8. Kapitel
Richtigstellung der Begriffe / Dschong Ming

[258] Wenn die Begriffe richtig sind, herrscht Ordnung, wenn die Begriffe versagen, herrscht Verwirrung. Daß die Begriffe versagen, ist aber die Schuld der Schwätzer. Die Schwätzer nennen das Unmögliche möglich, das Nichtwirkliche wirklich, das Unrichtige richtig, das was nicht falsch ist, falsch. Dagegen sind die Reden des Edlen geeignet, was wirklich an einem Menschen tüchtig ist, was tatsächlich an einem Menschen untauglich ist, zu bezeichnen und das deutlich zu machen, wodurch Ordnung hochkommt und[258] wodurch Verwirrung entsteht, zu zeigen die Verhältnisse der Dinge, und worauf das Leben der Menschen beruht.

Wo immer Verwirrung herrscht, da sind die Strafen und die Bezeichnungen nicht treffend. Ein Fürst, auch wenn er untauglich ist, scheint doch immer Weise anzustellen, Gute zu hören und das Richtige zu tun. Das Übel ist nur, daß das, was er als tüchtig bezeichnet, darauf hinausläuft, daß es die Befolgung des Untüchtigen bewirkt, das was er als gut bezeichnet, darauf hinausläuft, daß es die Befolgung des Unrechts bewirkt, das was er als richtig bezeichnet, darauf hin ausläuft, daß es die Befolgung von Verkehrtheiten bewirkt. Auf diese Weise haben sich Strafen und Bezeichnungen von der Wahrheit entfernt und der Laut bezeichnet etwas anderes, als das durch ihn vertretene Ding. Tüchtig ist soviel wie untüchtig, gut ist soviel wie unrecht, richtig ist soviel wie verkehrt. Wenn dann der Staat nicht in Verwirrung, die eigne Person nicht in Gefahr gerät, worauf will man dann noch warten!

Der König Min von Tsi verstand es, Staatsmänner zu begünstigen, aber verstand nicht, was man unter einem Staatsmann zu verstehen hat. Darum als Yin Wen26 ihn über diese Dinge ausfragte, wußte der König nichts zu erwidern. Deshalb fand ein Gung Yü Dan bei ihm Glauben, ein Dscho Tschï Anstellung. Durch Anstellung des Dscho Tschï und Vertrauen auf Gung Yü Dan erwies sich der König als sein eigener Feind.

Yin Wen trat vor den König Min von Tsi. Der König Min sagte zu Yin Wen: »Ich liebe sehr die Staatsmänner.« Yin Wen sprach: »Ich möchte wissen, was Eure Hoheit für einen Staatsmann hält.« Da wußte der König dem Yin Wen nichts zu erwidern.

Yin Wen sprach: »Wenn es einen Mann gäbe, der ehrfurchtsvoll den Eltern dient, im Dienst des Fürsten treu, den Freunden gegenüber wahrhaftig und in der Gesellschaft seines Heimatsortes verträglich ist: könnte, wer diese vier Dinge besitzt, als Staatsmann bezeichnet werden?«

Der König von Tsi sprach: »Das ist wirklich einer, der als Staatsmann zu bezeichnen ist.«[259]

Yin Wen fragte: »Wenn Ihr eines solchen Mannes habhaft werden könntet, würdet Ihr ihn dann als Beamten anstellen?«

Der König sprach: »Das möchte ich sehr gerne, nur kann ich keinen finden.«

Yin Wen sprach: »Angenommen dieser Mann würde in öffentlicher Sitzung des Rats beleidigt und würde sich doch nicht schlagen: würdet Ihr ihn dann immer noch als Beamten anstellen?«

Der König sprach: »Nein, wenn ein höherer Beamter beleidigt wird, ohne sich zu schlagen, so ist das eine Ehrenberaubung. Wer seiner Ehre beraubt ist, den kann ich in meinem Dienst nicht brauchen.«

Yin Wen sprach: »Obwohl jener Mann, als er beleidigt wurde, sich nicht schlug, verlor er dadurch nicht die vier obengenannten Tugenden. Solange er die vier Tugenden nicht verlor, hat er nicht eine einzige Eigenschaft verloren, um derentwillen er Beamter geworden war. Aber obwohl er keine der Eigenschaften verlor, um derentwillen er Beamter geworden war, würdet Ihr ihn dennoch nicht mehr als Beamten wollen27? Ist dann überhaupt das, was Ihr vorher als Staatsmann bezeichnet, ein Staatsmann?«

Der König wußte nichts darauf zu erwidern.

Yin Wen sprach: »Wenn z.B. jemand sein Volk regieren wollte, indem er die Leute verurteilt, die Unrecht tun, und ebenso die Leute verurteilt, die kein Unrecht tun, wenn er die Leute bestraft, die sich vergehen, und ebenso die Leute bestraft, die sich nicht vergehen, und er sich darüber beklagen wollte, daß das Volk schwer zu regieren sei: wäre das angängig?«

Der König verneinte.

