Ärmelkanal-Tunnel

[106] Ärmelkanal-Tunnel (channel tunnel; tunnel sous la Manche; galleria sotto la Mancia). Der Gedanke einer unterseeischen Verbindung zwischen Frankreich und England unter dem Ärmelkanal ist in Frankreich bereits 1802 aufgetaucht und ist diese Verbindung 1834 vom Ing. de Gamond ernstlich geplant worden; derselbe stellte aber den vollständigen Entwurf erst 1855 fertig. Nach diesem Plane sollte der 33 km lange, 25–75 m unter dem Meeresgrunde liegende Tunnel 135 Mill. M. kosten. Der englische Ing. Hawkshaw bearbeitete sodann 1867 einen Entwurf für einen 34 km langen, 100 m unter dem Meeresspiegel liegenden, geraden Tunnel. Dies gab im Jahre 1868 die Veranlassung zur Bildung eines Komitees, das mit den Regierungen von Frankreich und England behufs Erlangung von Staatsbeihilfen verhandelte.

1872 bildete sich eine französisch-englische Kanaltunnelgesellschaft, deren französischer Teil sich sodann 1875 ein Kapital von 1∙6 Mill. M. für Vorarbeiten sicherte.

Durch Gesetz vom 2. August 1875 ward der Bau einer von der französischen Küste zwischen Calais und Boulogne ausgehenden, unterseeischen Eisenbahn bis zum Anschluß an eine gleiche von der englischen Küste ausgehende Bahn genehmigt und der französischen Gesellschaft die Konzession auf 99 Jahre ohne Beihilfe unter der Bedingung erteilt, daß sie nach 8 Jahren erlischt, wenn bis dahin ein Einvernehmen mit der englischen Gesellschaft nicht erzielt oder der Bau sonst unmöglich wird.

1875 und 1876 wurden von der französischen Gesellschaft Tiefenmessungen und geologische Untersuchungen ausgeführt, wobei festgestellt wurde, daß die größte Tiefe des Kanals 60 m beträgt und die Gesteinsschichten am Meeresgrunde der Kreideformation angehören, deren mittleres Glied, der Gault, zwischen Folkestone und Sangatte ausstreicht, auf dem die festere, graue und die weiche, weiße Kreide liegen, die auch die Klippen auf beiden Küsten bildet.

Die Ergebnisse der Aufnahmen waren die Veranlassung zur Abänderung des Projektes Hawkshaw, wonach mit Rücksicht auf die Faltenbildungen der Gesteinsschichten der Tunnel nicht in gerader, sondern in etwa dreimal gekrümmter Linie mit Sicherheit vollständig in fester, grauer Kreide bei 37 km Länge (ohne Zufahrtslinien), 100 m größter Tiefe unter dem Meeresspiegel und 30–50 m über dem Gault zu führen wäre.

Die South-Eastern-Eisenbahngesellschaft befürwortete mit der Chatam-Dover-Eisenbahngesellschaft die von der französischen Gesellschaft vorgeschlagene Linie, weil sie in Dover und Folkstone an ihre Eisenbahnlinien anschließt, während die englische Kanaltunnelgesellschaft einen geraden Tunnel von Sangatte nach Fauhole mit 33∙5 km Länge, der nicht in der untersten, sondern in der mittleren, aber noch genügend dichten Kreide liegen würde, bevorzugt.

Um weitere Beweise für die Dichtigkeit der Kreideschichten und die Möglichkeit der Durchführung der vorliegenden Entwürfe zu erbringen, haben die South-Eastern-Eisenbahngesellschaft und die französische Kanaltunnelgesellschaft umfangreiche Schacht- und Stollenbauten ausgeführt. Im Jahre 1882 wurden auf der französischen Seite mit der Beaumont-Bohrmaschine in 6 Monaten 1800 m Stollen unter dem Meere hergestellt; ebenso war auch auf der englischen Seite der Stollen auf etwa 1400 m Länge vorgetrieben.

