VIII.

[225] Noch im Herbst desselben Jahres, unmittelbar vor dem Cäcilientage des Novembers, wurde mir ein zweites Dresdener Töchterchen geboren, meine liebe Cäcilie Karoline, und dadurch glückliche Häuslichkeit und Heiterkeit nicht wenig vermehrt.

Der folgende Winter dann zeichnete sich dadurch aus, daß er mich mehrern höhern Familienkreisen durch meine ärztliche Wirksamkeit enger verband. In dem Leben des Arztes, wenn es so recht selbständig und ohne Eingeführtwerden durch andere sich entwickelt, ist hierin eine merkwürdige Progression gewöhnlich mit großer Deutlichkeit zu verfolgen. Geht er als junger unbekannter Mann aus der Mitte des Volks hervor, so nimmt auch das Volk selbst in seinen niedern Regionen ihn zuerst und zumeist in Anspruch. Nach und nach dann, je mehr sein Ruf sich hebt, werden die höhern Schichten der Gesellschaft auf ihn aufmerksam, begehren seine Hilfe und bringen ihn wohl gar am Ende dahin, gleich einem Berliner Operateur, endlich zu erklären, daß er keine Visiten außer in der Belétage der Gebäude übernehme. Was mich betraf, so war ich als[225] Leipziger Armenarzt und sodann als Direktor einer der untersten Volksklasse hauptsächlich geöffneten Gebäranstalt zunächst ganz an das Volk unmittelbar gewiesen und hatte mich einer Menge von Personen und Familien dieser Region vielfach hilfreich und treu teilnehmend erwiesen.

Nun kann ich indes mit Entschiedenheit es aussprechen, daß, so mancher Fehler und Schwächen ich mich auch gern schuldig bekenne, doch irgendeine Art von Hochmut, so sehr ich späterhin wohl mitunter dessen beschuldigt worden bin, mir in Wahrheit und immerdar fremd geblieben ist, daß vielmehr eine tiefgefühlte innere Demut mir stets eingeboren war und der Schein einer andern Gesinnung nur davon ausgegangen sein kann, daß ich manche kleine Verhältnisse oft übersah und vergaß, weil ich eben nur auf ein wahrhaft Größeres und geistig Höheres mich innerlich gespannt fühlte.

Man kann nun wohl sich denken, daß es mir, zurückschauend, ebenfalls oft ein Traum scheint, wenn ich gedenke, wie so ganz allmählich aus den engsten und anspruchlosesten Verhältnissen des Lebens meine Stellung und meine häusliche Existenz weiter und weiter sich heraufgehoben und endlich im Äußern es zu einer Daseinsform gebracht hat, von welcher ich, so sehr sie auch in mancher Hinsicht immer beschränkt blieb, in frühern Jahren doch noch wirklich keine Vorstellung haben konnte.

Der Winter 1819/20 war es demnach, wie gesagt, welcher auf dieser Stufenleiter mich wichtige Schritte tun ließ, und bedenke ich es recht, so war es teils die Behandlung der Marquise Latour-Maubourg, Frau des französischen Gesandten, teils meine ärztliche Wirksamkeit in der Familie des damaligen englischen Gesandten, Morrier, welche ebenso als Arzt in höhere Kreise mich einführte, als[226] meine Rede im Sommer 1817 als Mann der Wissenschaft mich zuerst dort bekannt gemacht hatte. Manche andere einheimische und fremde Familien der sogenannten Gesellschaft folgten dann jenen nach, mein Ruf breitete sich aus, ich sah mich zuweilen eingeladen in jenen Häusern und erinnere mich noch wohl einer Art naiven Erstaunens, wenn ich, der ich immer in größter Einfachheit und Enge gelebt hatte, hier zum erstenmal sah, welche Weitläufigkeiten veranstaltet und welche Dienerschaften in Bewegung gesetzt wurden, um das Alltäglichste des Lebens, ein Mittag- oder Abendessen zustande zu bringen, dann auch, welche Bequemlichkeiten die Häuser der Reichen darboten und wie eine Leichtigkeit der Formen am Ende zuweilen wieder das Seltsame erreichen konnte, ein scheinbar so Vielfachgewordenes abermals zu einer gewissen Einfachheit zu verbinden. Wo das letztere wirklich erreicht wurde, da nur machte es mir einen überredenden und wohltuenden Eindruck! Glanz und Reichtum allein, sie imponierten mir gar nicht, gesellte sich indes in einzelnen bei uns immer seltenen Fällen jene von geistiger Herrschaft diktierte feine und bequeme Form hinzu, wodurch das Alltägliche ein gewisses Parfüm und selbst das Ungewöhnliche den Schein des Wohlbekannten und der Eleganz annahm, so konnte ich nicht umhin, mich überrascht und kaptiviert zu empfinden; ja, es geschah mir anfangs dies letztere öfters, eben weil ich noch zu neu in diesen Kreisen war und oftmals also keineswegs zu unterscheiden vermochte, wo dergleichen auch wirklich oder wo es nur als Schein sich geltend zu machen versuchte.

Nach und nach wirkte denn dieses alles auch auf die eigene Häuslichkeit zurück, und ich erinnere mich, daß Heinroth, der um diese Zeit wieder einmal nebst Frau ein paar Wochen in Dresden verweilte und viel bei uns war, einigermaßen darüber scherzte, wie er gar wohl bemerke, daß[227] manches im Hause und bei Tische anders und feiner sich einrichte als vorher, und dabei von Galenus, welcher, altem lateinischem Sprüchlein gemäß, Reichtümer verleihe, und von dergleichen mehr allerhand Ergötzliches vorbrachte. Hierbei will ich bemerken, daß man künftig, wenn in der Literaturgeschichte diesem seinerzeit in Leipzig wirklich sehr geschätzten Professor seine wahre Stelle angewiesen werden soll, nie vergessen darf, daß er, noch pseudonym, als »Treumund Wellentreter« dialektische und poetische Versuche herausgegeben hat, welche eben jenes Halbe, aber Heitere seines Geistes besonders bezeichnen, ebendadurch aber auch manche Unvollkommenheit seiner wissenschaftlichen Arbeiten erst wahrhaft erklären.

Gibt es doch im allgemeinen zu vielfältigen Betrachtungen Veranlassung, wenn man auf diese Weise bei vielen andern und besonders wahrhaft hervorragenden Persönlichkeiten der Literatur das untereinander vergleicht, was diese Männer einmal als ihre wahren und echten Geisteskinder und was sie ein andermal als ihre Nebenarbeiten und Wildlinge betrachteten! Ganz eigene Mißverständnisse wird man da gewahr werden, Mißverständnisse, von denen mein Freund übrigens wenig berührt wurde, da er in gutmütiger Heiterkeit auf keine von beiden Gattungen seiner Sachen viel Gewicht zu legen pflegte. Dagegen ist es mir allerdings zum Beispiel selbst bei Goethe merkwürdig gewesen, daß er mitunter nicht undeutlich zu verstehen gibt: durch seine Farbentheorie, die wir, so interessant sie auch in vielen Beziehungen ist, doch mit einem »Faust« oder »Tasso« nie auf eine Linie setzen werden, habe er der Welt einen größern Dienst geleistet als mit all seinen Poesien; und stellte nicht Petrarca etwa seine jetzt längst vergessenen lateinischen Abhandlungen wirklich höher als seine unsterblichen Sonette?