Yin Wen sprach: »Wenn ich es sagen darf, so scheinen mir einige Unterbeamte in Tsi nach diesem Vorbilde zu regieren.«

Der König sprach: »Wenn ich wirklich so regiere, dann kann ich mich freilich nicht beklagen, daß das Volk sich nicht regieren läßt, aber ich vermute, daß es doch wohl noch nicht so weit gekommen ist.«

Yin Wen sprach: »Nachdem ich die Sache erwähnt, darf ich die Auskunft nicht schuldig bleiben; gestattet daher, daß ich meine[260] Meinung sage: Des Königs Gebot lautet: Wer andere tötet, soll sterben, wer andere verwundet, soll bestraft werden. Wenn nun unter den Bürgern sich solche befinden, die des Königs Gebot ganz besonders respektieren, so werden sie, selbst wenn sie beleidigt werden, nicht wagen, sich zu schlagen, eben um des Königs Gebot vollkommen zu halten. Und nun sagt der König: Wenn einer beleidigt wird, und sich nicht zu schlagen wagt, das ist schimpflich. Allein unter schimpflich ist etwas anderes zu verstehen, als was Ihr als schimpflich bezeichnet. Wenn Ihr einen, den Ihr als Beamten berufen, aus dem Dienste entlaßt, so bezeichnet Ihr ihn damit als schuldig. Das heißt aber, daß Ihr einen bestraft, der sich nicht vergangen hat.«

Der König von Tsi wußte nichts darauf zu erwidern.

Weil der König in allen Gesprächen so war, ging sein Reich zugrunde, und er selbst kam in Gefahr, daß er fliehen mußte nach Gu und dann nach We. Und doch war das Königreich Tsi28 der erste Lehensstaat des Hauses Dschou, der dem Tai Gung Wang als Zeichen der Anerkennung verliehen worden war, und der Herzog Huan hatte, auf ihn gestützt, die Hegemonie ausgeübt, weil er die Unterscheidung von Wesen und Schein, die Guan Dschung machte, verstanden hatte.

Fußnoten

1 Vgl. Hua Dsï, Kapitel Schen Ki.


2 Der König We Liä von Dschou (weder Kau Liä noch Kau, wie die Kommentare sagen) setzte seinen jüngeren Bruder als Herzog Huan von West-Dschou ein. Herzog We ist der Sohn dieses Huan, muß also um das Jahr 400 v. Chr. gelebt haben. Vgl. Schuo Yüan 13.


3 Tau Tiä, die bekannten Ornamente auf den chinesischen Bronzen.


4 Dschau annektierte Dschung Schan schließlich ganz.


5 Yän eroberte Tsi 284.


6 Hierher gehört der Satz: Gewinnt man einen Staatsmann ....


7 Vgl. Sin Sü 7 u. 8; Yän Dsï Tschun Tsiu 5.


8 Vgl. Liä Dsï 8, 6; Sin Sü 7; Dschuang Dsï 6; Huai Nan Dsï 13.


9 Liä Dsï 6; Han Fe Dsï 3,15; Schuo Yüan 13; Dschuang Dsï 5.


10 Dso Dschuan Herzog Hi 32. Jahr; Huai Nan Dsï 12.


11 Huai Nan Dsï 18.


12 Vgl. Kung Tsung Dsï, B; vgl. Gia Yü 1, 5.


13 Vgl. Dso Dschuan, Herzog Siang 30. Jahr.


14 Kung Dsï war nicht unter Herzog Ai, sondern schon unter Herzog Ding Beamter in Lu.


15 Schuo Yüan 6; Sin Sü 2; Guo Tsche 3.


16 Der Sinn ist wohl: Derartige Fürsten können sich ihren Beamten gegen über nicht zu einem ruhigen Vertrauen aufschwingen, darum können auch die Beamten ihrerseits nicht einfach ihre Aufgabe erfüllen im Bewußtsein des Vertrauens ihres Fürsten, sondern müssen sich dauernd bemühen, sich seiner Gunst zu versichern.


17 Zur Zeit als Dschou Gung für den jungen König Tschong die Regierung führte, erhoben sich seine beiden Brüder im Verein mit mehreren Grenzstaaten gegen die Zentralregierung.


18 Vgl. Schuo Yüan 7; Gia Yü 2; Lun Hong 27; Huai Nan Dsï 11.


19 Dso Dschuan, Herzog Hi 23. Jahr.


20 Dso Dschuan, Herzog Hüan 2. Jahr.


21 Die Familie Gou kommt in Lu nicht vor, vermutlich muß es Hi heißen. Die Familie Dschung Gun ist die anderwärts unter dem Namen Mong bekannte. Huai Nan Dsï 18; Dso Dschuan, Herzog Dschau von Lu 28. Jahr.


22 Vgl. Schuo Yüan 17.


23 Huai Nan Dsï 15.


24 Vgl. Liä Dsï 8, 31, wo der Text besser ist.


25 Vgl. Liä Dsï 8, 34; Huai Nan Dsï 13.


26 Gung Sun Lung 2; Kung Dsung Dsï, B.


27 Gestrichen zwölf Zeichen nach Dschu Dsï Ping I.


28 Min Wang ist gestrichen, vgl. Dschu Dsï Ping I.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 258-261.
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