Verzögerung. (Musik)
Es geschiehet bisweilen, daß in der Musik eine Stimme ihre Töne früher, oder späther angiebt, als der Gang des Gesanges, oder die Bewegung und Takt es erfoderten. In so fern dieses aus Ueberlegung geschieht, um den Ausdruk zu unterstüzen, wird es unter die Kunstgriffe gezählt, die unter den lateinischen Namen Retardatio und Anticipatio bekannt sind. Man kann sich beydes an folgenden Beyspiehlen vorstellen. Wenn zwey Stimmen auf folgende Art mit einander fortrüken:
so haben beyde einen gleichen Gang; in beyden Stimmen werden die zusammengehörigen Töne auf jeden Schritt zu gleicher Zeit angegeben: aber in folgenden Beyspiehlen
wird der Gang ungleich. In den zwey ersten Fällen bleibet die obere Stimme auf jeden Schritt um ein Achtel hinter der untern zurüke, und dieses wird [1236] Verzögerung, Retardatio genennt; in den beyden andern aber treten zwar im Niederschlag beyde Stimmen zugleich ein, in den folgenden Taktzeiten aber tritt die obere Stimme auf jeden Schritt früher, als die untere ein; dieses nennt man Voreilung, Anticipatio.
Es ist offenbar, daß das Verzögeren und Voreilen die Harmonie auf jeden Schritt verändert; es entstehen dadurch verschiedene Dissonanzen, die aber im Generalbaß insgemein nicht angedeutet werden. Nur bey ganz langsamer Bewegung, werden die daher entstehenden Dissonanzen als Vorhalte mit Ziffern bezeichnet, und müssen in dem begleitenden Basse würklich angeschlagen werden. Also müßte folgendes
in dieser Form
mit Anschlagung aller Quinten in der Begleitung gespiehlt werden. Denn obgleich hier auf den guten Taktzeiten Quinten auf Quinten kommen, so ist eine solche Fortschreitung doch gut, weil bey der 6 eine eigene gute consonirende Harmonie steht. Im Absteigen aber wäre dieses unrichtig, weil nach den Quinten keine consonirende Harmonie folget, wie dieses Beyspiehl zeiget:
In folgenden zwey Fällen ist die Voreilung der obern Stimme nicht zuläßig;
weil unvorbereitete Septimen und vorgehaltene Quinten ohne Vorbereitung auf einander folgen.
Die Sänger und Spiehler bringen ofte Verzögerungen oder Voreilungen an, die der Tonsezer nicht angezeiget hat, und gar ofte sind sie von sehr guter Würkung. Aber wer dieses thun will, muß eine hinlängliche Kenntnis der Harmonie haben, damit er nicht gegen die Regeln des reinen Sazes dabey anstoße. Ueberdem muß man auch darauf Acht haben, ob die andern begleitenden Stimmen solche Veränderungen in dem Fortschreiten zulassen. Wenn die Violinen, oder Flöten die Hauptstimme im Unisonus begleiten, kann diese weder verzögeren, noch voreilen, weil sie mit den andern Stimmen lauter Secunden machen würde.
Mit den schiklichen und den Ausdruk habenden Verzögerungen und Voreilungen muß man das so genannte Schleppen und Eilen, das aus würklichem Mangel des Gefühls der wahren Bewegung entsteht, nicht verwechseln; denn dieses sind wahre und schweere Fehler, die die ganze Harmonie eines Stüks verderben. Wer durchaus mit seiner Stimme jeden Ton um ein Achtel zu früh, oder zu späth angiebt, verursachet eine völlige Verwirrung in der Harmonie. Doch ist das Eilen, noch erträglicher, als das Schleppen; weil die eilende Stimme die andern bald mit sich fortreißet.
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