[166] Religionsgeschichte ist dem Worte nach eine glaubwürdige Erzählung von dem Ursprunge und den merkwürdigen Veränderungen, welche die Religionsbegriffe seit ihrer Einführung unter den Menschen bis auf eine gewisse bestimmte Zeit erfuhren, wie und wodurch sie verändert, zu einer Zeit verdeutlicht, zu einer andern verdunkelt wurden, wenn und wodurch ihr Eindruck merklich gestärkt und befordert, oder im Gegentheile geschwächt und verhindet wurde. Denn nicht immer waren sich die Religionsbegriffe unter den Menschen gleich; und sie haben mit jeder Kunst und Wissenschaft es gemein, daß ihre erste Gestalt in einem auffallenden Contraste mit der steht, die sie durch die Länge der Zeit und durch die mannigfaltigsten Bemühungen der verschiedensten Köpfe erhalten haben. Religionsgeschichte überhaupt stellt den Gang dar, den die Begriffe von Gott, Vorsehung, Tugend und Unsterblichkeit unter den Menschen genommen haben; sie entwickelt die Veranlassungen, durch welche sie in die menschliche Seele gebracht wurden, da sie nicht ursprünglich in ihr liegen, und ihr durch keine Wahrnehmung der Sinne zugeführt werden können; sie legt sodann die Ursachen dar, warum man hier und da von diesen ersten Begriffen abwich, bald dazu setzte, und bald davon nahm, und wie sie endlich die Gestalt und die Ausbildung erhalten haben, in der wir sie jetzt unter den Menschen treffen. Die allgemeine Religionsgeschichte kann bloß auf die allgemeinsten Schicksale der allgemeinsten Religionsgrundsätze Rücksicht nehmen, die allen verschiedenen Formen derselben gemein sind, und überläßt es der besondern Geschichte, einer jeden einzelnen von diesen die ihr eigenthümlichen Schicksale und die Veränderungen der ihr besonders angehörigen Lehren darzustellen. Man begreift also leicht, daß Religionsgeschichte in diesem Sinne von ungeheurem Umfange ist, und daß ihr [166] Geschäft sogleich mit der Erwähnung des ersten Menschen beginnt, von dessen Religionsbegriffen nur einige Nachricht aus der Vorwelt zu uns herüber gekommen ist. Sie ist dabei mit noch weit größern Schwierigkeiten verbunden, als die Geschichte der äußern Veränderungen unter den Menschen. Sie soll uns erzahlen, was in seinem Innern vorgegangen ist; sie soll uns die Bedürfnisse zeigen, die oft gar nicht sichtbar wurden, und die ihn doch zur Bildung und Ergreifung jener Begriffe und Bilder veranlaßten; sie soll uns den Eindruck sehen lassen, den die äußere Welt mit ihren Veränderungen im Geiste des Menschen hervorbrachte und welche es namentlich waren, die ihn mit seinen Gedanken aus sich und aus der Welt hinaus in eine übersinnliche Ordnung der Dinge trieben, und ihn bereden konnten, etwas zu glauben, wovon er sich mit seinen Kenntnissen und Geisteskräften keine anschauende Vorstellung erwerben konnte. Sie ist der wichtigste Theil von der Bildungsgeschichte der Menschheit, und erhält durch sie eben so viel Licht, als sie ihr dankbar wieder zurückgiebt. – So lange wir Menschen kennen, finden wir unter ihnen den Begriff eines obersten über alle Dinge erhabenen Wesens, von dem die Welt herkomme, und unter dessen Leitung sie stehe. Es ist schwer zu entscheiden, wie diese Idee zuerst in die menschliche Seele gekommen sein möge, zumahl, wenn man die Reinheit und Bestimmtheit derselben gleich bei ihren ersten Aeußerungen betrachtet, welche man, verglichen mit den selbst erbauten Religionssystemen neuerlich entdeckter Völker, tiefe Philosophie nennen könnte. Zugleich finden wir dieselben Menschen in andern Theilen des menschlichen Wissens, die ihnen weit näher lagen, so unwissend und unerfahren, daß wir in unsern Kinderjahren oft sehr gut in eine Reihe mit ihnen gestellt werden können. Indessen