III.

[45] So war denn also diese wirklich etwas abenteuerlich begonnene Fahrt doch glücklich vollendet, und als Fortsetzung dieses Glücks betrachtete ich es mit Recht, daß nun erst, am 28. August, dem Tage, der uns allen ja des Guten und Großen schon genug gebracht hatte, die Niederkunft meiner geliebten Tochter erfolgte und daß sie dabei einen wackern Knaben ans Licht brachte, der denn[45] natürlich ebenfalls mit dem Namen Wolfgang benannt worden ist. Ich hatte später die Freude, ihn am Tage, als man das fünfzigjährige Jubiläum meiner eigenen Promotion feierlich beging, selbst als neupromovierten medizinischen Doktor zu begrüßen.

Auch die nächste Zeit brachte noch manches Gute – so unter anderm führte sie mir im September mehrere merkwürdige Fremde heran. Die Versammlung der deutschen Ärzte und Naturforscher war nämlich diesmal in Prag gewesen, und schon das war Veranlassung genug; viele reisende Gelehrte durch Dresden zu bringen. Auch Freund Otto aus Breslau brachte wieder ein paar Tage in Dresden zu und kam gerade recht, um in unserm hübschen Saale an einem schönen Musikabend teilzunehmen, den wir der Schröder-Devrient und Clara Wieck zu verdanken haben sollten. Der erstern, deren größte Zeit in diese und die nächstfolgenden Jahre fiel und deren mächtiger dramatischer und musikalischer Wirkung in diesen Blättern schon oftmals gedacht worden ist, war ich jetzt durch einige ärztliche Beratungen nähergetreten, und sie freute sich ebenso der aufrichtigen Bewunderung, welche ihr in meinem Hause zuteil wurde, wie des schönen Klanges ihrer eigenen Stimme in unserm akustisch so günstig wirkenden Saale. Die letztere betreffend, so war sie nun schon als Pianistin zu verdientem, seitdem immer noch sich steigerndem Ruhme gelangt und hatte alle die Hoffnungen erfüllt, welche man schon damals von ihr hegen durfte, als sie (wie früher erzählt wurde) vor einer Reihe von Jahren als zehnjähriges Kind uns zum erstenmal die größte Teilnahme abgewann.

Von dem Rest des Jahres wüßte ich etwas Besonderes nicht aufzuzeichnen, dafür tauchte sich aber gleich der Anfang des neuen (1838) in die Farbe der Trauer.

Gegen Ende des März schrieb ich an Regis: »Seit bald[46] fünf Wochen ist mein Haus in peinlicher Unruhe über meine Charlotte Rietschel. Sie liegt krank an einem schleichenden Fieber, und noch ist die Gefahr nicht vorüber. Ich habe schwere Tage gehabt und kam mir hier als Arzt oft vor wie Tell, wenn er vom Haupte des geliebten Kindes den Apfel schießen soll, ohne das teuere Haupt zu treffen, ja meine Lage war die noch schwierigere und quälendere! Jetzt kommt Kreysig mit hin, aber der alte Mann wartet auch fast mehr auf Rat von mir als ich von ihm!«

Wir hatten das liebe Kind, das in den letzten Wochen, gleich der erlöschenden Lampe des armen Klärchen noch einmal mit Hoffnung uns etwas erleuchtete, aus Rietschels Wohnung wieder zu uns gebracht. Ich selbst fuhr sie in meiner Batarde, eingehüllt in Decken und in meinen Armen, wieder in unser Haus. Alles, was nur umsichtigste Pflege schaffen konnte, wurde aufgeboten, einmal noch atmete sie Frühlingsluft und Sonne in meinem Garten, dann sanken die Kräfte mehr und mehr, und am 12. Mai abends gegen zehn Uhr, als eben ein duftig geröteter Vollmond über den Bäumen erschien – verschied sie.

Früh hatte am klarsten Morgen ein Frost so manche junge Pflanze in meinem Garten getötet, die schönste Blume aber welkte erst abends.