Nach fünf Jahren Dresdener Lebens fing ich sonach an,[228] auch als Arzt hier aus der Verborgenheit der Studierstube hervorzutreten, und konnte von nun an mehr von den seltsamen, oft in die tiefsten Geheimnisse des menschlichen Seelenlebens deutenden Erfahrungen sammeln, welche in keinem andern Stande so vielfach und eigentümlich sich darbieten als in dem ärztlichen und ebendeshalb wohl mitunter Veranlassung gegeben haben, sie in novellistischer Weise auszubeuten und so zum Gegenstand einer Art von Unterhaltungsliteratur zu machen. Indes, da dies bisher immer nur von Nichtärzten versucht worden ist (die wirklichen haben in der Regel nicht Zeit dazu und finden auch dergleichen Mitteilungen aus ihren Tagebüchern gegen die Pflicht der Verschwiegenheit), so fehlt gewöhnlich hierbei die rechte Physiognomie der Wahrheit und damit zugleich das Siegel eines höhern Interesses. Wie anders würde dies sein, wenn man wirkliche Aufzeichnungen solcher Art nach der Natur vorlegen wollte! Gleich damals kam solch ein Fall in meiner Nähe vor, der, wenn sonst die Konstellation dazu gewesen wäre, Goethe ebensogut zu einem Werther hätte anregen können, wenn er ihn erfahren hätte, als der Tod des jungen Jerusalem. Auch hier gab die Verfolgung der Fäden, welche den Geist eines jungen Mannes so umsponnen hatten, daß aus ihrem Gewebe ein mit eigentümlicher Kaltblütigkeit ausgeführter Selbstmord hervorgehen mußte, mir viel zu denken. Ein Kandidat der Theologie, als Lehrer in einem angesehenen Hause in sehr guten Verhältnissen lebend und wegen seines durch vielfache Reisen und Studien gebildeten Geistes sehr geachtet, kommt hierher, besucht meinen Kollegen, Hofrat Seiler, welchen er von Wittenberg noch kennt, und verspricht zum Abend vor seiner Abreise einen zweiten Besuch zu festgesetzter Stunde. Statt seiner kommt zu dieser Zeit ein Brief nebst Schlüssel und Paket; er schreibt: »Wenn Sie diesen Brief[229] empfangen, nehmen Sie beiliegenden Schlüssel, begeben sich baldigst nebst meinem Verwandten N.N. in das Kleine Rauchhaus Nr ...., vielleicht treffen Sie mich noch lebend. Beikommendes Paket senden Sie an N.N. usw. – versagen Sie diese Bitte einem Sterbenden nicht.« Seiler hört von dem Mädchen, welche den Brief bringt, der Herr sei noch ganz wohl gewesen und habe eben Kaffee bestellt. Er eilt indes hin, öffnet mit dem Verwandten das Zimmer und findet den Mann auf dem Sofa tot, vor ihm ein Tisch mit zwei Wachskerzen, mit Blumen usw. Mit einem langen, scharfen Dolch hat er sich genau das Herz durchstoßen, den Dolch wieder ruhig herausgezogen und neben sich gelegt. Bestimmtere Angaben über Veranlassung zu dieser Tat waren nicht aufzufinden. Man blickt in einen solchen Seelenzustand wie in einen dunkeln Abgrund hinab, in dem das Auge vergebens bemüht ist, Gestalten zu unterscheiden!

Mein Interesse für ungewöhnliche psychische Zustände trieb mich zu jener Zeit auch öfters dazu, die auf dem Sonnenstein im Jahre 1811 eröffnete Irrenanstalt – die erste in Deutschland, welche nach höhern wissenschaftlichen Ansichten eingerichtet worden war – zu besuchen und dort Beobachtungen der verschiedensten Art einzusammeln. Ich hatte dabei nicht nur mit dem Anstaltsdirektor Dr. Pienitz, sondern auch mit dem späterhin als Augenarzt so berühmt gewordenen Dr. Schmalz, dem damaligen Amtsphysikus von Pirna, mich befreundet, und beiden Männern verdankte ich interessante Mitteilungen in jenem Felde. Der letztere namentlich war nächster Zeuge sonderbarer Zustände gewesen, welche sich ergeben hatten, als im Jahre 1813 beim Vorrücken der Franzosen der Sonnenstein plötzlich wieder auf Napoleons Befehl in eine Festung verwandelt und von den Irren in Zeit weniger Stunden geräumt werden mußte. Dr. Schmalz hatte[230] damals selbst mehrere distinguierte Irre, welche als Pensionärs in der Anstalt verweilten, in sein Haus aufgenommen, während die übrigen – über ein paar hundert – in die große Stadtkirche eingeschlossen und dort militärisch bewacht wurden. Man kann denken, welche merkwürdige Begegnungen sich da hervorgetan haben mögen. Einst geschah es zum Beispiel, daß ein paar kaiserliche Pagen aus Neugier die französischen Wachen beredeten, sie in die Kirche einzulassen, um unter den Geisteskranken umherzustreifen. Kaum hatten sie sich in das Kirchenschiff vertieft, als sie von den Narren umdrängt und förmlich gefangengenommen wurden. Nur mit Mühe gelang es ihnen, sich frei zu machen, und nicht ohne daß sie ihren Vorwitz sattsam bereut hätten. Ein andermal fand sich, daß eine bei Schmalz untergebrachte, an Erotomanie leidende Kranke von heftiger Liebe für den Kaiser selbst entbrannt war, obwohl sie ihn kaum gesehen hatte. Sie schrieb sofort Briefe, packte kleine Geschenke zusammen und fand endlich den Weg durch einen der Pagen, diese Liebespfänder an den Kammerdiener des Kaisers gelangen zu lassen, welcher denn hoffte, abends beim Auskleiden seinen Gebieter damit etwas zu amüsieren. Napoleon jedoch schob mürrisch die Dinge zurück mit dem Ausruf: »J'ai assez de fous à Paris«!1

Der Sonnenstein enthielt denn auch in den Jahren 1819 und 1820 manches merkwürdige Original seltsamer Trübung des Bewußtseins, aber zum erstenmal wurde es mir dabei – wenn ich an die in Berlin bei Horn gefundenen Geisteskranken gedachte – recht klar, wie sehr die Eigentümlichkeiten der Landesart und nationalen Denkweise sich auch im kranken Zustande des Geistes spiegeln. Jene politischen Exaltationen, die ich dort beobachten konnte,[231] suchte ich hier vergeblich, es waren mehr seltsame Halluzinationen, eigene Monomanien und endlich jene dumpfen trüben Seelenzustände, in denen der Kranke regungslos, wie mit Blick so mit Gedanken, auf einen Punkt starrt und die den Blödsinn oftmals vorbereiten, welche sich hier einheimisch fanden.