mag auch immer auf dem Entstehen der ersten Religionsbegriffe ein undurchdringlicher Schleier liegen, mögen sie schnell und früh hervorgebrochne Strahlen eines erst nach Jahrtausenden zur Tageshelle aufflammenden Lichtes im menschlichen Geiste gewesen, oder mag der Mensch mit ihnen, gleich einer unschätzbaren Ausstattung, unmittelbar von seinem Schöpfer in die Welt eingeführt worden sein (s. d. Art. Religion); so ist doch ihr Wachsthum und ihre Abnahme, ihre Verbreitung und Unterdrückung in der Folgezeit weit leichter [167] noch zu erweisen und mit viel größerer Gewißheit aus den eigentlichen Quellen herzuleiten. Die früheste Religion, der Glaube an einen Gott und an eine Macht, der alles unterthan sei – derselbe, den auch die angestrengteste Vernunftuntersuchung für den einzig richtigen erklärt – ging bald verloren, und fand nur noch in einer einzigen kleinen Familie treue Anhänger, während der übrige Theil der Welt sich Götter in Menge schuf, und die scheinbar ersten Ursachen der auffallendsten Naturveränderungen für eben so viel belebte, nach freier Willkühr und unabhängig von einander wirkende Wesen ansah, denen man in der Folge noch eine weit größere Menge unsichtbarer dienender Geister zugesellte. Dadurch geriethen die Menschen endlich dahin, selbst Thiere und unorganische Wesen für göttlich anzusehen, ihnen Tempel zu weihen und sie durch Opfer zu verehren. Ja es ging so weit, daß es endlich bei den Römern, gerade in der Periode ihrer höchsten Aufklärung in den übrigen Wissenschaften, zu einer Ehrenbezeigung ward, jemanden in die Liste der Götter einzutragen, ihm einen festlichen Tag und Opfer zu widmen, um gewisse Wohlthaten von ihm zu erbitten. – Schon Hesiodus, der dritte Schriftsteller nach Moses, gegen das Jahr 3000, kennt über 10,000 gute und böse Götter und Geister. Der Glaube an eine göttliche Weltregierung und an eine ewige Fortdauer des Menschen hatte sich freilich nach den Begriffen von Gott mannigfaltig abändern müssen. Alles, was geschah, zumahl auffallende Veränderungen in und außer dem Menschen, bewirkten die Götter unmittelbar; Jupiter und Jehovah sprachen im Donner, im Sturme erschütterte Neptun das Meer, der Würgengel oder der erbitterte Phöbus schoß giftige Pfeile unterdie Menschen wenn die Pest wüthete, jeden glücklichen unerwarteten Gedanken erregte Minerva und Gottes Geist in der Seele, jede kühne kriegerische That unterstützte Mars, jeden lieblichen Gesang flüsterten Apollo und die Musen dem Dichter zu, jedes nagende Gefühl der Reue war Schmerz vom Geißelhiebe der Furien u. s. w. Diese Götter sollten und mußten nun auch ein jeder nach seiner Art verehrt werden; jeder mußte seinen Tempel, seine besondern Opfer haben, wenn man ihm nicht vielleicht gar durch bacchantische Raserei und durch schändliche Befriedigung niederer Sinnlichkeit die beste Ehrenbezeugung erweisen konnte. Gehorsam gegen die Staatsgesetze, der [168] für bürgerlichen Strafen sicherte – gesetzt auch, daß man sich gegen ihre Strenge durch diese oder jene Unredlichkeit sicher stellte – und fleißiges Opfern in Tempeln und Hainen war die ganze Tugend des Götzendieners. Unsterblichkeit des Menschen war eine Fortsetzung seiner Existenz in einer Art von Schattenleben, dessen Beschaffenheit sich au die Art des vorhergehenden Lebens ankettete, und mit dem es als Belohnung oder Bestrafung zusammenhing. Jene war ein Zustand träger behaglicher Ruhe, welche aus der Freiheit von allen Anstrengungen und Schmerzen entstand, und ihre einzige Unterbrechung durch die freundschaftlichen Unterhaltungen erhielt, an denen es großen Geistern und edeln Seelen aus allen Zeiten und Ländern auf einen Ort versammelt unmöglich fehlen