Es bleibt mir unvergeßlich, wie nach einigen wilden trüben Phantasien an ihrem letzten Lebenstage eine ganz wunderbare Verklärung sich über ihr Antlitz verbreitete. Ein tiefer Frieden ruhte da auf den feinen blassen Zügen, und sie sprach noch milde wohlbewußte Abschiedsworte, bevor der letzte, endlich in Tod übergehende Schlummer sie umfing.

Die Krankheit hatte in ihrem eigenen geheimnisvollen Gange, der, dunkel und problematisch, wie er mir und[47] Kreysig stets blieb, aller wohldurchdachtesten Heilversuche spottete, auch mich tief erschüttert und auf lange allen frischen Lebensatem vernichtet1. Ende Mai brachte ich mit Mariane meinen Albert wieder nach Leipzig zu Fortsetzung seiner Studien, sah dortige Anstalten und Sammlungen wieder durch, suchte meine alten Bäume im Rosental wieder auf und ging später im Juni nach Eger, wo Prinzeß Johann in Franzensbrunn nach meiner Anordnung Bäder brauchte und wo ich dann selbst nicht verfehlte, in den so erquickenden Quellen mich etwas wieder zu kräftigen.

»Denn was verschmerzte nicht der Mensch!« – Es traf sich sonderbar, daß ich in Franzensbrunn noch die dringende Aufforderung meines Freundes Professor Stark aus Jena erhielt, die schwerkranke Gemahlin des großherzoglichen Oberstallmeisters von Bielka in Weimar zu besuchen, und wirklich, nachdem ich mir hierzu den Urlaub unserer Prinzessin erbeten, fuhr ich bei schönem Sommerwetter durch das weite fruchtbare thüringische Land da hinüber und hatte dort nach Krankenexamen und Verordnung nur eben noch so viel Zeit übrig, um abends einen Spaziergang unter den Bäumen jenes schönen Parks zu machen, den ich, seit ich das letztemal bei Goethe war, nicht wieder betreten hatte. Was war seit jener Zeit nicht alles anders geworden! Ich fuhr, um mit Stark noch zu konsultieren, über Jena zurück, und auch an diesen Ort knüpften sich die mannigfaltigsten Erinnerungen aus früher Zeit.

Als ich dann wieder nach Franzensbrunn zurückgekommen war, trat eines Morgens ganz unerwartet Leopold von Buch bei mir ein, indem ich gerade mit mikroskopischer[48] Untersuchung der zierlichen vorweltlichen Bazillarienschalen des dortigen Kieselgur beschäftigt war. Der berühmte Geolog befand sich wieder auf einer seiner vielen Geniereisen, die er in altem Frack und Schuh und Strümpfen auszuführen pflegte, und eben das Schadhaftwerden dieser Fußbekleidung hatte ihn hier einen Tag aufgehalten, um »einen Wundarzt für alte Schuhe« in Anspruch zu nehmen. Meine Untersuchungen waren ihm sehr willkommen, und der neu durchgrabene Kammerbühl gab denn auch zu manchen sonstigen interessanten Besprechungen Anlaß. Schon nachmittags wanderte er weiter. Da es der Prinzessin vollkommen gut ging, so reiste auch ich, nachdem ich abermals mit dem würdigen Grafen Kaspar von Sternberg zusammengetroffen war, wieder nach der Heimat ab, hatte aber diesmal die Meinigen veranlaßt, mir nach Teplitz entgegenzukommen, wo wir denn den 6. Juli, nach so viel überstandenem Elend, in der heitern Gegend und warmen Luft uns möglichst erheiterten und wiederherstellten. Merkwürdig war mir dort auch noch das Zusammentreffen mit dem bejahrten Generalstabchirurgen der preußischen Armee, Rust, der, mir von früher her als kräftiger Operateur und durchgreifender Führer preußischen Armeemedizinalwesens wohlbekannt, ja mir insbesondere geneigt (hatte er doch einen Band seines »Archiv« mir gewidmet und denselben mit meinem Brustbilde verziert), jetzt hier als Erblindeter mir entgegentrat. Er versicherte mich, daß obwohl er durch vierzig Jahre schon seinen Schülern die Lehre von der Cataracta (grauen Star) vorgetragen habe, er doch nie geglaubt hatte, daß das Übel mit so rasender Schnelligkeit sich entwickeln könne. Er war nämlich früh bei hellem Tage erwacht und hatte seinen Diener heftig ausgescholten, »warum er die Fensterladen nicht geöffnet habe, es sei stockdunkel«! Er hoffte von dem Gebrauche[49] der Bäder eine günstige Vorbereitung für die künftige Operation, hat jedoch seine Erblindung nicht sehr lange überlebt.