So sammelte ich also überall und fortwährend die mannigfaltigsten Erfahrungen, und indem in meiner Anstalt die zunehmende Zahl der Geburten, durch mancherlei merkwürdige Fälle, mein Beobachtungsvermögen schärfte und eine sich allmählich immer mehr ausbreitende Stadt- und Landpraxis die Anstrengung meiner ärztlichen Wirksamkeit mir oft nur zu sehr fühlbar machte, gab es dagegen eine angenehme Zerstreuung, wenn Fremde oder Einheimische sich dann und wann bei mir einfanden, um an meinen künstlerischen Produktionen sich zu erfreuen, auch wohl einzelne derselben käuflich an sich zu bringen; Vorkommnisse, die ihre Bedeutung doch stets mehr gewannen als Beweise eines wahrhaften, nach Besitz strebenden Interesses, als daß auf ihren pekuniären Wert ein besonderer Akzent gelegt hätte werden können. In meinen künstlerischen Bestrebungen förderte mich um diese Zeit außerdem noch sehr der öftere Besuch des königlichen Kupferstichkabinetts, dessen in der Geschichte der alten Drucke und Zeichnungen sehr erfahrener Inspektor Frenzel meinen Wünschen nach einem gründlichen Studium hier verwahrter Schätze immer sehr freundlich entgegenkam. Was auf der Gemäldegalerie niemals von mir versucht worden war, das Zeichnen nach besonders mich interessierenden Werken, hier übte ich es häufig. War doch da eher eine Annäherung an das Original möglich als dort, wo das massenweise Kopieren mir oft genug so lästig gefallen war, daß manchmal ein Einfall Goethes mir ganz plausibel erscheinen konnte, als von welchem man[232] erzählt, wie er einst bei Wahrnehmung der Unmöglichkeit, die damalige Galerie gegen Winterkälte zu schützen, ausgerufen habe: »Man solle doch im Winter hier mit den Kopien heizen, die im Sommer gemacht worden!«

In jenem Kabinett also holte ich mir zuerst auch den vollständigen Überblick der ältern italienischen Malerschulen, studierte aufmerksam die Altdeutschen und Niederländer und faßte da namentlich jene Vorliebe zu unserm vielgetreuen Albrecht Dürer, die mich späterhin nicht ruhen ließ, bis seine beiden trefflichen Blätter, der Ritter mit dem Tod und Teufel und die Melancholie (beide von mir auch in meinen Briefen über »Faust« ausführlich beschrieben), unter Raffaels Poesie und Philosophie über meinem Pulte eingerahmt sich fanden, mir und Geistesverwandten zu täglicher Betrachtung und Erhebung.

Im Landschaftlichen waren mir Antoni Waterloo und Hermann Swanevelt insbesondere merkwürdig und lehrreich. Ich konnte an erstern nicht genug die ausnehmende Naivität bewundern, mit welcher er die Vegetation unserer Wiesen und Wälder durch seine Radiernadel wiedergab und die nur von dem recht gewürdigt werden kann, der sorgfältig und lange diesen Dingen im Freien nachgegangen ist und dort am Studium derselben sich versucht hat. Bei dem letztern zog mich dagegen die Schönheit der Linien- und Massenverhältnisse mehr an, und indem diese mich an den Schönheitssinn seines Meisters, des Claude, erinnerten, mußte ich auch hier bei genauerer Durchsicht seiner bessern Blätter erstaunen, wie sehr es ihm gelungen war, in so unvollkommenem Material, als die Radierung darbietet, den Duft und Ton der Laubmassen zwar eigentlich nur andeutend und doch in so hohem Grade frappant wiederzugeben. Beide Künstler werden in der Neuzeit keineswegs mehr genugsam beachtet, ja sie sind der jüngern Generation fast unbekannt geworden,[233] und doch verdienen sie im höchsten Sinne ein eigentümliches und ganz besonderes Studium.

Soll ich nun auch vom innern still-heitern Leben in meinem Hause ein Bild aus jenen Tagen geben, so darf ich nur eine Briefstelle ausheben, wo ich von meinem Geburtstage 1820 berichte, und ein in mancher Beziehung idyllisches Bild wird vor dem Leser auftauchen und zeigen, durch welche Wurzeln der Baum im Boden festgehalten wurde, der nach so verschiedenen Richtungen hin Früchte tragen sollte. Ich schrieb damals: »Ihr Wunsch ist trefflich in Erfüllung gegangen, denn am 3. Januar stand wirklich alles recht gut, ja ich kann sagen, daß ich fast noch nie einen so heitern Abend an diesem Tage vollendet habe als dieses Jahr. Friedrich, der Norweger Dahl, Schneiders, Lecerfs, Kummers und Ficinus hatten sich zusammengefunden und feierten das Mahl der Muscheln fröhlich miteinander. Es war ein guter Geist eingekehrt, nach Tische klang der König von Thule und der Fischer unter manchen andern Phantasien, und wir schieden erst lange nach Mitternacht. Und wohl, wie man es in dieser Zeit sein kann, ist auch alles gewesen, von den Großeltern bis zur kleinen Karoline Cäcilie! ... Der Junge ist jetzt sehr gut, hat bereits Kosakenjäckchen an und springt, schreit, spielt, wie es sein muß. Er gleicht jetzt meinem verstorbenen Albert unendlich, nur scheint er mir noch tüchtiger; und wenn er nun ein Jüpchen oder so etwas, das dem Verstorbenen gehörte, an sich trägt, so steigt die Täuschung und rührt mich oft wunderbar. Ja, Gott hat mir, denke ich zuweilen, dieses geliebte Kind jetzt zum zweitenmal gegeben, und fasse ihn dann mit einer gewissen heiligen Scheu in sein lockiges Haupt!«

Dabei muß ich übrigens sogleich gedenken, daß an den beiden hier nach Friedrich zuerst Genannten, an Dahl und Schneider, der enge Kreis meiner damaligen Freunde einen[234] recht erfrischenden Zuwachs erhalten hatte. Der erstere, als junger norwegischer Künstler seit nicht langem hier eingezogen, hatte sich mit Friedrich und durch ihn mit mir sehr bald näher verbunden. Im Auffassen der Landschaft war er jenem der vollkommenste Gegensatz, den man sich denken kann: purer Naturalist, nur das Detail der Felsen und Bäume und Kräuter und Wiesen, aber dies mit ganz eigentümlicher Meisterschaft ergreifend, mit außerordentlicher Fertigkeit arbeitend, aber vieles dem Zufall anheimgebend, schien er ebensooft an das Objektive sich zu sehr zu verlieren, als Friedrich zuweilen im Subjektiven unterging; dabei aber war er eine treue, einfache Seele und das beste Herz, er hat sich mir über drei Jahrzehnte im Leben und für Friedrich noch weit über das Grab hinaus als solcher fest bewährt.

Ich war nun 31 Jahre geworden, die immer weitergreifenden Naturstudien, der philosophische Umgang mit Krause, die Kunst, alles mochte an mir fortgebildet haben, und das, worin sich jederzeit seelisches Wachstum besonders zeigt – der Sinn für das Göttliche –, er ging mir daher nun auch mehr und mehr auf. »Ich fühle es« – schrieb ich im Februar 1820 – »immer deutlicher, wie die Empfindung des Göttlichen, welches in allen Dingen lebt, uns nicht nur zu allem hinzieht und mit Liebe zur Natur und zum Menschen erfüllt, sondern auch innerlich uns erheitert und in den Produkten des Innern fortlebt.« Hat man aber eben diesen Sinn heller in sich aufgeschlossen, dann ist man gewiß auch für Musik wie für alles Schöne um so empfänglicher! Übrigens mochte wohl auch manches in meiner wissenschaftlichen Richtung ganz besonders durch diesen innern Fortschritt bestimmt werden! Drängte es mich doch jetzt überhaupt weit mehr dazu, die Tiefen der menschlichen Natur zu erforschen und darüber gewiß zu werden, während die früher so vorherrschend erscheinende[235] Neigung zur vergleichenden Anatomie offenbar nun anfing, sich zu vermindern und mir nur als unerläßliche Vorbereitung zur Kunde vom Menschen zu erscheinen. »Was sollte uns die Kenntnis vom Baue des Wurms ohne Beziehung auf Höheres?« ist daher ebenfalls ein geschriebenes Wort aus jener Zeit.