konnte. Die Strafen bestanden in der Erduldung gewisser körperlicher, für manche Vergehungen von den Höllenrichtern eigenthümlich erfundenen Schmerzen und Qualen, oder in den unaufhörlichen Beängstigungen der Furien. So ward durch Unbekanntschaft mit den Wirkungen der Natur, durch die Macht der Leidenschaften, die durch Aehnlichkeit mit den Göttern sich gern gebilligt und bestätigt zu sehen wünschten, durch die Beschaffenheit des Clima und der Beschäftigungen, und selbst durch übertriebene Dankbarkeit und Schmeichelei die Religion in ein unsinniges Gemisch von Fabeln verwandelt, das nothwendig des Einsichtsvollen verächtlichen Spott erregen, und des Einflusses auf Gesinnungen ganz ermangeln mußte, in welchem allein ihr hoher Werth besteht. Ohne ihre Schuld hatten die Dichter durch ihre Fictionen zu dieser Verwirrung sehr viel beigetragen, weil man das, was sie zur Ausschmückung ihrer Dichtungen von Götern und Helden, vom Tode und von Unsterblichkeit sangen, für tiefe Philosophie hielt – die man ja noch neuerlich aus Homer ausfinden zu können glaubte. Doch während dieser Verwirrungen der menschlichen Vernunft gab es immer hier und da aufgeklärtere Denker, welche sich bei ihren Behauptungen nicht vom Geiste ihres Volks und ihrer Zeit hinreißen ließen. So unbedeutend und mangelhaft auch das, was sie leisteten, an den Maßstab unsrer jetzigen Philosophie gehalten, immer erscheinen mag, so war es für ihre Zeiten und Kräfte dennoch groß und der dankbarsten Erinnerung der Nachwelt werth. Besonders reich an solchen in dieser Rucksicht großen Männern war die Jüdische Nation, die in Abraham,[169] Moses, David und Salomo sehr glückliche Verbreiter reinerer Begriffe von Gott hervorbrachte. – Unsterblich sind Moses Verdienste um sein Volk, das wahrlich zu seiner Zeit nicht dazu geeignet war, mitten unter Götzenanbetern den Glauben seiner Väter an einen Gott, der ganzen Welt Schöpfer, des Guten und Bösen weisen Regierer, dem einzig Freiheit von Schuld und Verbrechen den Menschen angenehm mache, festzuhalten. Und doch gelang es ihm, sich ihrer Sinnlichkeit für die Sache der Vernunft und der Religion zu bemächtigen, und sie durch Staats- und Tempelgesetze immer auf den Einen zurückzuführen, der ihr eigentlichster Herr sei. Hätten seine Nachfolger den Geist von ihm geerbt, der Jude würde nicht mehr im sclavischen Joche des Ceremoniendienstes den Gott zu verehren glauben, der seine Kinder zur Freiheit erschuf. Auch unter andern Völkern traten von Zeit zu Zeit Männer von ähnlichem Geiste auf, die es unternahmen, ihre Mitbürger aus der schimpflichen Knechtschaft des Aberglaubens zu befreien, Zoroaster in Persien, Contfutsee in China, die sieben so genannten Weisen Griechenlands, Pythagoras, Sokrates; und wir würden vielleicht auch in der Geschichte der übrigen Völker solcher Männer erwähnt finden, wenn wir von ihnen eben so genaue Nachrichten aus dem Alterthume hätten, wie von den Griechen und Juden. Indessen hat sich keiner von allen diesen großen Männern mit seiner Wirksamkeit über die Gränzen seines Vaterlandes verbreitet, und seine bessern Begriffe von Gott, Tugend, Vorsehung und Unsterblichkeit zum Glauben seines ganzen Volks, geschweige entlegner fremder Völker machen können. Nur Einem gelang dieß; und es gelang ihm ohne kriegerischen Zwang, ohne den weitläuftigen Apparat einer tiefsinnigen Speculation, und ohne den Reitz täuschender Schmeicheleien für die menschlichen Empfindungen – und eben dadurch hat er aber seiner Unternehmung das Gepräge der Göttlichkeit unverkennbar aufgedrückt. Es war Jesus, der sich diesen Ruhm erwarb, und zu dessen Grundsätzen sich die scharfsinnigsten Denker aller Jahrhunderte seit der Entstehung