[802] Tunnel (engl., »Trichter, Röhre«, v. altfranz. tonnel, Tonne; hierzu die Tafel »Tunnelbau« mit Text), ein wesentlich wagerechter Gang (Stollen) von solchen Abmessungen, daß ein Verkehrsweg (Straße, Schiffahrtkanal, Eisenbahn) durch das Erdinnere geführt werden kann. Stollen zu Entwässerungszwecken, aber auch wirkliche Verkehrstunnel sollen schon von Assyrern und Babyloniern hergestellt worden sein. Die großartigen Felsengräber der Ägypter, die gewaltigen Felsentempel Nubiens und Indiens sind hierher gehörige Bauten. Sie sind mit bloßem Handwerkszeug aus dem härtesten Felsen herausgearbeitet. Zweifellos war aber im alten Äthiopien und Ägypten das Feuersetzen (s. d.) bereits im Gebrauch, auch die Diamanten haben schon längst ein wichtiges Hilfsmittel zur Bearbeitung der Steine geboten. Bei den ältesten Tunnelbauten findet sich keinerlei. Gemäuer. Die Azteken und Peruaner hatten Felsentunnel für ihre Wasserleitungen. Semiramis hat die Durchtunnelung der Gebirge von Baghistan und Zaracocus ins Werk gesetzt, und in Babylon ist ein T. unter dem Euphrat zur Verbindung des königlichen Palastes mit dem Tempel des Jupiter Belos ausgeführt worden, der mit Backsteinen ausgemauert, 3,7 m hoch, 4,6 m weit und vermutlich gegen 900 m lang war. Dieser war aber gewiß ein »Tagbau«, d. h. in einem offenen Einschnitt hergestellt und nachher zugeschüttet; nach Herodot hat man, um diesen Gang und die gleichzeitige Brücke herzustellen, den Euphrat abgeleitet.
Die Römer, im Tunnelbau vermutlich Schüler der Etrusker, bauten T. für Verkehrswege, Entwässerungen, Wasserleitungen, im Felsen und in Erde, in Italien und wo immer ihre Eroberungen sie hinführten. Die Emissaria oder Entwässerungstunnel gehören zu den großartigsten und vollendetsten Ingenieurbauten des Altertums. Von den Wegtunneln aus der Römerzeit sind zu nennen jener auf der Flaminianischen Straße durch die Apenninen, von Vespasian erbaut, und der bis heute bestehende und benutzte T. durch den Posilipp zwischen Neapel und Puzzuoli, der ungefähr 36 v. Chr. durch Coccejus erbaut wurde.[802] Seine ursprüngliche Länge wird zu 1000 Schritt, seine Höhe zu 30 Fuß, seine Weite zu 25 Fuß angegeben. 359 n. Chr. wurde ein T. 78 Fuß hoch, 5 Fuß weit und 6000 Fuß lang hergestellt, um den Albaner See abzulassen. Fünfzig Schächte (putei) wurden längs seiner Linie abgeteuft zur Schaffung vermehrter Angriffspunkte und zur Lüftung. Ein ähnliches Werk ist der T. zur Ableitung des Fucinussees in den Lirisfluß, an dem unter Kaiser Claudius 30,000 Mann elf Jahre lang gearbeitet haben, und der 52 v. Chr. vollendet wurde. Nach Livius betrug seine Länge gegen 6 km, seine Höhe 5,8 m, seine Weite 2,8 m. Längs seiner Achse waren 22 teils seigere (lotrechte), teils donlägige (geneigte) Schächte abgeteuft worden. Nach dem Untergang des weströmischen Reiches ist, bis auf einige Entwässerungstunnel in Spanien, während eines Jahrtausends nichts Nennenswertes auf dem Gebiete der Tunnelbaukunst geschehen.
