Bezifferung

[169] Bezifferung. (Musik)

Die Bezeichnung der Accorde des Generalbasses, durch Ziffern oder durch andre Zeichen. Derjenige, welcher den Generalbaß spielt, schlägt mit der linken Hand die Töne des Basses an, mit der rechten Hand aber die, zu den Baßtönen gehörigen, Accorde. Man ist gewohnt, nur die Baßtöne durch Noten auszudruken, die Accorde aber durch Ziffern, welche über die Baßnoten gesetzt werden. Es giebt zwar Spieler, die sich berühmen, den Generalbaß ohne Bezifferung richtig zu spielen; allein dieses ist nur alsdenn möglich, wenn sie die Partitur des Tonstüks vor sich haben. Da es eine ganz bekannte Sache ist, daß über einerley Baß mehrere, ganz von einander abgehende, Harmonien können genommen werden; so ist offenbar, daß der Generalbaßspieler ohne Bezifferung nicht wissen kann, welche von allen möglichen Harmonien der Tonsetzer gewählt hat, und es geschieht nur von ohngefehr, wenn er die wahre trift. Wir wollen denen, die sich berühmen, einen unbezifferten Generalbaß richtig zu spielen, das Urtheil eines der größten Meister zur Warnung anführen. »Wir sehen allenthalben, (sagt er,) daß zu einem guten Accompagnement noch sehr viel gehöre, wenn auch die Bezifferung so ist, wie sie seyn soll. Es erhellet hieraus das Lächerliche der Anfoderung, unbezifferte Bässe zu accompagniren; und man sieht zu gleich die Unmöglichkeit ein, die letztern dergestallt abzufertigen, daß man nur einigermaßen zufrieden seyn könnte.1« Es erhellet hieraus, daß die Bezifferung des Generalbasses eine ganz nothwendige Sache sey.

Deswegen ist auch zu wünschen, daß die größten Meister sich vereinigten, die vollkommenste Bezifferung ausfündig zu machen, und dieselbe alsdenn durchgehends einzuführen. Denn noch itzt ist die Methode zu beziffern nicht nur unvollkommen, sondern auch wankend, indem einerley Accorde nicht immer auf einerley Art bezeichnet werden.

Die gewöhnlichen Bezifferungen werden hier nicht angeführt, weil sie, jede in dem Artikel von dem Accord, den sie bezeichnet, besonders angezeiget worden. Also wird hier nur dasjenige angeführt, was die Bezifferung überhaupt betrift.

Die Unvollkommenheit der Bezifferung erhellet daraus, daß es auch bey den mit größtem Fleiß bezifferten Bässen so sehr schweer ist, alle Fehler zu vermeiden. Der Begleiter muß, ausser den vor sich habenden Zeichen, noch gar zu viel besondre Regeln in acht nehmen, um nicht zu fehlen. Denn zur guten Begleitung wird nicht blos erfodert, daß man zu jeder Baßnote den rechten Accord nehme, sondern, daß er in der schiklichsten Höhe, und in der schiklichsten Gestalt genommen werde. Bis itzt ist noch keine Bezifferung bekannt, die diese beyden Umstände andeutet. So begnüget man sich z. B. den Sextenaccord durch die Ziffer 6 anzudeuten; ob aber die Sexte oben, oder unten, oder in der Mitte liegen soll, ob sie verdoppelt werden soll, ob man [169] die Terz dabey verdoppeln, oder ob man die Octave dazu nehmen soll, wird durch keine Bezifferung angedeutet. Daher entstehet die Nothwendigkeit der erstaunlichen Menge von Regeln, die auch bey bezifferten Bässen noch in acht zu nehmen sind. Eine andre Unvollkommenheit ist die Menge der Zeichen, die oft zu einem einzigen Accord erfodert werden; von denen noch dazu jedes durchBezifferung oder b oder Bezifferungkann verändert werden; da es denn kaum möglich ist, in der nöthigen Geschwindigkeit sich in alles zu finden.

Es wäre vielleicht nicht unmöglich, diesen Unvollkommenheiten der Bezifferung abzuhelfen, wenn nur die besten Meister sich die Sache mit Ernst angelegen seyn liessen. Wir wünschten vornehmlich, daß ein Kunstverständiger versuchen möchte, ob nicht die Bezifferungen dadurch zu erleichtern wären, daß man über der Baßnote, so oft es angeht, mit einem Buchstaben den Ton anzeigte, dessen Dreyklang, oder Sexten- oder Septimenaccord, den eigentlichen zum Baß gehörigen Accord ausmacht. Folgendes Beyspiel wird dieses erläutern:

Bezifferung

Der gemeine Sextenaccord in der ersten Abtheilung könnte so angedeutet werden, wie in der zweyten Abtheilung zu sehen ist, wo der Buchstabe c andeutet, daß die rechte Hand den zu c gehörigen Dreyklang anschlägt. Der Quartsextenaccord der dritten Abtheilung würde ebenfalls durch c angezeiget; der BezifferungAccord auf H könnte durch Bezifferungangedendet werden, weil der Septimenaccord von G, mit der rechten Hand gegriffen, den BezifferungAccord zu H ausmacht. So würde also dasselbe Zeichen Bezifferunganstatt der drey verschiedenen Bezifferungen Bezifferung, dienen können. Wir überlassen den Meistern der Kunst, dieser Sache nachzudenken, und das Urtheil zu fällen, ob auf eine solche Art die so gar grosse Anzahl der Bezifferungen oder sogenannten Signaturen nicht zu vermeiden, und dadurch die ganze Sache zu erleichtern wäre.

Ofte werden die Bezifferungen, entweder aus Mangel der Ueberlegung, oder auch wol aus Vorbedacht, um den Sachen ein gelehrtes Ansehen zu geben, ohne Noth vermehret, da sie auf durchgehende Baßnoten gelegt werden, wie aus folgenden Beyspielen erhellet:

Bezifferung

Es ist ganz ungereimt, die Bezifferungen so anzubringen, wie hier bey a, b und c, da die bezifferten Noten nur durchgehend sind. Verständige Tonsetzer schreiben diese Fälle wie bey d, e, und f, steht, um anzuzeigen, daß die zur zweyten Note gehörige Harmonie, gleich auf der ersten angeschlagen werde.

Diese ganze Materie von der vollkommensten Bezifferung verdient von einem erfahrnen Tonsetzer vom Grund aus untersucht zu werden, damit einmal eine so gar wichtige Sache zu einer grössern Vollkommenheit könne gebracht werden.

1S. Bach über die wahre Art das Clavier zu spielen. II. Theil. S. 298.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 169-170.
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