Bei alledem war es mir doch erfreulich und bedeutend, als in diesem Jahre der alte Blumenbach aus Göttingen, der Nestor der deutschen vergleichenden Anatomie, nach Dresden kam und mich besuchte. Er war damals 68 Jahre, aber kräftig und von stattlicher Haltung. Wir verkehrten viel miteinander, und wenn ihm auch manche von den Richtungen, die mich besonders beschäftigen, fremd blieben, so fanden sich doch andere Berührungspunkte genug, und damit ich nebenbei auch einen realen Nutzen für mich aus diesem Zusammentreffen gewinnen möchte, so studierte ich vorläufig schon an ihm, wie man es anfängt, um Schwächen, Nachlässigkeiten und das geistige Sinken der höhern Jahre am sichersten und längsten fern von sich zu halten. Blumenbach hatte einen Grundsatz, den man nicht genug bei vorrückendem Alter empfehlen kann und durch dessen mangelhafte oder Nichterfüllung wir so viel dürftige und lästige Erscheinungen an Bejahrten bemerken; er hütete sich nämlich auf alle Weise, »es sich bequem zu machen«. Schlafröcke, bequeme Pantoffeln und Schlafmützen waren ihm fast unbekannte Gegenstände – von früh bis abends adrett im alten Stile gekleidet –, immer tätig, seine Collegia mit Pünktlichkeit abwartend, hatte er sich eine merkwürdige Frischheit und Geistesgegenwart erhalten; somit wohl ein Vorbild darstellend, dem in Gesamthaltung nachzueifern allerdings der Mühe wert war.

Um dieselbe Zeit lernte ich auch einen Zeitgenossen Blumenbachs kennen, dem aber die Physiognomie höhern[236] Alters weit mehr aufgedrückt war, es war Tiedge, der mit seiner Beschützerin, der ebenfalls bejahrten und kränklichen Frau von der Recke, seit kurzem seinen Wohnsitz in Dresden genommen hatte. Ich bin nie in nähere Berührung mit ihm gekommen, indem der ganze Charakter seiner Poesie und das, was ich von dem Kreise, der sich um ihn sammelte, hören mußte, meinem Wesen zu entgegengesetzt war, als daß ich mich damit zu befreunden imstande gewesen wäre. Wie Goethe einmal sagt, daß Bodmers Noachide für ihn recht eigentlich der Ausdruck von der Wasserflut damaliger Poesie gewesen sei, so pflegte ich den übrigens guten und einfachen Unsterblichkeitsdichter wohl einem Steine zu vergleichen, an welchem für mich nichts zu bemerken bleibe als der Strich, welcher die Höhe eines frühern Wasserstandes angibt. Es war mir immer, als sollte ich an ihm ablesen, so und so hoch stand, für die Menge, im Jahre der Herausgabe der »Urania« das Fluidum der Poesie.

Dresden war übrigens in jenen ersten Frühlingstagen sehr aufgeregt durch den Raubmord, der an einem sehr geschätzten, mir aber immer fremd gebliebenen Künstler, Professor Kügelgen, nahe an der Stadt auf offener Landstraße mit großer Frechheit verübt worden war. Hatte ich doch auch, nach meiner Gewohnheit, in den Tagen vorher in gleichen Vorabendstunden weit ausgedehnte einsame Spaziergänge gerade in derselben Gegend gemacht, wo das Schreckliche vorfiel, worüber ich nun manche liebevolle Vorwürfe hören mußte. Als Maler gehörte Kügelgen noch ganz in jene flaue Kunstperiode, die ich früher geschildert habe, und zeichnete sich nur durch etwas mehr von jener poetisch-romantischen Tendenz aus, welche in Retzsch zu einem gewissen Rufe gekommen ist und nun ebenfalls völlig sich überlebt hat. Als Mensch soll er indes höchst liebenswürdig gewesen sein und wurde auch von meinem[237] Freunde Friedrich sehr beklagt. Der Mörder, der ihn um ein Weniges, was sich bei ihm fand, erschlagen hatte, wurde bald entdeckt und hingerichtet.

Während nun so das Leben mir in immer größerer Mannigfaltigkeit fortschritt und der Kreis unmittelbarer Erfahrung sich mehr und mehr ausdehnte, fand ich doch fast täglich Zeit, außer der streng wissenschaftlichen auch der allgemeinen Literatur ihr gebührendes Recht zu tun. Zwei damals neu erschienene Werke interessierten mich besonders, das eine war das aus dem Persischen übersetzte Buch »Kabus«, das andere »Das Leben des Dänen und Altertumsforschers Zoëga«. Im erstern liest man, wie in der Vorzeit ein alter König im Orient, seinem Sohn zu Nutz und Frommen, eine Art von Lebenskunst niederschrieb, worin er sich über jedes einzelne verschiedenartigster menschlicher Lagen und Zustände mit größter Klarheit, Ausführlichkeit und Sicherheit verbreitet. Das ganze Leben scheint vor dieser ruhigen Beschaulichkeit im großen organischen Zusammenhang ausgebreitet vorzuliegen, so daß der moderne Mensch mit seiner Unruhe und ängstlichem Getreibe hier nur schwach und ärmlich dem vergleichenden Blicke des Lesers vorkommt. Das Buch wirkte ebendadurch damals, wo ich durch vielerlei Tätigkeit sehr nach außen gerissen wurde, durchaus beruhigend und kräftigend auf mich, und haben nicht die Einstrahlungen vom Morgenlande auf das Abendland fast immer in dieser Weise gewirkt! Fast möchte man glauben, daß, wenn Friedrich Schlegel die germanische Sprache vom Orient herleitet, ebendeshalb auch namentlich der germanische Stamm soviel mehr für die Beschaulichkeit des Orients empfänglich sei als die meisten andern.

In einem ganz andern Sinne wirkte dann wieder das letztere von Welcker herausgegebene Buch über Zoëga. Durch Schilderung dieses eigentümlichen Entwicklungsganges[238] mit seinem Irren, Ringen, Streben, wie dies alles aus den Briefen seiner Jünglingsjahre deutlich hervorgeht, fand ich mich überall auf mich selbst zurückgewiesen, und zum ersten Male wurde es mir hier recht klar, wie sehr auch den mannigfaltigen Irrtümern des Lebens eine bestimmte Bedeutung für allgemeine Fortbildung einwohnt. Wohl darf man sie zuweilen den Wolken vergleichen, deren Ausbreitung und Ziehen, obschon in gewissem Grade die Einwirkung des Himmelslichts dadurch gehindert wird, doch in der Landschaft so oft die reizendsten Abwechslungen von Farben und Licht dem Auge gewährt! Man blicke nur durch ein scharfes Teleskop in den wachsenden Mond, sehe seine Klarheit und dann die schwarzen, scharfen Schlagschatten seiner Gebirge und erkenne daraus den Mangel einer Atmosphäre wie aller Wolken, und man friert ja unwillkürlich. Dem Erdgeborenen ist das Ringen durch Irrtum zur Wahrheit ebenso unentbehrlich als das Spiel der Wolken und das Durchbrechen der Sonne.

Ebenso gab mir die Geschichte eines schwedischen Bauern und Malers, des Pehr Hörberg »Selbstbiographie«, übersetzt von Professor Schildner (Greifswald 1819), vielfältig zu denken. Wie ein ausgesprochenes Talent hier unter den ungünstigsten Umständen in eigentümlicher Weise sich Bahn bricht, wie endlich in der Hütte des Bauern große Altarbilder entstehen, die noch jetzt manche Kirche zieren, wenn auch ihr Wert nie sehr hoch angeschlagen werden durfte, regte ebenfalls mancherlei Vergleichungen auf mit Richtungen und Befähigungen, die ich selbst nun einmal unter den heterogensten Lebenslagen nicht abweisen konnte und bei welchen ich mich oft genug mit der Frage nach dem »Warum« im stillen abquälte.

