur königlichen Tafel geladen und hatte[99] mich so eingerichtet, vor und nach derselben bei Tieck, dem der König ein hübsches kleines Haus mit Garten hatte mieten lassen, eine Stunde zubringen zu können. Wohl fand ich den Freund sehr verändert. Die Haltung war gebrechlicher geworden, die Zunge war für das Aussprechen mancher Buchstaben noch etwas gelähmt, der Kopf war schwer und nie ganz aufzurichten, nur hinter all diesem der Brennpunkt des Geistes war noch unverändert derselbe, warf immer noch lichte Strahlen durch die Nebelatmosphäre der Krankheit und bewährte somit vollkommen das Ewige seines Wesens. Noch war ja auch seine alte Freundin, Gräfin Finkenstein, um ihn, und obwohl er mir sagte: »Ich und die Gräfin, zwei Krüppel – die Blinde und der Lahme« –, so hatte er doch damals noch die Freude eines wechselseitigen Austausches der Gedanken, war mitunter auch wieder so wohl, daß er beim König sein konnte, der ihn immerfort mit Güte überhäufte, und so schied ich zuletzt nach manchem belebten Gespräch doch immer mit einer gewissen Genugtuung von ihm.

Nach Berlin zurückgekehrt, hatte ich übrigens noch gar manche interessante Begegnungen und Freude an manchem bedeutenden Kunstwerk. Zu den erstern rechne ich Dove, den Physiker und Meteorologen, der mir in einer Abendgesellschaft bei Bendemanns bekannt wurde und mit welchem ich alsbald in tiefere Gespräche, namentlich über organische Bedeutung der Erde und deren Spirallauf sowie die Spiralbewegung der Himmelskörper überhaupt, mich vertiefte. Beides waren Vorstellungen, die damals schon und auch jetzt noch vor dem Berliner Wissen keine Gnade fanden, und was jene Spiralbewegung insbesondere betraf, so wollte Dove sie überhaupt nicht gelten lassen, »da ja bekanntlich die Planeten nur in Ellipsen umliefen«. Wir diskutierten viel darüber, bis ich endlich einen rundfüßigen silbernen Leuchter ergriff, ihn auf einen[100] Bogen weißes Papier stellte und nun Dove bat, während ich den Leuchter langsam fortrückte, ihn ruhig und gleichförmig mit der Spitze eines Bleistifts zu umkreisen. Natürlich zeigte sich, als wir den Leuchter entfernten, eine aufgezeichnete Spirale auf dem Papier, und wenn nun seit Argelanders Rechnungen nicht geleugnet werden kann, daß die Sonne mit allen ihren sie umkreisenden Weltkörpern unablässig fortrückt, so war auch an diesem Beispiele vollkommen klar, daß ebenso die Planeten im Weltraume keine wahren Ellipsen beschreiben, sondern, wenn der Sonnenlauf irgendwie ein unendlicher ist (was nicht fehlen kann), ebenfalls jeder Planet in einer unendlichen elliptischen Spirale sich bewegen muß, welches denn eben hatte bewiesen werden sollen. Ich darf sagen, daß ich bei alledem in diesem Gegner doch einen sehr gebildeten und kenntnisvollen Geist erkannte, von dem ich wohl gewünscht hätte, ihn in größerer Nähe zu haben, immer der alten Erfahrung wieder nachgehend, daß man mit dem wahrhaft Wissenden nie streiten werde, ohne selbst dabei irgendwie Nachhaltiges zu lernen. Auch Ehrenberg und die naturwissenschaftlichen und anatomischen Museen gaben mir reichen Gewinn. Der erstere hatte damals eben begonnen, sich mit den fossilen Infusorien vieler Länder zu beschäftigen, und gönnte mir einen Blick in seine reichen Sammlungen, allwo ich den außerordentlichen Fleiß des unermüdlichen Forschers zu bewundern volle Gelegenheit hatte, indem er in einem kleinen Kasten mit einer Menge noch kleinerer Abteilungen auf feinen Glasschieberchen in Tausenden von Präparaten die animalischen oder vielmehr protorganischen Überreste dieser Art aus allen Weltteilen gesammelt und dergestalt geordnet aufbewahrt hatte, daß er in jedem Augenblick gerade diejenigen Körperchen in natura aufweisen konnte, wovon in irgendeiner Tafel seines großen Werks über fossile Infusorien[101] die Abbildung gegeben war. Er hatte außerdem damals eben angefangen, auch die unterirdischen Infusorienlager von Berlin zu untersuchen, und so stieg ich mit ihm selbst in die tiefen Grundlegungen zum Neuen Museum hinab, wo aus 20 Fuß langen Pfählen eben die ungeheuern Rostlager eingerammt wurden, auf denen sich später jener Prachtbau erheben sollte. Wirklich fanden sich in diesen uralten Schlammlagern Millionen lebender Infusorien vor, von denen wir einige nachher mikroskopisch untersuchten, und nicht selten bildeten ihre Kieselschalen so ganz und gar die Substanz dieses Bodens, daß Ehrenberg den Versuch gemacht hatte, aus dieser Ton- und Kieselmasse kleine Gefäße brennen zu lassen, welche ein wunderschönes Korn zeigten und von angenehm rötlicher Farbe waren. Was die Museen betraf, so zogen mich diesmal namentlich die Schädel der Wilden an, und ich versäumte nicht, eine Anzahl der merkwürdigsten zu messen und in meine kranioskopischen Register einzutragen.