Erst 1450 lebte sie wieder auf, als Anna von Lusignan einen Alpentunnel zwischen Nizza und Genua durch den Col di Tenda in Angriff nehmen ließ. Das Werk wurde aufgelassen, 1782 durch Viktor Amadeus III. wieder aufgenommen, aber 1794 infolge des Einfalles der Franzosen endgültig aufgegeben, obschon damals 2500 m bereits vollendet gewesen sein sollen. Einen rechten Aufschwung konnte der Tunnelbau erst nehmen, nachdem (wahrscheinlich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrh.) das Schießpulver beim Bergbau Eingang gefunden und das Feuersetzen und Arbeiten mit Schlägel und Eisen verdrängt hatte. So entstand 167981 der Malpastunnel im Zuge des Kanals von Langue d'Oc, in Tuffstein, 157 m lang, 6,9 m breit, 8,4 m hoch; 1707 das sogen. Urner Loch im Saumpfad über den St. Gotthard; 1767 der T. durch den Mönchsberg in Salzburg (Nagelfluh), 120 m lang, 5,6 m weit und etwa 10 m hoch, u. a. Allein erst im 19. Jahrh. wurde dem Tunnelbau durch lockeres und weiches Gebirge, das ohne sofortige Ausmauerung nicht zu halten war, Bahn gebrochen, und zwar zum erstenmal mit dem T. von Tronquoy im Zuge des St.-Quentinkanals, der 1803 durch Sand getrieben worden war. Mit dem Tunnelbau unter der Themse durch Schlammboden hatte man zugleich Schwierigkeiten überwunden, wie sie größer kaum mehr auftreten konnten, und das neueste Zeitalter der Tunnelbaukunst begründet. Der erste Entwurf zum Themsetunnel stammte bereits aus 1798, in dem Dodd einen T. unter der Themse zwischen Tilbury und Gravesend vorschlug. 1804 wirkte Chapman für einen T. bei Rotherhithe, der auch 1807 von einem Schacht aus in Angriff genommen, aber 1808 durch Wassereinbrüche gehemmt wurde. 1823 nahm Marc Isambard Brunel das Werk wieder auf, begann den Bau 1826 und beendete ihn trotz zweimaligen Themseeinbrüchen glücklich 1842. Dieser T. besteht aus einem rechteckigen Körper von Ziegelgemäuer in Zement, der 11,5 m breit, 6,7 m hoch ist und zwei gleichlaufende, hufeisenförmig gewölbte Gänge von je 4,6 m Weite und 5,2 m Höhe enthält, die in Zwischenräumen durch schmale, gewölbte Quergänge verbunden sind. Der ganze Ziegelmauerkörper ruht auf einem Roste von Ulmenbohlen, 3 Zoll dick. Der T. war ursprünglich für zwei Fahrstraßen bestimmt, ist aber später für zwei Eisenbahngleise eingerichtet worden. Seit 1830, mit der Entwickelung des Eisenbahnwesens, haben sich rasch verschiedene Tunnelbauweisen ausgebildet, wie sie heute noch im Gebrauch sind. Die ersten Eisenbahntunnel hat Rob. Stephenson auf der Linie Liverpool-Manchester (182630) ausgeführt, und beim Blechingley- und beim Saltwoodtunnel entstand die sogen. englische Tunnelbauweise. Bei Königsdorf (Köln-Aachen) und bei Oberau (Leipzig-Dresden), 1837, schuf Meixner nach dem Muster der in den Freiberger Bergwerken üblichen Zimmerungsarten eine Tunnelbauweise, die er später (1839) bei Gumpoldskirchen (Wien-Triest) anwandte und darauf, beim Bau der Semmeringbahn, im Verein mit Keißler weiter ausbildete zur österreichischen Tunnelbauweise. Außer diesen beiden haben namentlich die Kernbauweise und die belgische Bauweise Bedeutung erlangt. Weiteres s. Text zur Tafel.[803]
Von den Tunneln unter Wasser sind hervorzuheben: der Severntunnel bei Bristol, 187588 unter großen Erschwerungen durch Wassereinbrüche erbaut von Walker, 7,25 km lang, davon 3,62 km unter Wasser; der Merseytunnel (Fig. 1) zwischen Liverpool und Birkenhead (188085), von Fox erbaut, 3,2 km lang, davon 1,2 km unter Wasser, und der Hudsontunnel zwischen New York und Jersey City. Die Versuche einer Untertunnelung des Hudson (Fig. 24) reichen bis 1874 zurück, in welchem Jahre eine Gesellschaft den Bau einer Bahn begann, die in zwei eingleisigen Tunneln den Hudson unterfahren sollte.
Der Bau des Tunnels wurde 1879 in Angriff genommen, dann 1882 wegen Geldmangels wieder eingestellt. 1889 wurde unter Huttons Leitung mit Anwendung von Druckluft und Schild der Bau neuerdings aufgenommen und im ganzen 1380 m weit vorgetrieben; doch waren schon 1891 die Mittel wieder erschöpft. Seit 1902 wurde an dem Werke weiter gearbeitet, doch ist es nicht mehr für die durchgehenden Fernbahnen, sondern für Straßenbahnwagen bestimmt. Um eine ununterbrochene Verbindungslinie zwischen der Pennsylvania- und der Long Island-Eisenbahn zu schaffen, hat man 1903 die Untertunnelung des Hudson, der Manhattaninsel mitten durch New York, und des East River in Angriff genommen (Fig. 4). Weiter sind zu nennen: der 6 m weite T. unter dem St. Clairfluß zwischen Huron- und Eriesee, 188991 erbaut, 1839 m lang; endlich der 1892 begonnene Blackwell-Straßentunnel unter der Themse bei Greenwich, 1362 m lang nebst zwei etwa 265 m langen Rampen, 368 m liegen unter der Themse. 189699 wurde der erste T. unter der Spree in Berlin erbaut, 454 m lang.