Endlich lernte ich um diese Zeit auch zuerst die merkwürdige Individualität des Pater Abraham a Sancta Clara in[239] seinen Predigten kennen und finde noch Notizen darüber aufgezeichnet, welche beweisen, daß sie mich tiefer beschäftigten als bloß ihrer wunderlichen Form und seltsamen Wortstellungen nach, wegen deren man sie öfters zitiert findet. Von einigen dieser Reden vermag ich noch jetzt Rechenschaft zu geben und gedenke ihrer deshalb hier mit ein paar Worten, weil sie in der Neuzeit fast gänzlich verschollen sind, ein Schicksal, welches die Mehrzahl derselben vielleicht nicht unverdient trifft, von dem jedoch die gleich zu erwähnenden sicher ausgenommen zu werden verdienen. Obenan möchte ich zunächst die stellen, welche die Überschrift trägt:


Wer will gefroren sein ohne Sünd',

Einen guten Passauer Zettel da find't.


Der Redner spielt hier zuerst humoristisch an auf die Kunst des »Festmachens« oder »Gefrorenseins«, wodurch alle Kugeln der Schlacht machtlos an den so Geschützten vorübergehen. Dann rückt er heraus mit seinem »wahrhaften Passauer Zettel«, und was steht darauf? »Ego sum, nolite timere« (fürchtet euch nicht, ich bin's – ich bin bei euch – Christus). Und nun erheben sich seine Gedanken wunderbar – die große Sicherheit des göttlichen Geistes, wenn er, vom Ewigen angehaucht, in höherer Flamme sich ergeht und dann über den Wechselfällen des Lebens steht, daß machtlos von ihm abprallt, was sonst ihn zum Tode getroffen hätte – man kann es kaum erhabener und doch so natürlich ausgesprochen lesen.

Eine andere Predigt trägt als Motto:


Die Tochter wird verehrt,

Die Mutter ist nichts wert,


und setzt in den sonderbarsten Gleichnissen das Verhältnis der Sünde (der Mutter) und der Reue (der Tochter)[240] auseinander, entschieden festhaltend ein stetes Fortwachsen des Geringern zum Erhabenen und ein Ablösen des Befleckenden sowie ein Hervortreten des Reinen; ein Thema, welches dann auch eine dritte Rede unter der Aufschrift »Pauli Bekehrung« unter den mannigfaltigsten Wortspielen und kuriosesten Phrasen in einer bei alledem würdigen Weise fortsetzt.

Sage ich nun über alles dieses noch, daß ich in diesem Jahre auch wieder einmal nach längerer Zeit den »Wilhelm Meister« durchlesen und dabei recht empfunden hatte, wie erst das Vorrücken eigener Erfahrung freudig und deutlich die Werke eines so Vielerfahrenen anerkennen läßt, so bekommt man einen immer entschiedenern Überblick von dem, was ein lebendiger jugendlicher Geist alles zu bemeistern und zu überwältigen vermag! Welch ein Werk! Wie durch das Ganze hindurch die Hinweisung auf rüstige, nur immer im Nächsten zu übenden Tätigkeit leuchtet und wie die Bedeutung der wahren Entwicklung sowohl als Verkrüppelung des Menschen hier so recht an der Wurzel gefaßt ist! Und doch, wenn ich späterhin abermals an dessen Lektüre gekommen bin, haben immer neue und immer lebendigere Seiten daran sich mir erschlossen! An den »Briefen über Landschaftsmalerei« war nun auch wieder einiges gearbeitet worden, und namentlich hatte es mich beschäftigt, die nähern Gründe aufzusuchen, warum dies Fach überhaupt erst so spät – eigentlich nur vom 17. Jahrhundert an – zu einer eigenen bedeutenden Kunstform gelangt war und warum das Altertum in dieser Beziehung noch so leer erscheint. Das Verhältnis des Menschen zur Natur in allen seinen Phasen durchzudenken, es gab mir bei dieser Veranlassung vielfache Beschäftigung, und gerade aus jener Zeit ist mir deshalb folgende Aufzeichnung, welche die Sphäre der Natur und die der Vernunft gegeneinander genauer abzuwägen versucht,[241] wichtig genug, um auch sie hier noch mitzuteilen. »Mir scheint«, heißt es da, »die eigentliche Achtung gegen die Natur keineswegs bloß in sinnlicher Neigung zu der Lust, die sie uns bietet, zu bestehen, sondern vielmehr in jener heiligen Scheu, jenem innern geheimen Schauer, mit welchem wir, dafern wir ihrer würdig sind, alles und jedes reine Wirken der Natur auffassen; jenes Wirken, in dem nichts so klein, gering oder gemein ist, daß es uns nicht mit wahrer Achtung, ja mit Bewunderung erfüllen sollte, kurz, es steht mir hier jenes zarte Verhältnis vor Augen, in welchem so viele, namentlich der ältern Naturforscher, Swammerdam, Lyonnet, Linné usw., zur Natur sich befanden und welches vielleicht auch nur dem, der durch eigene naturforschende Arbeiten der Natur sehr nahe gekommen ist, recht klar werden kann. Ein Verhältnis, bei welchem nicht die Vergänglichkeit der Naturformen als Unvollkommenheit und Mangelhaftigkeit gerechnet wird, so daß sie deshalb etwa bloß als Mittel zum Zweck besonderer Vernunftdarbildung betrachtet werden müßten, sondern wobei gerade diese Flüchtigkeit der Erscheinungen es bedingt, daß mit desto innigerer Liebe und Sehnsucht ihnen nachgetrachtet wird.«

Es bedarf jetzt, glaube ich, nur eines Rückblicks auf alles, was sonach wieder vom Herbst 1819 bis zum Sommer 1820 noch außer der Vollendung der »Gynäkologie«, die nun gedruckt wurde, gearbeitet und erstrebt worden war, um zu fühlen, daß es Pflicht blieb, auch in diesem Jahre sich ein Respiro zu gönnen und in Tälern und auf Bergen für Körper und Geist Erfrischung und neue Kräftigung zu suchen. Ich hatte also diesmal einen Besuch der böhmischen Mineralquellen und dann eine Wanderung durch die großartigen urgebirgigen Regionen des Riesengebirges mir als Reiseziel vorgezeichnet, mit Absicht in diesem Jahre die Pläne nicht zu weit ausdehnend, da ich schon[242] daran dachte, dafür im nächsten vielleicht einen um so größern Überblick zu gewinnen.