Endlich kam mir denn auch noch zustatten, daß eben die große Kunstausstellung sich eröffnet fand, auf welcher Lessings »Huß vor dem Konzilium zu Konstanz« notwendig als das merkwürdigste Neue erscheinen mußte. Das Bild, welches ich später auch in Dresden wiedersah und lange und wiederholt betrachtete, beschäftigte mich viel; es gehörte nebst den frühern Bildern von Bendemann und nächst Lessings eigener »Hussitenpredigt«, die ich eben auch in Berlin in den Zimmern der Königin wiedergefunden hatte, mit zu dem Bedeutendsten, was damalige neuere Kunst mir entgegentreten ließ. Der Künstler hatte große Sorgfalt verwendet auf Köpfe und Gestalten der hier zu Gericht sitzenden hohen Geistlichen sowie auf deren Kostüme und sonstige Äußerlichkeiten, und wenn ich auch fühlte, daß alledem, wenn ich an ähnliche Darstellungen bei den alten Italienern und Spaniern dachte, noch manches[102] abging an Präzision, Tüchtigkeit und plastischer Farbenbehandlung, so war doch eins, was mich besonders festhielt und was mir noch jetzt einen Eindruck macht, wenn ich daran zurückdenke: es war die ausgebreitet auf die Brust gelegte Hand des Reformators, worin die tiefe seelische Überzeugung und der dem Feuertode ruhig entgegengehende Glaube dieses teuern Mannes so klar und schön ausgesprochen sich fand, daß sie wahrhaft unvergeßlich dem Beschauenden sich einprägte.

Mit nicht minderm Interesse sah ich dann auch noch in der Raczynskischen Sammlung die große in Ölfarben ausgeführte Zeichnung von Kaulbachs seitdem so berühmt gewordener geisterhaften »Hunnenschlacht«. Das Bild dieses gespenstischen Kampfes erregte mir selbst im Innern viel gedankenhaften Streit! Es war nämlich zwar so gewaltig in der Zeichnung, so originell in den Gedanken und so bedeutend in der Wirkung, wie ich wenig vorher gesehen hatte; bei alledem aber überkam mich doch ein Gefühl mehr des künstlich Gemachten als des völlig Freien und Gesunden, so daß ich mich schwer hiervon wieder ganz losmachen konnte. Der Gedanke selbst, das Wiederaufstehen der Geister der Erschlagenen vom Schlachtfelde zu neuem Kampfe in luftigen Regionen, hatte mir etwas Barockes, Widerhaariges, mit dem ich nie fertig werden konnte, und sollte es nun doch einmal vorgestellt sein, so war es mir immer nur in trüben Ossianschen Nebelbildern denkbar, und gerade das also, was besonders daran gerühmt werden muß, die sichere und feste Plastik der Zeichnung, es brachte mich immerfort von neuem aus dem Konzept und hinderte mich, die Idee des Werkes als Ganzes in mich aufzunehmen; etwas, worauf es doch zuletzt gerade bei dergleichen am meisten ankommt.

Auch bei meinem lieben Freunde Rauch, der schon an dem großen Monument Friedrichs II. arbeitete, verbrachte ich[103] mit Gerhard, Bunsen, Steinrück, Parthey und andern einen ergiebigen Abend, und so war denn genug vorhanden, um dieses abermalige kurze Berliner Leben nicht ohne Erfolge zu lassen; ja damit endlich diese Existenz auch zu einem melodischen Abschluß komme, hörte ich noch am letzten Abend bei Hänsel Mendelssohn (dessen Schwager) sehr schön auf dem Flügel phantasieren, als wobei ich mich eigentlich zum erstenmal hier ordentlich heimisch fühlte und den Reverien eines solchen Meisters mit vollster Zustimmung folgte, dessen bald darauf stattfindende Übersiedelung nach Sachsen gewissermaßen ein Gegengewicht genannt werden durfte gegen den Verlust, den wir durch Tiecks Wegzug erlitten hatten. Sollte indes doch auch er uns nicht auf lange gegönnt sein!