Auch Alexander von Humboldt war in Teplitz, und ich verfehlte nicht, ihm mein Zusammentreffen mit Leopold von Buch und dessen Veranlassung zu besonderer Erheiterung mitzuteilen, wie sich denn auch sonst wieder mancherlei interessante Gespräche ergaben.

So diente also diesmal dieses Landleben teils der Wissenschaft, teils der Ausheilung der Seele nach schweren Erfahrungen! Und als ich wieder zur Stadt kehrte, fühlte ich mich denn auch wieder empfänglicher für die gesamte immerfort sich ändernde Bewegung täglichen Lebens.

Auch die Kunst gelangte nach und nach wieder zu ihrem alten Rechte. Bendemann arbeitete jetzt seine ersten Entwürfe aus für die großen Säle des königlichen Schlosses, auf welche ich noch später mehrfach zurückkommen werde, und gab mir dadurch viel zu denken und manches zu besprechen. Das Theater führte außerdem die großen Werke von Meyerbeer, »Robert der Teufel« und »Die Hugenotten«, uns vor, und im letztern war es wieder namentlich die Devrient, welche in außerordentlicher Wirkung glänzte. Dabei leitete mich der Charakter dieser Musik zu manchen neuen Betrachtungen. »Es ist merkwürdig«, schrieb ich, »wie auch die echteste Kunst immer genötigt ist, ihr Antlitz zu ändern mit der Zeit. Wie weit ist Shakespeare von Sophokles, und wie unrecht, wollte man erstern in der Form nach letztern messen. Die Franzosen freilich, albern genug die Alten deutend, fanden einst Shakespeare abscheulich, weil er nicht antik war, und kamen dadurch in ihrer eigenen Poesie auf arge Irrwege! Ist es doch freilich auch immer so gar schwer, über das, was in unserer Zeit selbst entsteht oder doch weit in sie hineinreicht, ein ganz reines Urteil zu haben. Das echte Kunstwerk[50] muß erst auch in anderm Sinne zeitlos werden, um ganz seinem Werte nach gewürdigt zu sein.«

Neben allem übrigen ging denn auch die Betrachtung des Dante jetzt ihren Weg weiter. Im Dezember lud Prinz Johann, nebst Tieck und Förster, auch mich abends zu sich ein und las uns die große Skizze der Psychologie des Thomas von Aquino vor, welche er aus den Quellen für das »Purgatorio« (den zweiten Teil seiner Übersetzung) bearbeitet hatte, und lehrte dadurch eben mich selbst erst verstehen, wie doch noch von Aristoteles her in diesen alten Kirchenvätern zum Teil eine bessere und tiefere Anschauung von dem Wesen des menschlichen Geistes enthalten ist als in so vielen Neuern; indem dort recht deutlich hervortritt, daß alles das, was späterhin so oft unter dem Namen der Lebenskraft von der Seele getrennt wurde, hier noch geradezu als Teil des Seelenlebens selbst, das ist als qualitates vegetativae, angesehen wird. Der erste Teil dieses übersetzten Dante war übrigens in jener Zeit unter dem Namen »Philalethes« längst ausgegeben und hatte bereits große Anerkennung gefunden, doch wurde das Spätere immer vollendeter und in den Noten immer reicher, wie wir dies aus den fortgesetzten Lesungen in dem erwählten und schon früher erwähnten Komitee mit wahrem Genügen fortwährend anzuerkennen die reichste Gelegenheit hatten.