Von Dresden durch Böhmen bis Prag begleitete mich der als Chemiker, Physiker und Botaniker bekannt gewordene Professor Ficinus, und wie ich mit ihm bisher schon manche Arbeit gemeinschaftlich vollendet hatte, so war er nun auch auf der Reise ein befreundeter und heiterer Gefährte, dessen Kenntnisse gerade bei dem Besuch jener merkwürdigen Mineralquellen mir trefflich zustatten kamen. Der erste Reisetag war der Letzte des Juli, und noch gedenke ich des großen Eindrucks, den die erste Fernsicht auf der Nollendorfer Höhe, welche gleich so viel alten Straßen jetzt verlassen liegt, mir damals gemacht hat; diese feinen, im bläulichen Luftton mehrfach hintereinander gezogenen Konturen des böhmischen Mittelgebirges, so deutlich die neuern plutonischen Erhebungen jener Kette bezeichnend, im Verhältnis zu den ruhigen großen Linien des granitischen Erzgebirges; ich konnte mich nicht satt daran sehen, und die ersten Gedanken zu der später in den »Briefen über Landschaftsmalerei« niedergelegten Skizze einer Physiognomik der Gebirge mögen damals wohl in mir sich hervorgetan haben. Dann der schöne Sommerabend in Teplitz, die reichfließenden warmen Quellen mit ihrer klargrünen Farbe, durch welche alles Urgewässer vom Meere bis zum tausendjährigen Gletschereise bezeichnet ist, die hochschattenden Bäume seines Parks und die prachtvoll breit überhängenden Weiden um seine Wasserfläche, es erheiterte mir Sinn und Geist, und oftmals habe ich seidem mich an denselben Erscheinungen erfrischt.

Über Saatz und Buchau kamen wir dann den 2. August nach Karlsbad, wo wir den nächsten Tag verweilten und ich nun zum erstenmal mir von dem eigentlichen Badeleben in einer von der Natur so groß und seltsam ausgestatteten[243] Örtlichkeit den gegenständlichen Begriff gewann. Wenige bekannte Gestalten begegneten mir in dem Gedränge um den schäumenden Sprudel und seine Schwesterquellen, und einige neue wurden mir bekannt, unter denen ich Schelling als hervorragendste Persönlichkeit bezeichne, mit dem ich hier zum erstenmal einige Worte wechselte, während ich so oft schon in seinen Schriften eine Gedankenlese gehalten hatte. Am 4. August war ich in Franzensbrunnen, prägte mir das Bild seiner perlenden Quellen und ihrer Geburtsstätte, der weiten, von Höhenzügen umschlossenen Ebene seines eisenhaltigen Torfmoors, ein und sah diesmal nur erst von weitem jenen seltsamen kleinen, als unterseeischen Vulkan später erkannten Hügel, dem auch Goethe besondere Aufmerksamkeit zugewendet hat: den Kammerbühl.

Wir fuhren dann nach Eger und feierten dort auf den Ruinen seines alten Schlosses die Erinnerung an Schillers Wallenstein, dann aber weiter nach Marienbad, wo wir länger verweilten, um diesen damals schon vielversprechenden und späterhin so berühmt gewordenen Kurort in seinem Werden etwas genauer zu beobachten. Eben war der erste dortige Arzt, Hofrat Dr. Nehr, verstorben, welcher so viel Verdienst um die Fassung und Benutzung dieser – früher nur unter dem Namen der Auschowitzer Quellen hier und da für Kranke verwendeten – Wässer sich erworben hat und dem man im eigentlichen Sinne die Gründung von Marienbad verdankt, da er die Mittel zur Anlage der ersten Gebäude den Grundbesitzern, den geistlichen Herren des Stifts Tepel, mit unendlicher Mühe abzudringen die Ausdauer hatte. Es ist merkwürdig zu lesen, wie er selbst, noch im Jahre 1779, diese brunnenreiche Gegend fand. »Wie erstaunte ich«, sagt er in seiner »Geschichte Marienbads«, »als ich dieses verwilderte, ringsumher mit steilen Bergen und finstern Wäldern dicht[244] eingeschlossene Tal, in welchem diese Quellen ihr heilbringendes Wasser so reichlich ergießen, betrat! Alles, was man sah, erregte Furcht, Widerwillen und Abscheu; Berge und Täler, Wasserrisse und Gesümpfe, Stein- und Sandhügel, vermoderte Stöcke und Windbrüche wechselten unausgesetzt untereinander ab. Außer einer alten hölzernen, den Einsturz drohenden Hütte, in der zwei eiserne, zur Bereitung des im Kreuzbrunnen reichlich enthaltenen Glaubersalzes bestimmte Kessel auf einem Herd eingemauert standen, und einer gleichfalls hölzernen, rohen, uralten Einschränkung des Kreuzbrunnens fand und sah man nichts, was Menschenhände gemacht hätten.« Gegen diese, freilich wenig Liebe zu irgendeiner Waldeinsamkeit verratenden Schilderung war nun dazumal allerdings schon die Umgestaltung sehr groß; indes wie sehr stand doch noch alles zurück gegen die jetzige Zeit!

Auch Goethe war in ebendiesem Sommer 1820 in Marienbad und schreibt darüber an Zelter so treffend, daß ich nichts Besseres tun kann, als folgende mit meinen Anschauungen ganz übereinstimmende Stelle von ihm hier anführen: »Die Anlage des Orts ist erfreulich; bei allen dergleichen finden sich schon fixierte Zufälligkeiten, die unbequem sind; man hat aber zeitig eingegriffen. Architekt und Gärtner verstehen ihr Handwerk und sind gewohnt, mit freiem Sinne zu arbeiten. Der letzte, sieht man wohl, hat Einbildungskraft und Praktik, er fragt nicht, wie das Terrain aussieht, sondern wie es aussehen sollte; abtragen und füllen rührt ihn nicht. Mir war es übrigens, als wäre ich in den nordamerikanischen Einsamkeiten, wo man Wälder aushaut, um in drei Jahren eine Stadt zu bauen. Die niedergeschlagene Fichte wird als Zulage verarbeitet, der zersplitterte Granitfels steigt als Mauer auf und verbindet sich mit den kaum erkalteten Ziegeln; zugleich arbeiten Tüncher, Stukkaturer und Maler[245] von Prag und andern Orten in Akkord gar fleißig und geschickt, sie wohnen in den Gebäuden, die sie in Akkord genommen, und so geht alles unglaublich schnell.«

Gewiß, es war eine eigentümliche Erscheinung, dieses Herauswachsen einer kleinen Stadt aus dem Walde! Mir fielen namentlich auf ganze Striche Land, wo die alten Fichten ein paar Ellen über dem Boden abgesägt und weggeschafft waren und nun einstweilen, bis man Zeit gehabt habe würde, auch die Baumstumpfen auszuroden, Korn dazwischengesät worden war, so daß die Halme mit ihren Ähren um jene Stammreste im Winde wogten.