des Christenthums mit lauter Ueberzeugung bekannten. Sein eigenthümlicher Zweck war es, die einfachen unumstößlichen Grundwahrheiten der Mosaischen Religion von den verunstaltenden Hüllen zu entkleiden, welche daß Mißverständniß, der Aberglaube und der Egoismus der Jüdischen [170] Lehrer um sie geworfen hatte, und überhaupt das von ihr hinwegzunehmen, was nur für ein ungebildetes, nomadisches, am Aeußern hängendes Volk vor mehr als 1000 Jahren Bedürfniß gewesen war, jetzt aber alle seine Bedeutsamkeit und Kraft verloren hattte. Seine Schuler, deren Nachrichten von seinem Leben die einzige Quelle unserer Kenntnisse von ihm und seinen Belehrungen sind, waren nicht frei genug von den Vorurtheilen ihrer Zeit und ihres Volks, um uns seine Grundsätze mit der Reinheit wieder zu geben, mit der er sie ihnen vortrug; und noch mehr wurden sie unter den Händen der verschiedenen philosophischen Schulen verunstaltet, aus denen mehrere große Köpfe sich zu ihnen bekannten, sich aber doch nicht selbst genug verläugnen konnten, um die Producte ihres Scharfsinnes der bewundernswürdigen Einfalt der Lehre Jesu aufzuopfern. Selbst der äußere Glanz, den das Christenthum dadurch erhielt, daß es sich mit Constantin dem Großen auf den Römischen Thron schwang, beschleunigte seine Verunstaltung. Auf diese Art verwandelte sich die christliche Religion unter den Händen der spitzfindigen Speculation eben sowohl als der unverantwortlichsten Unwissenheit in ein sonderbares Gemisch der widersprechendsten Behauptungen; diese veranlaßten unter den Lehrern selbst die ärgerlichsten Streitigkeiten und die gehässigsten Verfolgungen: und so wurde in den finstern Zeiten des Mittelalters, mit geschäftiger Beihülfe des nun schon wirkenden Mönchsgeistes, das Christenthum ein eben so leeres Geschwätz, ein eben so bedeutungsloses Ceremonienwesen, das mit der Sittlichkeit seiner Bekenner eben so wenig zusammenhing, als nur immer die Jüdische und Heidnische Religion, die noch immer den größten Theil der Menschen unter ihre Anhänger zählten, obwohl die Juden längst aufgehört und umsonst mehrere neue Versuche gemacht hatten, ein eignes Volk zu bilden und ihre Religionsverfassung in ihrer alten Strenge beizubehalten. Eben während dieser Zeit, zu Anfange des 7. Jahrhunderts nach der Geburt, gerieth ein Araber von glühender Einbildungskraft, Muhamed, auf den nicht unglücklichen Einfall, durch eine Composition aus den drei bisher gangbaren Religionssystemen ein neues zu erschaffen, dessen Annahme alle Menschen zu einem Glauben vereinigen könnte, ohne sie zur völligen Wegwerfung ihrer bisherigen Hauptmeinungen zu nöthigen. Daher [171] haben die merkwürdigsten Leute jeder dieser drei Religionsformen in der seinigen eine wichtige Rolle zu spielen. So lange Muhamed nicht darauf ausgeht, seine göttliche Abgesandtschaft durch Wunder und Engelserscheinungen (beides war jedoch auf den Charakter seiner Zeitgenossen gut berechnet) zu bestätigen, so lange behauptete er in der Vernünftigkeit seiner Meinungen von Gott, in der Vortrefflichkeit seiner Sittenlehre und in der Erhabenheit der Darstellungen und Sprache einen ehrenvollen Rang unter den übrigen Religionsverbesserern des Alterthums. Aber er erniedrigte sich selbst wieder durch die Behauptung, man dürfe die bessern Grundsätze den Menschen auch gewaltsam aufnöthigen, und übte sie mit einem so unbegreiflichen Waffenglück aus, daß seine Lehre in kurzer Zeit einen großen Theil von Asien überschwemmte, aber auch eben so bald unter seinen Nachfolgern das Schicksal des Christenthums erfuhr. Indessen war doch durch beide der unvernünftige Götzendienst an den äußersten Rand von Europa und Asien verwiesen worden, und