Und so eilte denn auch dies Jahr, das so Schweres mir gebracht hatte, zum Schlusse und ließ nur in den Christtagen noch die schöne Gabe eines neugewonnenen Freundes zurück, indem Bendemann, dessen junge Frau ich glücklich durch schwere Krankheit geführt hatte, mir damals eine seiner besten Zeichnungen verehrte, das große Blatt »Pilger, in der Wüste verirrt«, an welchem seitdem viele Künstler und Kunstfreunde bei mir sich erfreut haben; eine Gabe, an welche dann mit Anfang des Jahres 1839[51] die mir von Rietschel zum 3. Januar verehrten Büsten des kolossalen olympischen Jupiter, des Apollo von Belvedere und der altgriechischen Pallas Athene sich anschlossen, welche noch jetzt die schöne Treppe meines Hauses in so würdiger Weise verzieren.

Die Hauptaufgabe meiner wissenschaftlichen Arbeiten blieb übrigens fortwährend der neue spezielle Teil der »Physiologie«. Was den ersten allgemeinen betraf, so kamen mir von den verschiedensten Seiten Beweise der Anerkennung zu Händen, sowie es andererseits allerdings auch an Widersachern nicht fehlte, ja ich die entschiedenste Verneinung desselben insofern erfuhr, als man in Galizien ihn bereits unter die verbotenen Bücher gesetzt hatte, was ich freilich im Sinne der dortigen geistlichen Herren eigentlich keineswegs inkonsequent nennen konnte.

Man kann nun denken, daß neben jener Arbeit und neben einer allein schon reichliche Lebensaufgaben bietenden Praxis das Umsehen in sonstiger Literatur sehr beschränkt hatte bleiben müssen, indes erinnere ich mich nichtsdestoweniger zweier Schriftsteller, welche doch auch damals, nicht ohne einen gewissen Eindruck hinterlassen zu haben, an mir vorübergegangen sind; es war einmal der Angelus Silesius und dann Dickens in seinen »Pickwickiern«. Auf den erstern, den alten Leibmedikus Kaiser Ferdinands III. aus dem 17. Jahrhundert, hatte mich Regis aufmerksam gemacht, und die Ausgaben desselben, welche von Franz Horn und Varnhagen besorgt worden waren, gaben eben denn auch hier die bequeme Übersicht des wirklich Bedeutenden, indem sie das Ungenießbare klüglich abschnitten. Man könnte diesen Angelus vielleicht am besten mit jenen Pflanzen der Alpenwelt vergleichen, die in rauher Luft und auf steinigtem Boden hervorbrechen und dabei doch oftmals eine große Feinheit und eigene[52] Süßigkeit sich bewahren. Eine ganz entgegengesetzte Wirkung machte mir dagegen Dickens, in welchem eigentlich mehr das überwuchernde Unkraut moderner Geselligkeit karikaturmäßig sich verkörpert, so daß nun freilich bei manchem scharfen und kecken Federzuge auch wieder auf lange der Leser durch bedeutende Steppen hindurchgeschleppt wird.