Im Jahre 1882 wurden aber auf Befehl des englischen Handelsamtes die Tunnelarbeiten auf englischer Seite eingestellt, während die Arbeiten auf französischer Seite noch eine Zeitlang im Jahre 1883 fortgesetzt, dann aber auch eingestellt wurden. Dagegen hat sich die französische Kanaltunnelgesellschaft nicht aufgelöst, und ist bereit, die Arbeiten wieder aufzunehmen, sobald die englischen Behörden[106] ihren Widerstand gegen den Bau des Kanaltunnels aufgeben.

Bis heute ist eine Genehmigung seitens der englischen Behörden zur Fortsetzung der begonnenen Arbeiten noch nicht wieder erteilt worden.

Im Jahre 1906 trat der Direktor der französischen Kanaltunnelgesellschaft Breton mit einer Denkschrift über den Kanaltunnel wieder hervor.

Hiernach wäre die Tunnellinie ungefähr dieselbe wie sie schon 1876 von der französischen Gesellschaft vorgeschlagen wurde und aus Abb. 124 zu ersehen ist.

Der Tunnel wird samt den Zufahrten allerdings 55 km lang, an tiefster Stelle 100 m unter dem Meeresspiegel und auf seine volle Länge in grauer Kreide liegen.

Der Querschnitt soll aus 2 kreisförmigen Röhren von je 5∙6 m innerem Durchmesser mit einem Achsabstand von 15 m bestehen.

Um möglichst wenig Höhe zu verlieren und den Tunnel tunlichst kurz zu erhalten, wird dessen tiefste Stelle etwa in der Mitte liegen, wobei die größte Steigung der Rampen 10 nicht überschreiten soll.

Zur Sicherung einer guten Entwässerung sollen seitlich der Tunnelachse Seitenstollen ausgeführt werden, die gegen die an den beiderseitigen Küsten abgesenkten Schächte Gefälle erhalten und durch Querstollen zeitweise mit dem Tunnel verbunden werden, wie in Abb. 124 die feinpunktierten Linien zeigen. Aus den Schächten soll das dort gesammelte Wasser mit Pumpen gehoben werden.

Die Seiten- und Querstollen erlauben dann auch Vermehrung der Arbeitsstellen und Beschleunigung des Arbeitsfortganges.

Für die Bauzeit des Tunnels einschließlich der für die Entwässerung erforderlichen Schächte, Seiten- und Querstollen werden etwa 7 Jahre und die Gesamtkosten mit rund 320 Mill. M. angenommen.

Es wird gerechnet, daß jährlich etwa 1 Mill. Reisende durch den Tunnel fahren werden und eine Reise von Paris nach London nur 5 Stunden dauern wird, daher in einem Tage hin und zurück gemacht werden kann.

Literatur: Der Kanaltunnel. Die Eisenbahn (Schweiz. Bauztg.) 1875; Ztschr. d. österr. Ing.- u. Arch.-Ver. 1875; Ztg. d. VDEV. 1876 u. 1882; Revue industrielle 1882; Woch. f. Baukunde 1887; Mémoires d. l. Soc. des ingénieurs civils 1883; Génie civil 1906. – Forchheimer, Tunnel unter Wasser, D. Bauztg. 1881. – Dolezalek, Subaquare Tunnels, Suppl.-Bd. Meyers Lexikon 1883. – Landsberger, Unterseeische Verbindung zwischen Frankreich und England. Zbl. d. Bauverw. 1907. – Sartiaux, Unterseeische Tunnels. Bulletins d. int. EKV. 1910; Tunnel sous la Mache. Revue gén. des chemins de fer 1906. – Konta, Der Tunnel unter dem Ärmelkanal. Ztschrft. d. Ing.-Ver. in Hannover 1910, H. 3.

Dolezalek.

Abb. 124.
Abb. 124.
Quelle:
Röll, Freiherr von: Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Band 1. Berlin, Wien 1912, S. 106-107.
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106 | 107
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