Idiotismen

[556] Idiotismen. (Redende Künste)

Wiewol dieses Wort aus der griechischen Sprache zuerst in die Lateinische und hernach auch in die neuern critischen Sprachen übergegangen ist, so hat es seine Bedeutung ganz geändert. Die lateinischen Grammatiker, die dieses Wort von dem Wort Idiota (welches einen ganz gemeinen Menschen bedeutet) abgeleitet hatten, nannten einen mit guter Ueberlegung gewählten, niedrigen, recht einfältigen und naiven Ausdruk, einen Idiotismus. Itzt aber bedeutet es, das, was die Griechen und Römer durch das Wort Idioma ausdrükten; eine Redensart, einen Ausdruk, oder eine Wendung, die einer Sprache so eigen ist, daß es nicht möglich ist, in einer andern Sprache auf eine ähnliche Weise, dasselbe zu sagen. Doch kann man die Bedeutung des Worts auch noch auf das ausdähnen, was die Sprach einzeler Menschen charakteristisches hat; das persönlich eigenthümliche in der Sprache gewisser Dichter und Redner. Es giebt demnach nationale und persönliche Idiotismen. Beyspiele der erstern hat man an vielen Sprüchwörtern und Metaphern, die sich schlechterdings nicht übersetzen lassen. Wenn der gemeine Mann in Deutschland sagt: von Ort zu Ende, so kann man zwar den Sinn dieses Ausdruks in jeder Sprache geben, aber nicht mit dem eigenthümlichen desselben. Wenn ein Italiäner sagt: Dall' un' all' altr' Aurora, so kann man zwar in jeder Sprache den Sinn dieser Worte angeben, aber nicht in jeder auf die Art, daß nur ein Substantivum, wie im Italiänischen gebraucht werde.

Die eigenthümlichen wahren Idiotismen sind blos grammatisch, und das Idiomatische liegt nicht in den Gedanken, oder in den Bildern. Denn eine Metapher, die wir nur darum nicht übersetzen können, weil wir das Bild, worauf sie sich gründet nicht kennen, ist so wenig ein Idiotismus, als ein griechisches Wort, dessen Bedeutung wir nicht mehr [556] wissen. Darum muß man Ausdrüke, die ihren Grund in einem Bilde, Gebrauch, oder in einer Vorstellung haben, deswegen noch nicht für Idiotismen halten, weil sie in gewissen Sprachen so häufig vorkommen, daß man sich des Grundes, worauf sie beruhen, kaum mehr bewußt ist. Bey solchen Ausdrüken, sie seyen in der römischen, griechischen, oder in einer morgenländischen Sprache, kommt es darauf an, ob das Bild uns bekannt sey, und, wenn dieses ist, ob es bey uns, auf der Stelle, da es vorkommt, seine Würkung thue.

Wenn demnach einige Kunstrichter uns die Erinnerung geben, daß man dem morgenländischen Ausdruk in einer gewissen Entfernung folgen müsse, so sagen sie uns etwas so unbestimmtes, daß die Erinnerung völlig unnütze wird. Wollen sie sagen, daß man Personen aus unsern Zeiten, die in unserm Clima, bey unsern Gebräuchen und zu unsrer Denkungsart erzogen sind, keine orientalische Bilder und Ausdrüke in den Mund legen soll, (ein gegründetes Verboth) so haben sie sich unrichtig ausgedrükt. Wollen sie aber verbiethen, daß man morgenländische Personen, in orientalischen Redensarten soll sprechen lassen, so verwerfen sie etwas, das charakteristisch und gut ist. Man braucht überhaupt nicht zu verbiethen, fremde Idiotismen in unsre Sprach einzuführen; denn wahre Idiotismen lassen sich nicht in andre Sprachen versetzen. Es scheinet zwar, daß man fremde Idiotismen in seine Sprache aufnehmen könne: im Grund aber ist es nur ein Schein; weil kein Mensch sie versteht, als in so fern er sie wieder in die fremde Sprach, daraus sie genommen sind, übersetzt. Darum hat die Barbarey fremde Idiotismen zu gebrauchen nur da statt, wo zwey Sprachen gleich bekannt und geläufig sind; wo die redenden Personen in der einen denken und in der andern sprechen. So höret man bisweilen in Berlin, den Ausdruk: er hat sich gut genommen, der den französischen Idiotismus il s'est bien pris ausdrüket. Aber der deutsche Ausdruk ist für den, der nicht französischen kann, vollkommen unverständlich. Indessen kann die Tyranney der Gewohnheit bisweilen gewisse fremde Idiotismen allmählig verständlich und brauchbar machen. So hat die deutsche Sprach unzählige Idiotismen der lateinischen Sprach dadurch bekommen, daß man gewisse Wörter, die in der lateinischen Sprach aus einer Präposition und einem andern Wort zusammengesetzt worden, auf eine ähnliche Weise zusammengesetzt hat, wie z. E. Anfangen, von incipere, Vorwurff (anstatt Gegenstand) von objectum. Ursprünglich waren diese Idiotismen eben so unverständlich und barbarisch, als wenn man das deutsche Wort Vormauer (Schutz) durch Antemurus, oder Mannheit durch Virtus übersetzen wollte. Man sieht wol daß diese Wörter durch die Mönchen, denen die lateinische Sprache geläufiger, als die Deutsche war, wenn sie deutsch schreiben mußten, eingeführt worden sind. Wäre die lateinische Sprache nicht so durchgehends in Deutschland bekannt worden, so würden auch solche Wörter unverständlich geblieben seyn.

Man kann sagen, daß der Dichter oder Redner, welcher die Idiotismen seiner Sprach am glüklichsten zu brauchen weiß, seinen Ausdruk dadurch ausnehmend belebt und natürlich mache. Am allernothwendigsten wird dieses dem comischen Dichter, der sowol das Nationale, als das persönlich Idiomatische durchaus zu treffen sich befleißigen muß. Dann dadurch kann er den Zuhörer am meisten täuschen, und ihn glauben machen, daß er die Natur selbst vor sich sehe. Man kann dem comischen Dichter nie genug empfehlen, daß er gewissen Personen keine Wörter in den Mund lege, die würkliche Idiotismen einer ganz andern Gattung von Menschen sind. So ist es höchst unnatürlich, wenn man Menschen, die, nach ihrem Stand und nach ihrer Lebensart blos sinnliche Begriffe haben können, philosophische, oder aus der Sprach einer verfeinerten Lebensart entlehnte Ausdrüke in den Mund legt; wie wenn man einen Helden aus den trojanischen Zeiten das Wort Tugend, in dem Verstand, in welchem es unsre Moralisten nehmen, wollte brauchen lassen. Man hat um so viel mehr Ursache den Dichtern, die für die Schaubühne arbeiten, die genaueste Beobachtung des Ausdruks und der Sprache, die jeder Classe der Menschen einigermaaßen idiomatisch sind, zu empfehlen, da auch die besten Dichter hierin vielfältig fehlen. Man wird in den gelobtesten französischen Trauerspielen die Helden des Alterthums ofte die Sprache eines französischen Hoffmannes reden hören, und auf unsrer deutschen Schaubühne höret man nur gar zu ofte vornehmere und gemeinere Personen eine Sprache reden, die von der Sprache des Umganges der geringern, oder vornehmern Welt, völlig verschieden, und die eigentlich die Sprache der Schriftsteller ist.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 556-557.
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