Ferner darf ich nicht übergehen, daß dieses Jahr das erste wurde, welches eins der größten Phänomene aller Neuzeit, das Eisenbahnwesen, mir nahe brachte und verdeutlichte, indem die Bahn zwischen Leipzig und Dresden (nächst der Fürth-Nürnberger die erste Deutschlands), von welcher ich voriges Jahr in Leipzig nur ein kleines Stück durch eine Probefahrt kennengelernt hatte, nunmehr dem öffentlichen Verkehr übergeben worden war und nach und nach ihre Wunder entwickelte. In Wahrheit, die jüngere Welt wird es bald gänzlich vergessen haben, wie sonderbar, fremdartig und geradezu dämonisch dieses große Verkehrsmittel damals ins Leben trat! – Hatten doch sonst ganz tüchtige Staats- und Finanzmänner jener Zeit ein Unternehmen wie das der Eisenbahn zwischen Leipzig und Dresden seiner Nützlichkeit und Rentabilität nach noch sehr in Zweifel gestellt und durchaus keine Ahnung gehabt von den ungeheuern Resultaten, welche Werke dieser Art dereinst und in der Folge gewähren würden. Wirklich! Diese Erfindung trat hervor wie Herkules, in der Wiege schon Schlangen würgend, und machte mit Riesenschritten nach allen Seiten sich Platz. Was jedem Kinde jetzt bekannt ist, die Einfachheit der Signale, die Zweckmäßigkeit der Waggons, die Phänomene des Fahrens selbst, das alles war damals wunderneu und erregte die mannigfaltigsten Besprechungen; und doch dauerte es lange, ja es mußten erst die großen Reisen durch Dampf möglich werden, bis die ganze Tragweite[53] von Phänomenen überblickt werden konnte, welche nach und nach auf sämtliche Angelegenheiten des Lebens so durchaus umgestaltend einwirken sollten.

Fast um dieselbe Zeit beschäftigte es mich auch zuweilen, eine Stunde in Rietschels Atelier zuzubringen, allwo eben die Büste der gefeierten Sängerin, der Schröder-Devrient, entstehen sollte. Ich hätte es gar zu gern gesehen, wenn auch ihre Statue dort hätte ausgeführt werden können! War doch in dieser Frau eine Plastik der Gestalt, wie sie selten gesehen worden ist, und es hätte da gewiß ein Werk hervorgehen können, welches an die Frauenstatuen des Phidias am Parthenon erinnern durfte! Allein der Gedanke, eine solche Statue späterhin an oder in dem neuen Theater aufzustellen, welches man jetzt eben aufzuführen begann, wurde, so angemessen es jedenfalls gewesen wäre, damals abgeworfen, und so blieb es freilich bei der Büste, welche indes auch so ein um so trefflicheres Kunstwerk genannt werden muß, je mehr sie an ein außerordentliches, naturwüchsiges und Geisteswerk überall erinnert. Sie selbst war jetzt wieder im vollen Besitz ihrer Stimmittel und in frischester Gesundheit, was denn alles oft eine gewisse übermütige Laune in ihr hervorrief, bei welcher allerdings von vorsichtiger Lebenskunst nicht immer viel die Rede blieb. Ich erinnere mich, daß ich sie einmal in solcher Stimmung über Mozarts »Don Juan« sprach, für den natürlich auch sie schwärmte. »Wissen Sie, was ich da möchte?« rief sie plötzlich aus. »Die Rolle des Don Juan möchte ich geben, ließe sich's nur singen! Sie sollten sehen, was mir da gelingen müßte!«, und dabei schüttelte sie ihre blonden Locken, und das Auge strahlte so blendend übermütig, daß es eine Lust war hineinzusehen. Und all solche Wildheit verband sich wieder in ihr mit großer Gutmütigkeit, fast übermäßiger Wohltätigkeit und dem Talent eines vollkommenen Ordnunghaltens[54] in ihrem Hauswesen, das, wenn ich mitunter bei ärztlichen Besuchen einen Blick hineinwerfen konnte, mich wahrhaft überraschte.

