Jocrisse

[431] Jocrisse, eine der lustigen Figuren oder Nationalspaßmacher, die den Pariser Pöbel durch ziemlich derbe Possen auf offener Straße ergötzen. Ein würdiges Seitenstück zum Polichinell der Marionettenbuden, dem Gilles der Wunderdoctoren und dem Bajazzo oder Paillasse der Seiltänzer, begleitet er meist in derselben Eigenschaft, das heißt, als tölpelhafter Bedienter, irgend einen Tausendkünstler und Taschenspieler, an dessen oftgeschauten Zaubereien die Menge vielleicht kalt vorüberginge, wenn nicht die uralte, stets auf's Neue belachte Geschichte und die burleske Mimik des vorher debutirenden Jocrisse sie fesselte. Schon das Aeußere dieses lieben Bekannten aus der unsterblichen Familie der Hanswürste reizt den Pariser zum Lachen; denn Jocrisse, der ächte, nationale Possenreißer ist jederzeit ein Dummerian aus der Provinz, trägt eine große zerzauste Perücke von Werg, den antiken Zopf gen Himmel gerichtet und darüber den spießbürgerlichen, dreieckigen Hut. Seine langen, magern Arme gestikuliren aus den besonders kurzen Aermeln des abgeschabten Röckleins hervor, dazu präsentirt er sich mit krummen Knien, spricht übernaiv einfältig und beweist durch äußerst linkische Geberden, die nie verfehlen, der Zuschauer Heiterkeit zu erregen, daß er ein liebenswürdiger Pinsel ist. Die stets gleiche Geschichte seines Lebenslaufs, die schon Boileau's Zeitgenossen auf dem pont neuf ergötzte, beschreibt noch immer, wie er als unwissender Ankömmling vom Lande in Paris geprellt wurde, und die jedesmaligen Lazzis und bon mots zur Ausschmückung der[431] überstandenen Leiden, die jedoch drolliger Natur sein müssen, bleiben dem Genie dessen, der den Jocrisse vorstellt, überlassen. Das Ende dieser commedia dell' arte unter freiem Himmel ist die Bemerkung, daß er nunmehro in die Dienste eines großen Künstlers getreten sei, dem er dabei dieß und das nachsagt, bis der Herr auf diese Stichworte herbeieilt und seinen unverschämten Bedienten mit Schlägen und schallenden Ohrfeigen (ein Jubel für die gamins) begrüßt, weil er sich dergleichen unterstanden. Jocrisse schlägt ihm im Retiriren die schönsten Schnippchen, um sich zu rächen, und nachdem er genugsam geschlagen und gescholten worden, bringt er seinem Peiniger, der nunmehr die Aufmerksamkeit der Umstehenden zu fesseln wünscht, einen alten Hut, den dieser wie Teig behandelt und der unter seinen geübten Händen bald die Form einer Mönchskapuze, eines Pilgerkragens, des vollen und abnehmenden Mondes, der Krause Heinrich's IV., bald der Kopfbedeckung der hübschen Cauchoisen, der Lastträger von Marseille, des calabresischen Banditen und der Hüte der forts de la Halle annimmt. Hierauf folgt das Kugelspiel, der Vexirbeutel, sac à la malice und hundert andere Hexereien, zu denen Jocrisse nicht ermangelt, seine bewundernden Grimmassen zu fügen und zuletzt eine kleine Abgabe von den Börsen der Messieurs et Mesdames, die ihn umringen, einfordert.

F.

Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 5. [o.O.] 1835, S. 431-432.
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