Sachsenspiegel

[891] Sachsenspiegel ist der erste Versuch, das gesamte deutsche Recht wissenschaftlich darzustellen; die alten Volksrechte waren in Vergessenheit geraten; die Reichsgesetzgebung war spärlich und beschäftigte sich meist bloss mit dem Strafrecht und der Aufrichtung von Landfrieden; die übrigen Rechtsquellen waren lokaler Art, Stadt-, Dorf-, Hof- und Dienstrechte; erst im Anfang des 13. Jahrhunderts unternahmen es Privatleute, die allgemeinen Rechtsgrundsätze in grösseren Arbeiten zusammenzustellen, wobei sie nicht bloss das Bedürfnis der Schöffen im Auge hatten, sondern zugleich versuchten, das gesamte Recht darzustellen, Privatrecht, Strafrecht und Gerichtswesen, Staatsrecht und Recht der Kirche, soweit es von praktischem Interesse sein konnte. Das wichtigste dieser Rechtsbücher ist der in niederdeutscher Sprache verfasste Sachsenspiegel. Derselbe ist von Eike von Repgowe verfasst, einem Manne aus ritterbürtigem Geschlecht, das sich nach dem zwischen Dessau und Köthen liegenden Dorfe Reppichau nannte, er wird in den Jahren 1209–1233 als Schöffe in der Grafschaft Billingshöhe in der Nähe des Harzes aufgeführt. Er schrieb sein Rechtsbuch wahrscheinlich zwischen 1226 und 1238 zuerst in lateinischer Sprache und übersetzte dasselbe erst auf Veranlassung des [891] Grafen Hoier von Falkenstein ins Sächsische. Spiegel nannte er es nach der litterarischen Mode seiner Zeit, da das Recht seines Volkes gewissermassen in einem Spiegel zur Anschauung gebracht werden sollte. Das Buch zerfällt in das Sächsische Landrecht und das Sächsische Lehnrecht. Landrecht ist hier das Recht, wie es in den Landgerichten, welchen die Freien unterworfen sind, gehandhabt wird; nur dem Recht des freien Ritters und des freien Bauern ist also das Buch gewidmet; die Städte werden nur gelegentlich erwähnt und das Hof- und Dienstrecht ausdrücklich ausgeschlossen. Geschriebene Quellen sind im Landrecht sehr wenige benützt, vom römischen Recht fast keine Spuren. Einzelne Bestimmungen haben einen sehr altertümlichen Charakter, der dem 12. Jahrhundert oder noch früherer Zeit angehört; so entspricht die Schilderung der ständischen Verhältnisse wenig dem im 13. Jahrhundert schon allgemein herrschenden Lehnwesen: die fünf sächsischen Königspfalzen entsprechen wohl dem 11. aber nicht dem 13. Jahrhundert, so dass es scheint, der Verfasser habe sich bisweilen an altherkömmliche Traditionen gehalten, deren Praktische Bedeutung längst abhanden gekommen war. Ursprünglich war das Landrecht bloss in einzelne Artikel eingeteilt, erst von späteren Abschreibern stammt die Gliederung in drei Bücher, wozu dann als viertes das Lehnrecht kommt. Die Zahl der Handschriften ist eine sehr grosse.

Als dem sächsischen Landrecht eigentümliche Auffassungen hebt Stobbe, I, S. 301, folgende heraus: »Vor Gott, welcher den Menschen nach seinem Bilde schuf, sind alle Menschen gleich und in der Zeit, als die Sachsen das Land eroberten, gab es keine Knechte, sondern alle waren frei; überhaupt gibt es keinen Grund, warum einer der Gewalt des andern unterworfen sein soll. Der Mensch, Gottes Bild, soll nur Gott angehören, und wer ihn einem andern unterwerfen will, der handelt wider Gott. In Wahrheit hat die Knechtschaft ihren Ursprung in Zwang, Gefangenschaft und unrechter Gewalt, und was zuerst durch Unrecht seinen Anfang nahm, sucht man jetzt wegen der langen Gewohnheit als Recht zu behaupten. Als Gott den Menschen schuf, gab er ihm Gewalt über Fische, Vögel und wilde Tiere, daher kann niemand seinen Leib an diesen Dingen verwirken, aber der König gibt den wilden Tieren an bestimmten Orten durch seinen Bann Frieden. Die Welt wird durch zwei Gewalten regiert, die weltliche und die geistliche: von den zwei Schwertern, welche Christus auf der Erde zurückliess, um die Christenheit zu beschirmen, gehört dem Papst das geistliche und dem Kaiser das weltliche. Der Papst reitet zu gewissen Zeiten auf einem Schimmel und der Kaiser soll ihm den Steigbügel halten, damit sich der Sattel nicht verschiebe. Das ist ein Zeichen dafür, dass wenn sich ein Widerstand gegen den Papst erhebt, und er ihn mit dem geistlichen Recht nicht zu heben vermag, der Kaiser mit seinem weltlichen Recht ihm den Gehorsam erzwinge. Und ebenso soll auch die geistliche Gewalt der weltlichen helfen. Beide Gewalten sollen also in Eintracht neben einander bestehen, jede hat ihren eigenen Kreis und keine ist der andern übergeordnet. Daher darf der Papst mit seinen Geboten nicht das weltliche Recht umändern und kann den Bann gegen den Kaiser nur aussprechen, wenn er an dem rechten Glauben zweifelt, sein eheliches Weib verlässt oder Gotteshäuser zerstört. Der König ist der gemeine Richter überall und richtet auch über Leib und Leben der Fürsten; aber er ist nicht Herr alles Rechts,[892] sondern selbst dem Gesetz unterworfen und verantwortlich; er muss vor dem Pfalzgrafen zu Recht stehen und kann seinen Leib verwirken, nachdem ihm das Reich durch Urteil aberkannt ist. Da er nicht überall in seinem Reich sein und nicht jedes Urteil richten kann, so setzt er Grafen und Schultheissen ein, welche von ihm ihre Gewalt haben.«