Wieder brachten wir dies Jahr den größern Teil des Sommers in Pillnitz zu, und die großen Feierlichkeiten, mit welchen am 3. Juni das dreihundertjährige Jubiläum der 1539 unter Herzog Heinrich dem Frommen in Dresden eingeführten Reformation begangen wurde, berührten uns daher nur ganz von weitem. Die Eisenbahn hatte indes hierzu 400 Studenten von Leipzig nach Dresden gebracht, und unter ihnen auch unsern jungen Medikus, so daß denn doch der Familie von der allgemeinen Heiterkeit wenigstens etwas mit zuteil wurde; wie es mir denn überhaupt noch recht gut im Gedächtnis geblieben ist, daß von Pillnitz aus an jenem schönen Juniabend, gerade unter dem hellstrahlenden Hesperus, die Illumination der Stadt und namentlich die im Scheine der tausend Lichter und Lampen rötlich leuchtende Kuppel der Frauenkirche sich sehr gut ausnahm.

Übrigens wurden unsere Dante-Lektüren selbst durch den Landaufenthalt nicht unterbrochen. Es finden sich in dem verschlossenen Teile der königlichen Gärten in Pillnitz einige Pavillons, von denen diesmal den einen östlich gelegenen, im japanischen Stil verzierten, der Prinz Johann gewählt hatte, um dort das kleine Dante-Komitee auch ein paarmal im Sommer zu versammeln. Freund Tieck fuhr dazu mit Graf Baudissin in den warmen Vormittagsstunden heraus, und da saßen wir denn in dem altmodisch verzierten bequemen Gartenzimmer, welches wohl noch nie dergleichen poetische Zusammenkünfte gesehen hatte, jeder mit seinem Dante bewaffnet, vor uns die sonnig-heitern Blumenbeete, und hörten von Tiecks sonorer Stimme aufmerksam die von einem Fürsten verdeutschten Verse des Dichterfürsten vortragen, einzig unterbrochen[55] von einer leichten Kollation, bei welcher dann eine meist mit gutem Humor geführte Konversation erfrischend umkreiste. Eine Sitzung dieser Art dauerte gewöhnlich von elf bis drei Uhr, und meist fuhr dann Tieck mit zu meinem Hause, wo denn auch wohl einige von seiner Familie angekommen waren, um bei uns zu essen, und dann, nachdem er in möglichst heißer Sonne (einer besondern Leidenschaft dieses Freundes) sich recht durchwärmt hatte, pflegte er oft den Nachmittag noch mit Lesung einer kleinen Novelle zu beschließen.

Nebenbei war dieser Sommer in unserm Pillnitz sehr belebt durch die Anwesenheit vieler hohen Häupter; wir sahen da die verwitwete Kaiserin von Österreich und die verwitwete Königin Karoline von Bayern sowie die Zwillingsschwester der Prinzeß Johann, die Kronprinzessin von Preußen, welche längere Zeit hier wohnte und später durch ihren Gemahl, den spätern König von Preußen, abgeholt wurde. Am 12. August, als alle die obengenannten Herrschaften dort versammelt waren, wurde eine große gemeinsame Partie in die Umgegenden veranstaltet, zu welcher ich mich ebenfalls eingeladen fand und welche ich hier noch mit ein paar Zügen aufzeichne, damit auch ein Bild solcher Art unter den mannigfaltigen andern Bildern diesen Blättern nicht fehle:

In einer ziemlich langen Wagenreihe also fuhr man zuerst vormittags von Pillnitz nach dem Königstein, um dort die Festung zu besichtigen und eine Kollation einzunehmen. Es war das erstemal, daß ich diesen seltsamen Ort auf seinen ungeheuern Felsmauern, mit seinen gewaltigen Bastionen und Eingangstoren, im Innern sah, und wieweit war man damals noch davon entfernt zu denken, daß nur zehn Jahre später das gesamte königliche Haus genötigt sein würde, gegen einen Teil ihres eigenen Volks hier Schutz zu suchen! Alle Sehenswürdigkeiten der Festung[56] öffneten sich natürlich jetzt den hohen Gästen. In den Kasematten, wo die Munitionsvorräte geordnet, gewogen und bewahrt werden, stand unter andern auch eine Schnellwaage in Form eines bequemen Armsessels, auf welchen Herren und Damen zum Scherz sich setzten, um ihr Bruttogewicht (und zwar diesmal in aufrichtigen Angaben) zu erfahren, und ich erinnere mich unter anderm, daß es den Kronprinzen von Preußen sehr amüsierte, als ihm der Offizier, welcher die Gewichte ablas, berichtete, daß gegen seine frühere Schwere gegenwärtig sein Gewicht um volle 30 Pfund weniger betrage, welches denn als ein Triumph der Marienbader Kur sofort rühmend allen hohen Verwandten erzählt wurde.

