Masse

[641] Masse. Unter diesem Artikel mögen nach J. Grimms Rechtsaltertümern von den dort beschriebenen, im deutschen Rechtsleben des Mittelalters vorkommenden Massbestimmungen volkstümlicher Art die verbreitetsten zusammengestellt werden. »Ihr Grundcharakter«, sagt Grimm, »ist Auffassung des Rechtlichen durch das Sinnliche; Weisung dessen, was festgesetzt werden soll, durch etwas Unfestes, dem Zufall nie ganz zu Entziehendes. Meistens tritt eine Handlung und Gebärde des Beteiligten, oft bedingt von der einfachsten Verwicklung, mit ins Spiel; zuweilen wird eine andere Einwirkung der lebendigen oder unbelebten Natur beachtet. Es sind lauter Masse für die Grösse, Höhe, Weite, Ferne, Dicke und einige andere solcher Verhältnisse«.

1. Wurf oder Schuss, geschieht mit Hammer, Beil, Speer, Stab, Pfeil, Sichel, Pflugeisen, Löffel, Kugel, Pfund, Stein, Erde, und zwar mit Abmarken der äussersten Grenze. Der Gebrauch des Wurfes war bei allen Germanen verbreitet und deutet in seiner Entstehung auf eine den niedergeschriebenen Gesetzen vorhergehende Zeit. Ausser dem Wurf überhaupt ist in den alten Rechtsquellen zugleich Stellung und Gebärde der Füsse und Hände des Werfenden angegeben, welches, wie es scheint, dieses Geschäft erschweren und den Erfolg nicht ganz von seinem Willen abhängig machen soll. So soll z.B. der Gegenstand über Rücken und Achsel geworfen werden, oder die rechte Hand hat den Wurf unter dem linken Beine zu thun. Dabei ist häufig eine unsichere, schwierige Stellung auf der Höhe geboten, auf der Mauer, dem Zaune, dem Thore des Zaunes, der Thürschwelle und dergleichen. Bei der rechtlichen Ermittelung der Herrschaft über einen breiten Strom reitet der Herr, vollständig und schwer gewaffnet, auf einem starken Hengst in die Flut, soweit er gelangen kann, worauf er erst von dieser Stelle aus den Wurf vornimmt. Überall handelt es sich hier nicht um den ersten Erwerb an Grund und Boden, sondern um die Abgrenzung von bestehendem Eigentum oder Besitztum und um die Befugnis gegen die Nachbarschaft und Mark. Der Bienenbauer wirft sein Beil oder seinen Löffel zur Erneuerung seines Zaunes; Fischer und Müller erwerfen die Grenzen ihres Fischfangs und Mühlenreches.

2. Berührung mit Hammer, Speer, Lanze, Axt, Beil, Barte, Messer, Rute, Stock und Pfahl kommt nicht so häufig vor wie der Wurf, hatt aber dieselben Zwecke wie dieser, nämlich Abmarken der äussersten Grenze, Behauen überhängiger Äste, sei es auf öffentlichem Wege oder auf Privatgrundstück; der vornen über den Sattel vorgelegte Spiess ordnet z.B. die Breite des Weges; die Landgrafschaft Sissgau geht[641] rheinaufwärts soweit, als einer auf einem Ross in den Rhein reiten und mit einem Basler Speer in den Rhein reichen mag.

3. Mit dem Schein oder Schimmer fernleuchtender Gegenstände wird die Weite eines Raumes gemessen, wenn es z.B. heisst: es soll ein Recht soweit gehen, als man einen roten Schild, ein weisses Pferd, den Gerichtsbalken, den Thürriegel bei Tag sehen kann.

4. Der Schall, vermittelst dessen gemessen wird, ist entweder Kinderschrei, insofern die Lebens- und Erbfähigkeit eines Kindes danach gemessen wird, dass »es die vier Wände des Hauses beschreiet«, oder Schall des Horns, Glockenklang, Tiergeschrei, z.B. des Hahnes, Geldesklang und Knochenklang, wobei Geld und Knochen über den neun oder zwölf Fuss weiten Raum, meist die Strasse, im Schild, später im Becken erschallen mussten.

5. Nach dem Sitzraum wird das Mass eines Raumes bestimmt, je nachdem eine Biene, eine Gans, ein Tisch, eine Wiege mit einem Kinde, ein dreibeiniger Stuhl, eine Badewanne darauf Platz findet.

6. Bergung von Tieren ist eine Massbestimmung für Bäume und Äste, wobei es darauf ankommt, ob ein Schwein, ein oder mehrere Ochsen, ein Rabe und dergleichen darunter sich bergen können.

7. Federflug. Wer unschlüssig war, wohinaus er gehen sollte, blies eine Feder in die Luft und folgte ihrer Richtung; man fragte deshalb den Ausziehenden: wohinaus bläst du deine Feder? Die Stadt Lindau hatte soweit Recht über den Bodensee, als der runs eine feder in den see treibet.