Der Sachsenspiegel erlangte schnell eine weitausgedehnte Verbreitung, namentlich in den nördlichen Gegenden Deutschlands; er galt nicht bloss als Rechtsbuch, sondern bei den Gerichten sogar als Gesetzbuch; wozu unter andern die allmählich entstandene Ansicht beitrug, dass der Sachsenspiegel auf einem Privileg Karls des Grossen und auf andern Kaisergesetzen beruhe. Auch bei andern Volksstämmen hat der Spiegel Verbreitung gefunden und ist die Quelle einer grossen Zahl von Rechtsbüchern geworden, die mittelbar oder unmittelbar von ihm abstammen. Dazu gehören der Deutschenspiegel und der Schwabenspiegel für ganz Süddeutschland; dann das Magdeburgische Weichbildrecht, das sich über ganz Sachsen ausbreitete, der sogenannte vermehrte Sachsenspiegel oder das Rechtsbuch nach Distinktionen, das in Thüringen entstand, der Riehtsteig Landrechts, ein Märkisches Lehrbuch des Prozesses, und der Richtsteig Lehnrechts. Für Breslau und Polen wurde der Sachsenspiegel ins Lateinische, für Polen auch ins Polnische übersetzt, für das Herzogtum Breslau als Landrecht publiziert, für Görlitz und Holland besonders bearbeitet. Endlich entnahmen eine grosse Anzahl Stadtrechte einzelne Sätze und ganze grössere Partien dem Sachsenspiegel, z.B. diejenigen von Hamburg, Lübeck, Stade, Bremen, Berlin, Gosslar; andere Städte und Gerichte, wie Krakau und Braunschweig, liessen den Sachsenspiegel abschreiben, um ihn beim Rechtsprechen zu Grunde zu legen; der dritte Teil Deutschlands, hiess es noch am Ende des Mittelalters auf einem deutschen Reichstage, lebe nach dem Sachsenspiegel, ja es bildete sich allmählich die Ansicht, dass der Sachsenspiegel gemeines Recht sei.

Der Sachsenspiegel regte auch zuerst die Thätigkeit deutscher Rechtslehrer zu wissenschaftlicher Bearbeitung der Reehtsquellen auf, offenbar in Nachahmung italienischer Rechtslehrer, und zwar war es vornehmlich der Gegensatz deutscher und römischer Rechtsgrundsätze, der diese Arbeiten veranlasste. Diese Schriften heissen Glossen zum Sachsenspiegel, deren älteste dem märkischen Ritter Johann von Buch, in Urkunden 1321 bis 1355 genannt, angehörte; sein Werk ist wie der Spiegel selber in niederdeutscher Sprache geschrieben. Endlich hat man auch den Text des Sachsenspiegels durch Bilder zu erläutern versucht, die man in mehreren Handschriften findet; diejenigen der Heidelberger Handschrift, deren Originale dem 13. Jahrhundert anzugehören scheinen, sind in Auswahl herausgegeben von Kopp, Bilder und Schriften der Vorzeit, 1819; vollständig in: Teutsche Denkmäler, herausgegeben und erläutert von Batt, v. Babo, Eitenbenz, Mone und Weber, erste Lieferung Heidelberg 1820. – Die älteste gedruckte und datierte Ausgabe des Sachsenspiegels erschien 1474 zu Basel. Nach Stobbe, Geschichte der deutschen Rechtsquellen, Braunschweig 1860. Die bedeutendste Ausgabe des Sachsenspiegels ist die von Homeyer, 2. Ausgabe. Berlin 1835.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 891-893.
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