Besonders schön waren an diesem Tage die Fernsichten über die Höhen der Sächsischen Schweiz, und als nun die Kanonen donnerten und der Widerhall durch die Täler fernab rollte, gab diese Musik einen schönen Rahmen um das weite großartige Gebirgsbild. Auch abwärts wurde mit kleinern Geschützen nach einem am andern Ufer auf den Wellen der Elbe aufgelegten Brettboden, welcher ein Schiff vorstellen sollte, gefeuert, und es war interessant zu sehen, wie selbst in dieser gewaltigen Entfernung die Kugeln doch immer ganz nahe um das nur kleine Ziel herum ins Wasser einschlugen.

Nach beendigter Schau und eingenommenem Déjeuner dinatoire stieg man durch das dunkle Gewölbe des Eingangs wieder hinab, die Wagen fuhren vor, und man begab sich nun nach dem Bilaer Grunde, wo in der Nähe der sogenannten Schweizermühle, zwischen Tannenwald und Felsen, die Gesellschaft im schattigen Grün unter dem blauen Himmel sich erging und dann an zwei im Freien improvisierten Tafeln sich versammelte, um dort, während in den nahen Büschen nach und nach die ländliche[57] Jugend zahlreich zusammenlief, ein luxuriöses Diner einzunehmen.

Nach Tisch lustwandelte man endlich noch ein Stück das Tal hinauf bis da, wo jene grotesken Felsen aufragen, von denen man jedesmal glaubt, man sähe sie zum letztenmal, weil sie notwendig nächstens zusammenstürzen müßten, obwohl sie doch schon lange das ganze Heilige Römische Reich überdauert haben; dann jedoch wurden abermals die Wagen bestiegen, auf welchen man gegen das Städtchen Königstein durch anmutige Waldwege hinabrollte bis zum Einschiffungsplatze unter den letzten Häusern dieses stillen Örtchens, welches damals sich auch noch nichts davon träumen ließ, daß anderthalb Dezennien später auch hier auf gewaltigen Steindämmen Lokomotiven mit Tausenden von Fremden hindurchsausen würden. Es war ein schöner milder Sommerabend, die kleine Flottille schwamm langsam auf dem breiten Spiegel des noch nicht von Dampfern beunruhigten Flusses hinab, bald klangen Waldhörner aus den Gebüschen am Ufer, und ein Kahn mit Sängern folgte uns von weitem, so daß die lang gehaltenen Töne gutgestimmter Quartetten über den Wellen dahinzitterten und wünschen ließen, der Abend möchte zum vollen Tage sich ausdehnen.

Unsere Wasserfahrt die Elbe herab ging übrigens nur bis Pirna, wo bei eintretender Dunkelheit höchst zweckmäßig dafür gesorgt war, daß Hofequipagen bereitstanden, welche endlich, unter dem Leuchten lodernder Fackeln, die Gesellschaft rasch durch die angenehmen Waldwege nach Pillnitz zurückbrachten, gewiß nicht, ohne daß bei allen der reiche Tag eine angenehme Erinnerung zurückgelassen hätte.