Von Marienbad fuhren wir die Nacht durch nach Prag, wo wir den 6. August nachmittags ankamen, und wer möchte diese Hauptstadt der Tschechen mit ihren siebzig Türmen und Kuppeln und ihrer reichgezierten Moldaubrücke gesehen haben, den nicht der Anblick überrascht und in eigen romantischer Weise erfaßt hätte! Man kann denken, daß wir unsere Zeit dort aufs beste benutzten. Meinen Gefährten interessierte zumeist der Botaniker Preßl, den wir zuerst besuchten, mich weit mehr der Anatom Ilk, zu welchem wir uns dann wandten, insbesondere um seine trefflich ausgearbeiteten Knochenpräparate zu sehen. Weiterhin öffneten sich uns die Schätze der Universitätsbibliothek, wo so viele Handschriften und Inkunabeln, wichtig für die Geschichte Böhmens, verwahrt werden. Die Schriftzüge von Huß waren es, die gerade hier am meisten mich anziehen mußten. Auch daß echt böhmische Drucke schon vom Jahre 1468 aufgezeigt werden können, war mir neu. Jedoch noch um manches Jahrtausend ältere Drucke, freilich keinen Bücherdruck, sondern Abdrücke fossiler Hölzer und die verwandelten Hölzer selbst, fand man auf dieser Bibliothek noch aufgestellt; es waren die vom Grafen Kaspar von Sternberg aus allen böhmischen Kohlenwerken zusammengebrachten Originale[246] seiner später herausgegebenen »Flora der Vorwelt«, welche sodann dem nach Jahren erst errichteten ständischen Museum einverleibt worden sind. Ich hatte hier zum erstenmal Gelegenheit, von diesen merkwürdigen Formen urweltlicher Farnkraut-, Equiseten- und Palmenstämme eine so schön geordnete reiche Folge vor mir zu sehen; die ungeheuere Verschiedenheit jener uralten Pflanzenwelt von der gegenwärtigen trat mir mit voller Gegenständlichkeit und Neuheit vor Augen, und schon damals befestigte sich in mir die Ansicht, wie höchst eng und befangen der Naturforscher denke, welcher von einer Möglichkeit neu entstehender Gattungen und Arten deshalb sich keinen Begriff machen kann, weil an den gewöhnlich uns umgebenden Naturformen überall die Kette von gleicher Fortpflanzung durch Ei- und Samenbildung von Geschlecht zu Geschlecht sich findet. Dieselbe ursprünglich schaffende Macht der Idee, welche doch unerläßlich wird, anzunehmen für die erste Belebung der Oberfläche des Planeten, sie macht sich in den großen Revolutionsperioden der Erde ja immer wieder von neuem geltend; ja nehmen wir es ganz genau, so können wir sie zuletzt sogar noch alle Tage selbst vor Augen haben.

Wir sahen dann noch das Polytechnische Institut und allerhand andere Sehenswürdigkeiten, und am 8. früh verließ mich mein Gefährte, um nach Dresden zurückzukehren. Allein jetzt und ganz meinen Gedanken nachhängend, wanderte ich nun auf den Hradschin hinauf, um noch einmal ruhig den Überblick der Stadt im Morgenduft zu gewinnen und das Innere der großen in so reichem gotischen Stil gebauten Metropolitankirche ausführlich zu betrachten. Beides versetzte mich in eine durchaus feierliche Stimmung. Ich stand vor der aus 36 Zentner Silber auferbauten Grabstätte der schon mythisch gewordenen Person des Johann Nepomuk, welcher der Sage nach vom[247] König Wenzeslaus zum Tode verurteilt wurde, dieweil er das Geheimnis der Beichte der Königin mitzuteilen standhaft verweigerte und dessen schweigsame Zunge deshalb hier, in edelm Metall eingefaßt, den Gläubigen zur Beförderung der Andacht an Festtagen vorgezeigt wird. Man stürzte ihn, wie es heißt, am 16. Mai 1383 von der Prager Brücke in die Moldau, und fünf Sterne leuchteten da, wo er im Wasser verschwand. Dann sah ich jenes feine alte Muttergottesbild von Cimabue, in dem eine eigene Heiligung lebt, und weidete mich an manchen schönen Wirkungen der großartigen Architektur dieses mächtigen Doms, kurz, ich trank wieder einmal mit vollen Zügen jenen romantischen Duft des Mittelalters, der fast in allen strebenden jugendlichen Gemütern während einer eigenen Lebensepoche besonders ersehnt wird.

Den Rest des Tages widmete ich noch der Besichtigung einiger medizinischen Anstalten und fuhr abends gegen Reichenberg zu weiter, so daß ich dann den zweiten Tag darauf früh, am 10. August, in Zittau eintraf, wo ein anderer Reisegefährte, mir und noch mehr meinen Eltern von Leipzig her befreundet, mich erwartete, um teils die dortigen Basaltberge, teils das Riesengebirge selbst mit mir zu durchwandern. Dieser Mann namens Gerstäcker (dem später so bekannt gewordenen Reisenden ganz fremd) hatte in früherer Zeit in Leipzig allerhand kaufmännische Spekulationen versucht, bei welchen er indes gewöhnlich zu kurz kam, und war nun nach Waltersdorf bei Zittau gezogen, hatte sich dort verheiratet und wohnte jetzt im eigenen ländlichen Hause an einem vorbeisprudelnden Gebirgsbache recht anmutig, übrigens mit Vertrieb der in dortiger Gegend blühenden Damastwebereien Geschäfte machend, die wenigstens ihm ein leidliches Auskommen gewährten. Ich blieb zuerst ein paar Tage bei ihm, machte einige Exkursionen in der malerischen Umgegend, von[248] welcher besonders der Oybin mit seinen im höchsten Grade romantischen Ruinen mir einen großen Eindruck hinterließ und einige zeichnerische Studien veranlaßte, an welchen ich mich noch jetzt gelegentlich erfreue, und am 12. brachen wir auf gegen die höhern Gebirge.

Man gelangt zunächst über Zittau und Reichenau zu dem altertümlichen, auf säulenförmigem Basalt ruhenden Schloß Friedland, wo ein gutes Porträt des berühmten Friedländers verwahrt wird, welches uns denn hauptsächlich Schillers Dichtung halber beschäftigte und auf alle Weise mit der dichterischen Persönlichkeit sich identifizieren sollte. Es bleibt ja allemal eine eigene poetische Wiedergeburt, welche solche geschichtlich halbverblichene Gestalten erfahren, wenn die Muse sie anhaucht! Müssen wir doch dieser Beispiele aus der neuern Zeit besonders gedenken, wenn wir uns erklären wollen, wie die Menschheit zu dem Kultus alter Heroen, eines Achill, eines Odysseus und anderer, gekommen sei. Solange nämlich bloß trockene Aufzeichnungen einer Chronik oder geschichtliche Sagen von bedeutenden Charakteren vermelden, behalten diese Namen ja immer ein mattes haltloses Dasein und schweben wie die Geister, welche dem Odysseus erscheinen, ehe sie vom Blute der Opfer getrunken hatten, nur bleich und gestaltlos im Eingange der Unterwelt; allein erfaßt sie nun der schaffende Genius eines wahren Poeten, bildet dieser sie gewissermaßen von neuem und durchgeistigt sie mit seinen eigenen Gedanken, siehe da, sogleich gewinnen sie Konsistenz und Farbe, ihr Wesen wird vielleicht in etwas geändert, aber es wird innerlich neu geboren, und zwar um jetzt nicht mehr ein vergängliches, sondern ein ewiges Dasein zu leben! Erst von da an gehören sie daher recht eigentlich ihrem Volke oder vielmehr dem Volke des Dichters, ja, im höchsten Falle, in Wahrheit der Menschheit, und ihr höherer Kultus[249] erhält sich dann fort und fort durch alle kommenden Geschlechter. So ist nun auch Wallenstein mir immer ein merkwürdiges Beispiel dieser Art (wenn auch keineswegs höchster Ordnung) gewesen! Denn wer hätte des Kriegsfürsten jener rohen Zeit wohl mit dieser Teilnahme gedacht, hätte ihm Schiller nicht seinen Odem eingehaucht und ihm ein neues, unsterbliches Dasein verliehen! Ebenso aber ist es mit Egmont, mit Tell, mit Don Carlos und so manchen andern!

