[1119] Sylbenmaaß.
Das Wort scheinet in verschiedenen Bedeutungen genommen zu werden. Ueberhaupt drükt es das regelmäßige Abmessen der Sylben aus, in sofern es auf ihrer Länge und Kürze geht; wie wenn man sagte; die gebundene Rede unterscheide sich von der ungebundenen dadurch, daß in jener ein Sylbenmaaß beobachtet werde. Nach dieser Bedeutung wird es auch gebraucht, wenn man von einem Gedichte sagt, [1119] die Verse haben ein jambisches, oder trochäisches, oder ein nach einem andern herrschenden Fuß benenntes Sylbenmaaß. In diesem Sinne wird es ofte mit dem Worte Versart verwechselt, denn man sagt bisweilen auch eine jambische, trochäische u. d. gl. Versart. Man dähnet die Bedeutung bisweilen so weit aus, daß man die ganze metrische Beschaffenheit des Gedichts durch das Wort Sylbenmaaß ausdrükt. Diese Bedeutung hat es, wenn man vom elegischen, heroischen, dramatischen und lyrischen Sylbenmaaße spricht.
Wir schränken hier die Bedeutung blos auf die Beschaffenheit der Füße des Verses, ohne Rüksicht auf seine Länge und andre Eigenschaften ein, und schreiben allen Versen einerley Sylbenmaaß zu, wenn die Beschaffenheit ihrer Füße einerley ist, wie verschieden sie sonst in ihrer Länge seyen. Nach dieser Bedeutung sagen wir also die Alpen, die Satyren und die meisten Oden von Haller haben dasselbe Sylbenmaaß; in so fern nämlich die Füße der Verse durchgehends Jamben sind.
Das Sylbenmaaß nennen wir gleichartig, wenn der Vers aus gleichen Füßen, als Jamben, Trochäen u.s.f. besteht, ungleichartig, wenn mehrere Füße, als Spondäen, Daktylen u.a. in demselben Vers zusammenkommen. So viel sey von der Bedeutung des Worts gesagt.
Unsre deutsche Dichter voriger Zeit, das ist, die, welche vor dem vierzigsten Jahr dieses laufenden Jahrhunderts geschrieben haben, waren gewohnt meistentheils in gleichartigem Sylbenmaaß zu dichten, und zwar vornehmlich in dem jambischen und trochäischen, welchem sie aber bisweilen einen Spondäus mit einmischten. Zum lyrischen Gedichte wählten sie kürzere jambische oder trochäische; zum Erzählenden und Lehrenden aber längere, und blos jambische Verse. Die lyrischen Strophen aber sezten sie bisweilen aus Versen von verschiedenem Sylbenmaaße zusammen. Aber von Versen von ungleichartigem Sylbenmaaße wußten sie wenig, und glaubten vermuthlich, daß unsre Sprache sich dazu nicht schike.
Da sie in der lyrischen Art weit mehr Lieder, als Oden dichteten, so war es in der That auch schiklich bey gleichartigem Sylbenmaaße zu bleiben. Denn es scheinet, daß die durchaus gleichartige Empfindung, die zum Charakter des Liedes gehöret1 auch ein solches Sylbenmaaß erfodere. Nur in den Liedern von solchen Doppelstrophen, da immer der zweyte Theil der Strophe der Empfindung eine veränderte Wendung gäbe, könnt' es schiklich seyn, jeder Hälfte der Strophe ihr eigenes Sylbenmaaß zu geben. Doch wär dieses auch nicht allemal nöthig; weil bisweilen blos die veränderte Länge des Verses dazu hinlänglich seyn könnte.
Es ist schon anderswo erinnert worden2, wenn unsre Dichter angefangen haben ungleichartige Sylbenmaaße in dem Lyrischen und andern Versen zu versuchen. Es ist wahrscheinlich, daß die nähere Betrachtung der besondern Beschaffenheit der Ode diese Veränderung veranlasset habe. Man machte lyrische Verse, in denen mehrere Arten der Füße abwechselten, da in einem Vers bald ein Spondäus, bald ein Daktylus, bald ein Jambus oder Trochäus vorkam, und dieses ungleichartige Sylbenmaaß, wurd' auch in den zu einer Strophe gehörigen Versen abgeändert, da man vorher den Strophen nur durch die verschiedene Länge der Verse die Abänderung verschaft hatte. Nachdem die ersten Versuche von Pyra, Langen, Ramlern und einigen Verfassern der bremischen Beyträge Beyfall gefunden, wurden allmählig alle Arten des griechischen Sylbenmaaßes von unsern lyrischen Dichtern versucht. Aber Klopstok und Ramler sind darin am glüklichsten gewesen. Dem erstern haben wir auch den Hexameter zu danken. Dem Tonsezer machen zwar diese Sylbenmaaße sehr viel mehr zu schaffen, um seinem Gesang dazu alle rhythmische Vollkommenheit zu geben, als da er blos Lieder von gleichartigem Sylbenmaaße in Musik zu sezen hatte. Doch wissen sich gute Tonsezer auch aus diesen Schwierigkeiten herauszuziehen.
Das ungleichartige Sylbenmaaß hat seiner Natur nach mehr Mannigfaltigkeit, als das gleichartige; es gehört aber auch ein feineres und geübteres Ohr dazu, die Annehmlichkeiten desselben zu fühlen, als zu unsern alten gewöhnlichen Sylbenmaaßen. Darum würden wir immer noch rathen solche Gedichte, die auch für Unwissende, völlig ungeübte Leser bestimmt sind, nach unsern ehemaligen Sylbenmaaßen einzurichten. Herr Schlegel hat unsers Erachtens wol bewiesen, daß einerley Sylbenmaaß dennoch gar verschiedene Charakter des Tones, vom Sanften und Zärtlichen bis zum Starken und Fürchterlichen annehmen könne.3 Man muß sich darum auch nicht einbilden, daß das trochäische, oder jambische, oder ein anderes Sylbenmaaß[1120] sich mit Ausschluß anderer zu gewissen Charakteren allein schike.