Schließlich muß ich nun doch noch erzählen, daß am andern Morgen nach dieser hübschen Partie der Kronprinz von Preußen Pillnitz nicht verließ, ohne noch mich in[58] meinem kleinen Hause besucht zu haben, als wohin ihn eine seltsame Naturmerkwürdigkeit zog, welche diesen Sommer schon vielfach am Hoflager hatte von sich reden machen, auch bereits von den meisten Gliedern unserer königlichen Familie bei mir in Augenschein genommen worden war. Diese Seltenheit bestand in einem Wespennest von der Größe etwa einer starken Mannesfaust, welches die arbeitsamen Geschöpfe nach und nach im Laufe einiger Monate hinter der immer uneröffnet gebliebenen Jalousie des einen Stubenfensters unsers Familienzimmers von außen dergestalt an eine Fensterscheibe angebaut hatten, daß man von innen nicht nur den ganzen merkwürdigen Zellenbau, sondern auch das Herumwandern, Ordnen und Aufspeichern der Bewohner des kleinen Königinnentums überblickte. Was man bei der Bienenzucht gewöhnlich nur unvollkommen erreicht, wenn man Glasfenster an den Stöcken anbringt, um die innere Ökonomie des Zellenbaues zu beobachten, indem da die fleißigen Tierchen das Glas oft mit Wachs zu überziehen und dadurch es undurchsichtig zu machen pflegen, das hatte sich hier ganz von selbst gemacht, und zwar vollkommener, da das papierartige Material des Nestes wohl am Glase festsaß, aber überall so, daß der Einblick in die Zellenräume völlig frei blieb. Wie oft machten wir uns da am Tage oder auch abends, wenn Tee und Lektüre beendigt waren, das Vergnügen, leise an das Fenster zu pochen und nun Achtung zu geben, wie sogleich alles im Reiche lebendig wurde, die Wächter herbeiliefen, ihre Kiefern zum Biß aufrissen und als Besatzung dieser Festung kampffertig sich aufstellten! Auch von all diesem war nun auf jener Kahnfahrt die Rede gewesen, und der Kronprinz, nach seiner lebhaften Art, wollte denn durchaus jetzt auch dieses Kuriosum selbst sehen, kam, sah, klopfte an, beobachtete den dadurch entstehenden Aufruhr,[59] und als ich dabei erzählte, daß ein solches Nest eigentlich durch ein Wespenweibchen geschaffen werde, als welches die ersten Zellen selbst baut, Eier dareinlegt, so sich Arbeiter erziehe usw., verfehlte er nicht, diesen Staat sofort mit England zu vergleichen, ja ihn über England zu setzen, da Königin Viktoria doch nicht in dieser Vollkommenheit die Stelle einer wahren Landesmutter ausfüllen könnte. Im Winter, als alles Leben des Stocks erstorben war, ließ ich den Fensterflügel ausheben, das Feld das Glases mit einem Stück Rahmen ausschneiden und bewahre so das merkwürdige an das Glas geheftete Nest noch jetzt in meiner Sammlung.

Im September machten wir einen Besuch auf der Leipziger Kunstausstellung und erfreuten uns fast mehr noch als an den Bildern an der Erfahrung, daß es jetzt möglich blieb, in einem Tage sich dorthin zu versetzen, zu promenieren, zu speisen, Gemälde zu betrachten und am selben Abend wieder hier zu sein; eine Aufgabe, wozu früher etwa fünf Tage notwendig gewesen wären. Ich hatte damals selbst noch ein Bild zur Ausstellung gesendet – eine altdeutsche Stadt im Frühlicht, wenn zwischen vier und fünf Uhr die Glocken läuten und Dohlen um die Türme fliegen. Das Bild ziert noch heute ein Zimmer meines Hauses und sah auch damals unter den andern Sachen ganz tüchtig aus, ist indes doch ziemlich das letzte gewesen, das ich so zur Öffentlichkeit ausgesetzt habe, denn am Ende hatte dergleichen allerdings zu wenig von irgendeiner Folge.

1

Die Leichenöffnung zeigte eine sehr eigentümliche Melanose mehrerer Abdominalorgane und vollkommene Erweichung der Substanz des linken Ovarium.

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 2. Band. Weima 1966, S. 60.
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