Die Sibyllinischen Bücher

[257] Die Sibyllinischen Bücher standen bei den Römern in großem Ansehen, und wurden von ihnen nur in äußersten Fällen der Noth zu Rathe gezogen. Man glaubte, daß weißagende Jungfrauen, Sibyllen, im höchsten Alterthume diese Orakel aufgesetzt hätten. Die Zahl dieser Sibyllen wird sehr verschieden angegeben, und man hat sie bis auf zehn erhöht. Die Cumanische brachte dem Römischen Könige Tarquinius superbus neun Bücher, für welche sie eine sehr hohe Summe forderte. Der König verlachte sie über diese Forderung, und sie – verbrannte drei davon. Jetzt fragte sie ihn, ob er die sechs übrigen für denselben Preis kaufen wollte, und da er dieß eben so lächerlich fand, verbrannte sie abermahls drei davon, und forderte für die letzten drei wieder denselben Preis. Jetzt ward der König doch bedenklich, zahlte ihr das Geld, und ließ nun jene drei Bücher – eben die Eingangs erwähnten – heilig aufheben, bestellte auch Zween-, ja nachher die Zehen-Männer, welche sie verwahren mußten, [257] und nur bei den bedenklichsten Fällen wurden sie befragt. Als zu Syllaʼs Zeilen bei Einäscherung des Capitols auch diese Bücher verloren gingen, so schickte man Abgesandte nach Griechenland und Asien, um die Orakel dieser Prophetinnen wieder zusammen zu lesen: sie brachten auch auf 1000 solcher Verse zusammen, welche in das neue Capitol gelegt, und die Funfzehn-Männer zur Aufsicht darüber bestellt wurden. Als man unter Augusts Regierung eine große Menge solcher prophetischer Verse verbrannte, behielt man doch einen Theil jener Sibyllinischen bei, schloß ihn in zwei goldne Büchsen, und verwahrte ihn im Tempel des Apollo. – Man hat noch jetzt Sibyllinische Aussprüche in Griechischen Versen, die im zweiten und dritten Jahrhundert nach Chr. Geb. gesammelt worden sind, und von der Entstehung der Welt, vom Fall Adams, vom jüngsten Gericht und vom Antichrist handeln. Dieses Machwerk ist aus heidnischen Schriftstellern und der Bibel zusammengetragen; wahrscheinlich wollte man damit die Heiden für das Christenthum gewinnen: es herrscht darin ein prophetischer Ton, welcher in einigen Stellen glücklich angebracht ist, in andern aber seine Wirkung ganz verfehlt. Späterhin sind noch mehrere Zusätze hinzu gekommen; so daß man jetzt nicht wissen kann, was älterer oder neuerer Erfindung sei.

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Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 5. Amsterdam 1809, S. 257-258.
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