Während in England und Amerika der Bau von Tunneln unter Wasser fortschritt, hat sich in den europäischen Alpenländern der Bau langer T. durch Hochgebirgsketten allmählich zur höchsten Vollkommenheit entwickelt.
Der 12,333 m lange T. durch den Col de Fréjus, bekannt unter dem nicht zutreffenden Namen Mont-Cenis-Tunnel, war mit Handbohrung in Angriff genommen worden und hätte, nach den anfänglichen Fortschritten, 27 Jahre zu seiner Vollendung bedurft. Da erfand Sommeiller die mit Druckluft betriebene Stoßbohrmaschine, 1859 wurde sie in Betrieb gesetzt, 25. Dez. 1870 erfolgte der Durchschlag, 1871 wurde das Werk vollendet. Der T. durch den St. Gotthard ist 14,920 m lang. Er wurde im Sommer 1872 begonnen. Zum Bohren der Sprenglöcher dienten verbesserte Bohrmaschinen nach Sommeiller, aus denen sich zuletzt die Maschine von Ferroux entwickelte. Das Sprengen erfolgte bereits mit Zuhilfenahme des Dynamits. Der Durchschlag fand schon 28. Febr. 1880 statt, und im Herbst 1881 war der T. vollendet.
Der T. durch den Arlberg hat 10,250 m Länge. Er wurde im Juni 1880 in Angriff genommen, im November 1883 erfolgte der Durchschlag, im Frühjahr 1885 die Vollendung. Hier waren auf der Ostseite Bohrmaschinen von Ferroux, auf der Westseite zum Teil Brandtsche Drehbohrmaschinen im Gebrauch, und zum Sprengen diente ausschließlich Dynamit.
Der Simplontunnel ist 19,803 m lang und wurde im November 1898 in Angriff genommen. Der Durchschlag erfolgte im Februar 1905, obwohl man mit den größten Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt: ungeheurer Druck, dem auch die kräftigsten Eiseneinbauten nachgaben, Wassereinbrüche bis zu 1200 Sekundenliter, heiße Quellen in Verbindung mit einer Gesteintemperatur bis 56°. Am 18. Okt. 1905 war das Riesenwerk vollendet, 23. Febr. 1906 wurde es von der Unternehmung übergeben, 1. Juni 1906 eröffnet. Zum Bohren im Vortrieb diente ausschließlich die Brandtsche Bohrmaschine, zum Sprengen Gelatinedynamit. Beim Simplontunnel wurden zum erstenmal in den Alpen zwei eingleisige T. nebeneinander, statt eines zweigleisigen, angewendet. Hierdurch allein wurde es möglich, in die vordersten Arbeitsstrecken die bei einem langen, in heiße Gesteingegenden führenden Alpentunnel als unumgänglich notwendig erkannten Luftmengen zu bringen und Arbeitsbedingungen dauernd zu schaffen, wie sie sich in einem gewöhnlichen T. erst nach dem Durchschlag einstellen können. Über die Alpentunnel vgl. auch die Spezialartikel. Die Zusammenstellung zeigt die Fortschritte der Spreng- und Förderkunst beim Bau der Alpentunnel.
[804] Vgl. Rziha, Lehrbuch der gesamten Tunnelbaukunst (Berl. 186472, 2. Aufl. 1874); Schoen, Tunnelbau (2. Aufl., Wien 1874); Simms, Practical Tunnelling (4. Aufl., Lond. 1896); Drinker, Tunnelling (New York 1878); Mackensen, Der Tunnelbau (im »Handbuch der Ingenieurwissenschaften«, 3. Aufl., Leipz. 1902); Biadego, I grandi trafori alpini (Mail. 1906); Pressel, Die Bauarbeiten im Simplontunnel (Zürich 1906); Stauffer, Modern tunnel practice (Lond. 1906), auch die Literatur bei Artikel »Sankt Gotthard« und »Simplon«.
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