Von Friedland aus begann unsere Fußwanderung. Ein Träger trug unsere Reisebündel, und heiter durch angenehm wechselnde, ländliche Gegenden schreitend, hofften wir vor Nacht das kleine Bad Liebwerda zu erreichen. Noch vor Dunkelwerden jedoch umlagerte sich der Horizont mit finstern Gewitterwolken, bald war kaum mehr Weg und Steg zu sehen, und jetzt brach nun ein Unwetter los, wie ich deren kaum weiter erlebt zu haben mich erinnere. Der Träger und Führer schritt rüstig voraus und zeigte notdürftig die Straße, ihm folgte ich im triefenden Mantel gehüllt und weiter zurück Gerstäcker. Blitze umleuchteten uns unter gewaltigen Schlägen, und plötzlich fuhr unweit von mir ein Wetterstrahl nieder, so blendend und mit solchem Donnerschlag, daß ich mich kaum aufrecht hielt und wenigstens einen der Gefährten erschlagen wähnte, während mir später Gerstäcker versicherte, er habe mich in dem Augenblicke für verloren gehalten. Indes keinem von uns beiden sollte hier das Ziel gesteckt sein, wir schritten immer tapfer vorwärts, soweit die Blitze den Weg zeigten, und in kurzem waren wir unter Dach und Fach angekommen. Früh beim Auszuge nach den Bergen hin leuchtete ein herrlicher Morgen, und im Westen über fernen Wetterwolken erschien ein prachtvoller Regenbogen, welchen die uns begegnenden Gebirgsbewohner alle für ein sicheres Zeichen nachfolgender schöner[250] Tage erklärten, eine Voraussagung, die sich pünktlich bestätigte, denn unsere ganze Gebirgswanderung war von dem prachtvollsten Wetter begünstigt.

Auch diese in vier Tagen vollendete Tour über den Kamm des Riesengebirges, mit allen seinen Glanzpunkten, die unter den Namen des Zackenfalles, der Elbquellen und Elbwiesen, des kleinen und großen Rades, der Sturmhaube, der Dreisteine und der Schneekoppe bekannt sind, hat mir einen sehr tiefen und unvergeßlichen Eindruck zurückgelassen. Hatte ich bei Rügen zum erstenmal die größern Wellen der See kennenlernen, so war mir dies Gebirge wie eine große beruhigte Welle an der Erdfeste des Planeten. Überall erkennt man zwar noch das harte starre Gerüst des granitenen Skeleton dieser Höhenzüge, aber nur einzelne Klippen, und diese meistens als Trümmerhaufen, ragen aus dem schon durch vieltausendjährige Verwitterung gerundeten, dem organischen Leben wieder zugänglich gewordenen erdigen Überzuge als von weitem kaum merkbare Störungen der großen Wellenlinien des Ganzen heraus! Und welche Zartheit ist in diesen Linien, wie weich geschwungen, wie schwer treu nachzuzeichnen sind sie! Steht man auf den Elbwiesen, da, wo unser schöner Elbstrom als kleiner, klarer Bach zwischen einem Alpenrasen und leicht zu überschreiten dahinfließt, und blickt man nach den sogenannten Siebengründen hinein, wo mächtige Höhen in feinen Lufttinten sich heraufheben, wie hat man da Gelegenheit, abermals die Schönheit der Konturen, aber in ganz anderer Art als an den fast waagerechten Horizonten der See und der Rügenschen Küsten, zu bewundern! Ja, streckt sich denn, von Warmbrunn aus gesehen, nicht die gesamte Masse des Riesengebirges fast gleich den zartgeschwungenen Linien eines schönen Frauenkörpers dahin! Dies alles also war mir neu und gab mir viel zu beobachten. Dazu nun die reine, so noch[251] nie geatmete Alpenluft dieser Höhen, die schon merklich abweichende Vegetation, zumal die weiten Strecken des seltsamen Knieholzes, welches, in dem Verwebtsein seiner Wurzeln und Zweige fast undurchdringlich, viele Abhänge und Rücken überzieht, die weiten Fernsichten ins offene Land, die andern Farbentöne der Luft bei den herrlichen Morgen- und Abendröten; man möchte wochenlang verweilen, um alles dies durch ausführliche Studien sich vollständig einzuprägen!

Den 16. August kam ich hinab nach Warmbrunn, sah dort die eigentümlichen warmen Quellen und jede Einrichtung ihrer heilsamen Bäder, machte dann am folgenden Tage noch die Exkursion nach der romantischen, wohlerhaltenen Ruine des Kynast und dem schäumenden Kochelfall, welche beide in sorgfältigen Studien noch jetzt vor mir liegen, und übernachtete endlich in dem seltsam stundenlang in den Vorgebirgstälern sich dahinstreckenden Dorfe Schreibershau, von wo aus ich endlich über Flinsberg, dessen angenehme kohlensaure Quellen in der Hitze uns sehr erquickend waren, am 19. mittags in Zittau wieder eintraf.

Ich wohnte nun noch ein paar Tage bei meinem Reisegefährten in Waltersdorf, wohlgepflegt von seiner einfachen sorglichen Hausfrau, und benutzte diese Zeit, um noch die merkwürdigsten Basalte dortiger Umgegend kennenzulernen. Es ist dies eine sehr interessante Stelle unserer Höhenzüge; der Basalt in ungeheuern Erhebungen hat die Sandsteinlager jener Gegend vielfach zerrissen und bald in den schönsten säulenförmigen Massen, bald als ungeformtes Gestein, so an der sogenannten Lausche (einer beträchtlichen Höhe, von wo aus ich das Riesengebirge noch einmal begrüßen konnte), sich emporgedrängt. Vorzüglich überraschend war mir bei einer Wanderung in das dicht an Waltersdorf grenzende Böhmen die Ruine[252] des Tollensteins, einer auf solcher Basaltmasse gelegenen alten Burg, wo innerhalb der noch ziemlich erhaltenen Ringmauer ein formloser Basaltkegel turmhoch heraufsteigt und für die selbst auf mäßiger Höhe gelegene, ganz aus Basalttrümmern erbaute Burg als Warte dienen mußte. Der Anblick beschäftigte mich sehr, und ich zog denn auch sogleich die Mappe hervor und begann eine ausführliche Zeichnung der ganzen originellen Lokalität.

Dies hätte mir indes allerdings bald sehr übel ausgehen können, denn nicht lange hatte ich gezeichnet, so kam aus unten im Tale gelegenen Häusern ein Mann herauf, nichts Geringeres beabsichtigend, als mich festzunehmen und als irgendeinen verfänglichen Kundschafter des Landes nach Theresienstadt abführen zu lassen. Ich hatte gut meine Zeichnungen vorlegen, die von irgend militärischen Situationsplänen weit entfernt waren, auch das Interesse der Kunst geltend zu machen; »das Zeichnen nach der Natur sei einmal in den österreichischen Staaten verboten, und das k.k. Einbruchsamt habe den Auftrag, auf alle Zuwiderhandelnde zu fahnden und nach Befinden sie einzuliefern«, hieß es, und nur die Dazwischenkunft von Gerstäcker, der mir später nachgegangen war, nun zufällig richtig mich hier traf und sich als selbst hier wohlbekannter Handelsmann auf seine Bekanntschaft mit Grenzbeamten berufen, auch für mich gutsagen konnte, beendigte diesen verdrießlichen Handel, von dem ich mich indes nicht abhalten ließ, nun doch meine Zeichnung bis auf den letzten Strich zu vollenden.

So kehrte ich denn abermals mit vielen neuen Vorstellungen bereichert, durchatmet von Gebirgsluft und gestärkt in allen Gliedern, am 24. August zu meiner gewohnten Tätigkeit in Dresden zurück.

1

»Ich habe genug Verrückte in Paris.« (Anmerkung des Herausgebers.)

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 1. Band. Weima 1966, S. 225-253.
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