nur der Judaismus fand in der Mitte seiner Bekenner hier und da zerstreute Wohnsitze. Nicht so friedlich betrugen sich die Anhänger beider Hauptreligionen gegen einander, je mehr sich ihre Gränzen einander näherten. Die christliche, obwohl Beherrscherin des größten Theils von Europa, glaubte der jüngern, noch überdieß unechten, Schwester den Besitz ihrer geweihten Ursprungsländer nicht vergönnen zu dürfen (das behauptete wenigstens ihr nunmehriger Obervormund in Rom, der denn freilich aber auch seinen Vortheil unter den hauptsächlichsten Gründen dazu insgeheim aufzustellen nicht vergaß), und versuchte es durch wiederhohlte Anstrengungen ihrer kriegerischen Gläubigen, in fünf mächtigen Zügen zur Ehre des Kreuzes, sie aus demselben zu verdrängen. Aber nur die traurigste Zerrüttung im Innern von Europa, der Verlust von mehrern Millionen an Menschen und Geld, und der Besitz einiger Hospitäler in Jerusalem, so wie einer ungeheuern Menge von Reliquien waren die Folge dieser zweihundertjährigen kühnen Unternehmungen eines falsch verstandenen Eifers für Religion. Ueberhaupt ward sie nur in den Händen der Päpste das Mittel, den schreiendsten Ungerechtigkeiten einen Anschein von Nothwendigkeit zu geben, und die schändlichste Gewissenstyrannei durch Ohrenbeichte, Ablaß und [172] Inquisition zu begünstigen. Da führte ihr dann ihre Morgenländische Feindin durch das glückliche Eindringen ihrer Bekenner in die Abendländische Welt, zur Dankbarkeit für das ehedem vergoßne Blut, in den verjagten Gelehrten Griechenlands die Männer zu, deren bessere Kenntnisse und Einsichten wohlthätige Strahlen in die Finsterniß zu werfen anfingen, die undurchdringlich über unserm betrogenen Vaterlande lag. Der Fanatism konnte jetzt ihrem großen Schüler Reuchlin nicht mehr mit dem Feuertode drohen, den er kurz vorher über Huß und Hieronymus verhängt hatte. Ein unaufhaltsames Streben des menschlichen Geistes, der seine schimpflichen Fesseln fühlte, machte eine Entdeckung nach der andern; und schon war der schöne Morgen der Aufklärung über Deutschland angebrochen, als in seiner Mitte der große Luther in die Welt eintrat. Mit einem Muthe, den nur das Bewußtsein der gerechten Sache und das Selbstgefühl seiner Kräfte zu ihrer Vertheidigung giebt, wagte er es allein, der fürchterlichen Macht des Papstthums sich zu widersetzen, und seinen Händen Freiheit des Glaubens und der Meinungen unerschrocken zu entwinden. Aber nur der kleinere Theil von Europaʼs Bewohnern hatte Muth genug, ihm auf seiner Bahn zu folgen; der größere glaubte sich durch den prahlerischen Namen der katholischen Kirche für die Sclaverei des Geistes entschädigt in der sie sich erhalten ließen. Nur die freiheitliebende Schweiz erschrak nicht vor dem Namen der Protestanten, und bot ihm seinen Zwingli und Calvin zu Gefährten an. Schade nur, daß im Fortgange der großen Entdeckungsreise beide sich auf Nebenwegen und einander aus dem Gesichte verloren, und dadurch ihre dankbaren Anhänger veranlaßten, sich für Leute von ganz verschiedenem Glauben zu halten. Dessen ungeachtet aber gelang der erneuerte Versuch nicht, beide unter die Gewalt des Papstthums zurückzubringen, den die zurückgebliebene Hälfte Europaʼs machte. In Augsburg wurde der Grund zum schönen Tempel der Religionsfreiheit gelegt, in dem sich nun Deutschlands Söhne versammelten; und eine dreißigjährige fürchterliche Erschütterung desselben mußte nur noch mehr zu seiner Befestigung beitragen. Möchten nur aber unter Luthers Nachfolgern mehrere seinem Freunde und Gehülfen Melanchthon geglichen haben so wurde die Rückkehr zu der Ursprungseinfalt des Christenthums vor mehr als hundert [173] Jahren erfolgt, und nie dieselbe