8. Lauf. Zeit und Raum werden nach der Bewegung in ihnen gemessen: so lange Zeit, dass man eine Meile Weges gegangen; so weiter Weg, als man in einer Stunde gelaufen wäre. Wo zwei Läufer, von entgegengesetzten Punkten zu derselben Zeit anhebend, zusammenstossen, da wird die streitige Grenze gesteckt; dies ist der Fall in der Sage vom Glarner und Urner Läufer.

9. Land umgehen, umpflügen, wodurch Land erworben wird; das Alter dieser Erwerbsart erhellt daraus, dass ihrer nicht mehr in Gesetzen, sondern bloss in Sagen Erwähnung geschieht; so erzählt die elsässische Chronik Königshofens: König Dagobert habe dem heiligen Florentius so viel Land geschenkt, als er mit seinem Eselein umfahren könnte, bis der König gebadet und sich die Kleider angezogen hätte. Heinrich der Welf liess sich von Ludwig dem Frommen soviel Landes verleihen, als er, solange der König zu Mittag schliefe, mit einem goldenen Pfluge umackern oder mit einem goldenen Wagen umziehen könnte.

10. Land bedecken und umreiten ist ebenfalls eine bloss in der Sage erhaltene Massbestimmung, nach welcher soviel Land erworben werden soll, als ein gewisses Mass von Erde oder Samen auf dem Felde bedecken oder die Haut eines Tieres belegen könne. So soll Ludwig der Springer den Berg, wo jetzt die Wartburg liegt, von den Herrn von Frankenstein durch folgende List gewonnen haben: Aus seinem Grund und Boden liess er nachts Körbe voll Erde auf jenen Berg tragen und ihn ganz damit beschütten. Hernach fing er an da zu bauen. Die Herren von Frankenstein klagten vor dem Reich; Ludwig behauptete, dass er auf dem Seinen baute; es ward zu Recht erkannt, wenn er das mit zwölf ehrbaren Leuten erweisen könnte, hätte er es zu geniessen. Ludwig nahm zwölf Ritter, trat mit ihnen auf den Berg, sie zogen die Schwerter aus, steckten sie in die Erde und schwuren, dass der Graf auf das Seine gebaut habe. – In der Sage von der Melusine[642] erbittet sich Raimund von Bertram, Grafen zu Poitiers, soviel Land, Feld und Erdreich an Äckern und Wiesen, als er in eine Hirschhaut umschliessen oder umfahen könne. Sobald die Urkunde hierüber ausgefertigt ist, kauft Raimund eine schöngegerbte Hirschhaut und lässt daraus einen sehr langen und dünnen Riemen schneiden, womit er ein grosses Thal umzieht.

11. Ein Joch Ochsen sind das Mass für die Höhe von Busch und Gesträuch auf einem Acker; wenn das letztere nämlich so hoch geworden ist, dass sich zwei Ochsen darin verbergen können, oder dass zwei Ochsen es nicht niederdrücken können, so fällt der Acker der gemeinen Mark anheim.

12. Durchschlüpfende Tiere. Es wird ein mit Holz beladener Wagen daran gemessen, dass sieben Hunde einen Hasen hindurch jagen mögen oder dass eine Atzel (Elster) mit aufgereckten Ohren hindurchfliegen kann.

13. Mannes Kraft enthält besonders insofern eine Massbestimmung, als die Fähigkeit freien Handelns danach gemessen wird, ob er vermöge zu gehen und zu reiten oder frei zu stehen, ungehabt und ungestabt, d.h. ohne dass man ihn halte, unterstütze, und ohne dass er sich eines Stabes bediene; oder bestimmter, ob er in seinem Kürass von der Erden auf ein hengstmässiges Pferd sitzen kann.

14. Die Stärke der Hühner wird danach gemessen, ob sie auf einen dreibeinigen Stuhl oder auf eine Tonne fliegen können.

15. Schnelle Handlung wird nach folgenden Bestimmungen gemessen: es soll einer eine unaufschiebliche Handlung verrichten, bevor er sein Messer unabgewischt in die Scheide gesteckt hat; wenn er den einen Schuh, die eine Hose ausgethan hätte, soll er den andern Schuh u.s.w. nicht austhun, sondern wieder anziehen und die Sache verrichten.

16. Berechnung nach Gliedern des Leibes, je nach Länge, Höhe, Ausspannung kommt oft vor: soviel man in der Hand mag halten, soviel Finger man auf eine Wunde setzen kann; Brot oder Käse, so gross, dass man, den Daumen in der Mitte haltend, mit gestreckten Fingern einen Umkreis machen kann; eine Garbe muss so gross sein, als ein vollkommener Mann unter dem Arm zwischen der Hüfte beklemmen kann, den Pferden soll man Futter geben bis über die Naslöcher und Stroh bis an den Bauch.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 641-643.
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