Arm, Armuth

[296] Arm, Armuth, heißt derjenige, welcher nicht im Stande ist, seine nothwendigsten Lebensbedürfnisse sich selbst zu verschaffen und folglich zu ihrer Deckung der Mildthätigkeit anderer, wohlhabender Menschen bedarf. Die Armuth ist entweder eine unverschuldete oder eine verschuldete. Ihre Ursachen sind: ungleiche Erwerbsfähigkeit, Uebervölkerung, Elementarunglücksfälle, Mangel an Beschäftigung und des Triebes zu derselben, Trägheit, Stumpfheit, physische Unfähigkeit, Blödsinn, verfehlte Plane, widerwärtige Conjunkturen, Krieg etc. Der milde Sinn des gebildeten Menschen sieht in jedem Armen einen Unglücklichen und daher der innere Drang in der Menschenbrust, der zur Hilfe, Pflege, Unterstützung der Armen[296] und Verarmten antreibt. Diese Liebe zu den Armen ist der Beweis unserer edlern, göttlichen Natur; es liegt etwas Erhebendes in ihr, der Glaube an ein vergeltendes Jenseits, die urgewaltige Sympathie für die ganze Menschheit. Der uncultivirte, fanatische Muhamedaner selbst ehrt das Unglück der Armen und versorgt sie. Sie sind Kinder des Unglücks und die Unglücklichen Gottes liebste Kinder, wie die Kranken und Schwächlichen dem Mutterherzen die Theuersten. Wie in Allem, so auch hier ist uns Christus ein leuchtendes Vorbild und wie die Grundbasis seiner Lehre die allgemeinste und vollendetste Liebe, so auch ihre Folge die Wohlthätigkeit. Der Erlöser befiehlt uns, die Armen zu speisen, zu tranken, zu bekleiden und zu beherbergen. Er sagt: Was ihr Einem von ihnen thut, das habt ihr mir gethan! – In wessen Busen aber lebt das Gefühl des Wohlthuns lebendiger, inniger, uneingeschränkter, als in dem der edlen, milden Frauen, die eben so gern die Thräne des Mitgefühls spenden, wie sie die fremde trocknen. Der Genius der leidenden Menschheit hat vorzugsweise ihnen dieses heilige, zarte, tröstende Amt übertragen. Der Mann muß schaffen, erwerben, erringen; er hat nicht Zeit und Ruhe zu dringen in die Höhlen des Jammers, zu blicken in die Gemächer des Elends und der Verzweiflung. Hier erscheint das Weib als milder leuchtender Stern, Licht und Segen bringend. Wie es die Aufgabe des Staates war, das Armenwesen zu reguliren, den Armen durch Sammlungen, Arbeitshäuser, Abgaben, Kassen etc. Arbeit und Unterhalt zu geben, wie es öffentliche und Privatvereine bei wachsender Armuth übernahmen, dem Elend aller Farben Linderung zu verschaffen: so haben auch die Frauen fast alle Orte Vereine gebildet, um durch verbundene Kräfte diesen schönsten Tribut der Menschlichkeit zu zollen. Aus diesen Vereinen gingen theils Beitrage für öffentliche Anstalten: Armenhäuser, Gebärhauser, Lazarethe, Spitäler etc. hervor, theils war es ihre Ausgabe, den Privatarmen, oder den verschämten, deren Bescheidenheit sie[297] von öffentlicher Hilfeflehung zurückhält, durch Geschenke, durch den Ertrag von Collecten, weiblichen Arbeiten, Kunstdarstellungen etc. Unterstützung zuzuwenden. So entstanden im Winter die Suppenanstalten, die Austheilungen von Holz, Lebensmittteln, warmen Kleidungsstücken etc. Manche edle Fürstin leuchtete auch darin den Edlen ihres Geschlechtes voran und wir erwähnen, um nicht der Bescheidenheit Lebender zu nahe zu treten, der heiligen Elisabeth (s. d.), Landgräfin von Thüringen, welche in die niederen Hütten der Armuth ging, dort Labung, Hilfe, Trost und Segen spendend. Die barmherzigen Schwestern haben den schweren, doch göttlich lohnenden Beruf gewählt, mit Verzichtleistung auf alle Freuden der Welt, bloß der Pflege armer Kranken zu leben. Durch solche Privatanstrengungen, wie durch die Maßregeln in wohlgeordneten Staaten sind auf diese Art Armenkassen, Armenhäuser, Arbeitshäuser, Armenschulen, Armenpflegen, Armenärzte, Waisenhäuser, Armenspitäler, Armenleihhäuser, Sparkassen etc. entstanden. Das Menschenherz erbebt bei jedem Seufzer eines anderen Herzens, die Thräne ist stets bereitwillig sich zur fremden Thräne zu gesellen! – In Holland und Dänemark gibt es eigene Armenkolonie (Frederiksoort – Frederiksgabe) woselbst Armen Wohnungen ertheilt und Ackerländer zur Bebauung angewiesen sind und wo sie bei Fleiß und Thätigkeit ein nützliches und von Mangel entferntes Leben führen. – Im alten Rom durfte man einen Armen, der eine Schuld in gewisser Frist nicht bezahlen konnte, als Sklaven verkaufen. Später zur Zeit der Republik und des Kaiserthumes wurde dieses barbarische Gesetz aufgehoben und man verlieh ihnen Ländereien etc. von Staatswegen. England, wo jeder 5. Mensch ein Armer ist, erschwingt den Unterhalt derselben durch eine allgemeine Abgabe, die Armentaxe, welche jetzt alljährlich die Summe von 72 Millionen Thaler beträgt. Doch lastet diese auf manchem der weniger[298] Bemittelten sehr schwer und es ist oft der Fall, daß der Almosenempfänger sich besser befindet, als der Almosenpflichtige.

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Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 1. Leipzig 1834, S. 296-299.
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