Bald nach meiner Zurückkunft, im November, starb Hofrat Haase, Inspektor des Antikenkabinetts, ein Mann, der mir zwar geistig nie sehr nahegestanden hatte, dessen Stellung und archäologisch Kenntnisse mir indes bei manchen Kunstbetrachtungen wohl erwünscht gewesen waren. Hatte mich doch bei meiner damaligen Hinwendung nach den alten Tragikern vieles aus jenen Regionen immer wieder angezogen, und oft führte dann dergleichen wieder zu Besuchen der Antikengalerie und zu Besprechungen antiquarischer Gegenstände. So hatte ich z.B. wieder im Eisenbahnwagen bei der Berliner Reise mich in die »Helena« des Euripides vertieft und schrieb damals darüber an Regis: »Es bleibt doch vorzüglich das eigentümlich Romantische daran, was mich festhält, und ich ärgere mich eigentlich an Schlegels Urteil darüber, der es eine ›belustigende Tragödie‹ nennt, von welchen beiden Bezeichnungen ich sicher weder das eine noch das andere zugeben könnte.« Ich las es noch mehreremal, und immer übte es auf mich eine bedeutende – ich möchte sagen – gegenständliche Wirkung.[104]

Wenn uns denn aber am meisten endlich doch immer das wirkliche Schauen dessen, was der Plastik der Griechen selbst als Musterbild vorschwebte, für rechtes Verständnis ihrer Kunst fördern wird, so muß ich hier noch einer Erscheinung gedenken, welche für alle eben erwähnte Studien mir damals ausnehmend zur rechten Zeit kam. Wir hatten nämlich alle schon vielfach jene merkwürdige Frau, die Schröder-Devrient, in Darstellungen antiker Gewandung, und zwar ganz vorzüglich als Norma bewundert, ja ich hatte sogar versucht, mit einigen unvollkommenen Strichen, selbst während des Spiels, etwas von diesen großartigen Gestaltungen mir in bleibenden Gedanken zu befestigen, auch ihr selbst wohl geklagt, wie leid es mir sei, das alles immer nur so im Fluge zu sehen und nie ruhig mit dem Stifte in der Hand diesen schönen Momenten folgen zu dürfen. Da versprach sie mir nun eines Tages, nach dem Stück heraus in meine Wohnung zu fahren und mir eine förmliche Sitzung zu geben. Und so geschah es! Das nächste Mal nach der »Norma« höre ich den Wagen vorfahren, sie steigt herauf in den mit hohem Licht mäßig erleuchteten Salon, und da stand sie als Norma nun nahe vor mir, bewegte sich in dieser weichen weiten Gewandung in den mannigfaltigsten Stellungen, die schönen nackten Arme warfen den Schleier in die großartigsten Falten, und das edle antike Gesicht blickte mir zu in Zügen, einer Helena nicht unwert, bis ich endlich, überfüllt mit Schönheit, ausrief, in dieser Stellung nun etwas zu verweilen! Hätte ich da die Macht der Zeichnung besessen, welche Konture hätten auf das Papier kommen müssen!

Gewiß, die Linien, die ich ziehen konnte, sie waren nur sehr unvollkommen, und das später daraus entstandene Bild von der Norma, unter ihrer Eiche sitzend, bei durchbrechendem Mondlicht, es ist auch nur ein schwaches[105] Kunstwerk geblieben, aber was ich alles aus dieser Musik der Bewegungen gelernt habe und was mir dabei für Verständnis anderer unsterblichen Kunstwerke klargeworden ist, das bleibt doch mein eigen, das habe ich dieser Frau für immer zu danken, und das durfte darum auch hier in diesen Blättern nicht unerwähnt bleiben, die ja eben versuchen sollen, von allem, was ich in Kunst und Wissen erreichte und wie ich es erreichte, ein möglichst treues Bild zu geben.

So zieht man also immer wieder frische Segel auf, um auf der Bucht dieses Lebens noch einige Zeit umherzuschwanken! Gebe Gott schöne Küstenländer, tüchtige erkleckliche Arbeit und heitere Gefährten!

1

Sie erschien unter dem Titel »Goethe, zu dessen näherm Verständnis« in Leipzig bei Weichart (1843).

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 2. Band. Weima 1966, S. 91-106.
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