Nothwendig

[824] Nothwendig. (Schöne Künste)

In jedem Werke das in bestimmter Absicht unternommen, und mit Ueberlegung verfertiget worden, sind einige Theile nothwendig, weil ohne sie der Zwek desselben nicht erreicht werden, und das Werk das nicht seyn würde, was es seyn soll; andre Theile aber sind blos zufällig, und bestimmen entweder die besondere Art, wie der Zwek erreicht wird, oder sie bewürken einige Nebeneigenschaften desselben. Bey einer Uhr ist alles, was die Richtigkeit des Ganges befördert, nothwendig; aber die besondere Anordnung der Theile, die Form, die Größe, die Ziehrlichkeit der Uhr, und andere Dinge, sind zufällig.

Die Werke des Geschmaks sind in ihrem Ursprunge betrachtet, ofte mehr Aeusserungen der unüberlegten Empfindung, der Begeisterung, oder der Laune als der Ueberlegung; der Künstler wird lebhaft von einem Gegenstand gerühret; seine ganze Seele wird davon entflammet, er fühlet sich so voll von Empfindungen und Betrachtungen, daß er durch Gesang, Tanz, Rede, oder durch andere Mittel die Fülle seiner Empfindungen an den Tag leget. Dabey scheinet also keine Wahl, kein Nachdenken über das, was nothwendig, oder zufällig ist, statt zu haben.

Aber in so fern die Werke des Geschmaks nicht blos natürliche Aeußerungen, sondern Werke der Kunst sind, hat allerdings Ueberlegung dabey statt; und schon der Name der schönen Künste zeiget an, daß man ihre Werke nicht bloß für Würkungen des Naturells, nicht für bloße Ergießungen des empfindungsvollen Herzens halte, ob sie es gleich in ihrem Ursprung sind, und zum Theil auch in ihrer Verfeinerung noch seyn müssen. Die Werke der blossen Empfindung werden nicht eher für Werke der schönen Kunst gehalten, als nachdem das was die Empfindung eingiebt, durch die Ueberlegung auf einem Zwek gerichtet, und unter den Dingen, die Empfindung und Phantasie an die Hand gegeben haben, eine Wahl getroffen worden.

Darum hat auch jedes Werk der schönen Künste wesentliche oder nothwendige, und auch zufällige Theile. Von jenen hängt eigentlich die Vollkommenheit ab, von diesen die Schönheit, Annehmlichkeit, und andere mehr oder weniger wichtige Eigenschaften desselben. Deswegen muß der vollkommene Künstler ein Mann von Verstand und Ueberlegung seyn, der das Nothwendige seines. Werks durch ein richtiges Urtheil erkennet. Wo etwas von dem Nothwendigen fehlet, da ist das Werk im Ganzen mangelhaft, wie schön oder angenehm es auch sonst im ubrigen seyn mag: es gleichet einer Uhr, die bey aller Zierlichkeit unrichtig geht. Je mehr gute Nebendinge zusammenkommen, um ein Werk, dem es am Wesentlichen fehlet, angenehm zu machen, je mehr ist der Mangel des Nothwendigen zu bedauren. [824] Bey Erfindung und Anordnung der Theile muß der Künstler genau das Nothwendige von dem Zufälligen unterscheiden. Auf jenes muß er zuerst sehen, und wenn er alles gethan hat, was dazu gehöret; denn kann er auf das Zufällige denken. So verfuhr Raphael bey Erfindung und Anordnung seiner Gemählde, wie wir anderswo durch das, was Mengs von ihm angemerkt, gezeiget haben.1 Wir haben schon anderswo angemerkt, daß die Erfindung auch in Werken des Geschmaks durch Erkenntnis der Mittel, die zum vorgesezten Zwek führen, bewürkt werde, und daß dieses allemal ein Werk des Verstandes sey. Die reichste und lebhafteste Einbildungskraft allein, reicht zum vollkommenen Künstler nicht hin; denn das Nothwendige wird nur vom Verstand erkennt. Bey dem Ueberflus an Schönheit, die von der Phantasie und der Empfindung abhangen, kann ein Werk, bey dem das Nothwendige nicht genugsam überlegt worden, sehr große Fehler haben. Alsdenn gleicht es schönen Trümmern, wo man einzele Theile von fürtreflicher Schönheit antrift, von denen man aber nicht recht weiß, wozu sie gedient haben.

Man hat aber nicht nur bey der Erfindung der Theile des Werks, sondern auch bey Darstellung, oder dem Ausdruk, und der Bearbeitung desselben, das Nothwendige vor Augen zu haben. Der Redner muß dieses zuerst thun, indem er die Gedanken erfindet, und ordnet, die zum Zwek führen; hernach muß er auch wieder so verfahren, wenn er auf den Ausdruk denkt, wobey der genaue und bestimmte Sinn das Nothwendige, der Wolklang und andere Schönheiten das Zufällige sind. Auch so gar in Nebensachen ist immer etwas das nothwendig, und etwas das zufällig ist; weil auch die Nebensachen einen Zwek haben. Darum ist kein Theil des Werks, der nicht den Einflus der Beurtheilung nöthig hätte. Der Künstler und der Kunstrichter müssen beyde, jener bey der Ausarbeitung, dieser bey Beurtheilung des Werks über jeden einzelen Theil die Frag aufwerfen, warum, oder zu welchem End er da ist, und daraus das Nothwendige desselben beurtheilen. Dieses wird gar ofte versäumt, und daher entstehen gar viel Unschiklichkeiten in den Werken der Kunst, und Unrichtigkeiten in Beurtheilung derselben. Es kann nicht zu ofte wiederholt werden, daß Künstler und Kunstrichter sich dadurch am besten zu ihrem Berufe vorbereiten, daß sie mit gleichem Fleiße sich im strengen methodischen Denken, und im richtigen und feinen Empfindungen durch fleißige Uebung festsezen.

1S. Anordnung. S. 63. auch Gemähld S. 450.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 824-825.
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