Tyrannei des Gewissens unter ihnen, nur unter einem andern Namen, ausgeübt worden sein, die man unter päpstlicher Hoheit so unerträglich fand. Speners so heftig verfolgter Pietismus war denn doch die glückliche Veranlassung, daß man wieder anfing, den eigentlichen Geist des Christenthums aufzufassen, und den echten Sinn desselben nicht mehr in unnützen Grübeleien und in unvernünftigen Glauben an selbst erfundne und uns mit seinem Namen gestempelte Geheimnisse zu suchen. Die Freiheit des Glaubens und der Meinungen unserer Tage sagt es laut, daß das Jahrhundert, welches seit ihm verflossen ist, seine Winke benutzt, und mit eben so viel Einsicht als Glück seine Bemühungen zur Vertilgung des Aberglaubens und der Menschensatzungen fortgesetzt habe. Auf diesem Wege haben sich denn auch unvermerkt die beiden protestantischen Parteien einander wieder so genähert, daß nur der Name sie noch trennt; und selbst der Katholicism fängt hier und da an, die Aufklärungen der ehedem gehaßten Gegnerin dankbar zu benutzen. Immer sanfter wird das Joch der väterlichen Satzungen, das auf den Juden bisher lag; und die Bemuhungen der Bessern unter ihnen, sich ganz davon zu befreien, werden endlich gewiß um so besser gelingen, je schonender und überlegender sie dabei zu Werke gehen. Möchte die Vorsehung doch bald dieser Freiheit einen Weg zu den am Körper und Geist so grausam despotisirten Orientalern öffnen, die noch immer auf derselben Stelle der Bildung stehen, auf der sie ihr kriegerischer Religionsstifter verließ; und möchte sie ihre noch unmündigen Kinder im Südmeere von ihren unverständigen uund furchtsamen Religionständeleien durch einen Unterricht befreien lassen, der sie, ohne Europaʼs weitläuftige mit Blut bezeichnete Umwege, zum Lichte der Vernunft und zur frohen Sicherheit des Glaubens hinüber führe. Kein Mensch würde dann in unsern Tagen noch einen Versuch machen oder es wünschen, die Religion aus dem Herzen und Leben des Menschen zu verbannen; ein Glaube würde dann die ganze große Menschenfamilie zu Liebe und Eintracht verbinden: und dann, aber auch nur dann würde die Religion ihre Bestimmung für die Welt erreichen.
[174] Schon der hier gelieferte Ueberblick der Religionsgeschichte, der freilich etwas gedrängt sein mußte, zeigt, wie es scheint, deutlich, wie wichtig die Kenntniß derselben für die Beurtheilung der Religion, für die Beurtheilung ihres Ursprungs, ihrer Fortpflanzung, ihres innern Werths und ihrer Einwirkung auf das Menschengeschlecht sei. Wichtiger in allen diesen Rücksichten ist für jeden wenigstens einige Kenntniß von der Geschichte seiner Religionspartei. Ist er ein Christ, so kann er nur auf diesem Wege erfahren, was in seinem Glaubensbekenntnisse wahre Lehre der Vernunft und Jesu, und was durch Streitigkeiten, durch Aberglauben, durch Politik, durch List der Päpste vor und nach Luthern dazu gesetzt worden ist. Und nur dann kann er sagen, er sei ein vernünftiger Anhänger seines Glaubens, wenn er diese Sonderung vorgenommen, und von dem, was er dann noch beibehält, sich durch selbstgedachte überlegte Gründe überzeugt hat. Die Geschichte der Religion offen dargelegt, ist das beste Mittel gegen alles absprechende urtheilen, gegen Intoleranz und Fanatismus – die Geschichte ist auch hier Lehrerin der Weisheit.
Buchempfehlung
Robert ist krank und hält seinen gesunden Bruder für wahnsinnig. Die tragische Geschichte um Geisteskrankheit und Tod entstand 1917 unter dem Titel »Wahn« und trägt autobiografische Züge, die das schwierige Verhältnis Schnitzlers zu seinem Bruder Julius reflektieren. »Einer von uns beiden mußte ins Dunkel.«
74 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
428 Seiten, 16.80 Euro