Waltharilied

[1062] Waltharilied ist ein in lateinischen Hexametern von dem Sanktgaller Mönch Ekkehart I. in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts verfasstes Gedicht, dessen Inhalt kurz folgender ist. Den mächtigen[1062] Hunnenkönig Etzel ergreift wieder einmal die Kriegslust. Die Franken will er diesmal mit seinen Horden heimsuchen. Zu Worms herrscht über das Frankenland König Gibich. Eben ist ihm ein Sohn Gunther geboren. Da kommt Nachricht, Etzel stehe mit einem ungeheuren Heere an den Grenzen des Landes. Unsinn wäre es, Widerstand zu leisten, Bündnis und Geiseln sind hier besser angebracht als Feindschaft und Kampf, so denken Gibich und seine Räte. Noch ist Gunther zu klein um als Geisel seinem Vaterlande Ruhe und Frieden zu erkaufen; deshalb wird des Königs Vetter Hagen zu Etzel gesandt. Weiter wälzt sich die Heereswoge der Hunnen gegen das Land der Burgunder, welches König Herrich regiert. Ihm wächst als Tochter auf die reizende Hildegund. Sie gibt der Vater als Geisel hin. Noch einen Herrscher will der Hunnenfürst heimsuchen, nämlich König Alpher von Aquitanien. Der Hof von Burgund und der von Aquitanien stehen in freundschaftlicher Beziehung, welche durch die Vermählung von Alphers Sohn Walthari und der schönen Hildegund, die noch Kinder, doch schon für einander bestimmt sind, in Zukunft noch enger werden soll. Wie seine beiden Vorgänger, der Franken- und der Burgunderkönig, hält es auch Alpher von Aquitanien für besser, statt mit dem Schwert durch Lösegeld und Geisel sich den gefährlichen Feind vom Halse zu schaffen; er überliefert seinen Sohn Walthari dem Hunnenfürsten, der nun mit Hagen, Hildegund und Walthari heimwärts zieht an die blaue Donau. Die Kinder werden an dem hunnischen Hof gut gehalten. Wohl unterrichtet in den Werken des Krieges und des Friedens wachsen die beiden Knaben auf, während Hildegund unter die Obhut der Gemahlin Etzels, der Königin Ospirin tritt und vermöge ihrer Tüchtigkeit und ihrer Tugenden es bis zur Aufseherin des Hofschatzes bringt.

In Worms ist nach dem Ableben Gibichs Günther auf den Tron gekommen. Er bricht das Bündnis mit den Hunnen und verweigert den üblichen Zins zu zahlen. Das hört Hagen und verschwindet bei Nacht und Nebel. Walthari dient vorläufig seinem Herrn als trefflicher Feldherr; doch hegt auch er Fluchtgedanken, und wie er nach einem siegreichen Feldzuge ruhmgekrönt zurückkehrt, verabredet er mit Hildegund die Flucht; dieselbe soll unmittelbar nach dem Siegesgelage stattfinden. Hildegund als Hüterin der Schatzkammer wird die Beschaffung der Ausrüstung anvertraut, bei der zwei Schreine mit Spangen und Gold, sowie Angelhaken nicht fehlen dürfen.

Der verhängnisvolle Abend kommt heran. Bald hat des Weines Kraft die Hunnenhelden, Etzeln an der Spitze, besiegt und in tiefen Schlaf versenkt. Jetzt ist die Gelegenheit zur Flucht da und bald trägt das gewaltige Schlachtross »Löwe« seinen Herrn und Hildegund samt den entwendeten Schätzen hinaus dem Westen zu, zum grossen Verdrusse des endlich aufwachenden Königs. Walthari und Hildegund fristen ihr Leben mit dem Fleische der gefangenen Vögel und der geangelten Fische. Nach vierzig Tagen setzen sie bei Worms über den Rhein. Als Belohnung bietet Walthari dem Fährmann die letztgefangenen Fische dar und reitet weiter. Doch jetzt naht das Verhängnis. Der Fährmann bringt die geschenkten Fische dem Koch des Königs, sie kommen auf Gunthers Tisch und aufmerksam gemacht durch die Fremdartigkeit der Speise forscht er nach deren Geber, in welchem denn auch Hagen aus des hergerufenen Fergen Erzählung seinen Jugendgespielen Walthari mit Hildegund erkennt.[1063] Da erfasst Habsucht das Herz des Frankenfürsten, es lechzt nach den Goldschreinen, die Walthari mit sich führt und in denen nach des Königs Meinung das Geld sei, das sein Vater als Zins nach Ungarn geliefert. Trotz Hagens Abraten reitet der habgierige König mit zwölf auserlesenen Recken, darunter Hagen, aus zur Verfolgung des Aquitaniers, der unterdessen landeinwärts reitend in den Wasichenwald gelangt und Abends beim Wasgenstein nach vierzigtägigem Reiten eine wohlverdiente Nachtruhe geniessen will, während seine scharfäugige Gefährtin Hildegund die Wache hält. Walthari fährt aus dem süssen Schlummer auf; er erkennt in den Gegnern die Franken, rüstet sich zum Gefecht, tröstet die entsetzte Hildegund und fleht Gott um einen günstigen Ausgang des Kampfes an. Nochmals will Hagen den König bestimmen von einem Angriff auf Walthari abzusehen. Sein Bitten nützt nichts. Vielmehr sendet Gunther den Camelo von Metz Walthari entgegen mit dem Auftrag vom Aquitanier die Schreine Goldes, das Ross und die Maid zu verlangen. Camelo thut nach seines Herrn Befehl, wird aber von Walthari zurückgeschickt mit dem Bescheid, dass er dem König hundert Spangen als Weggeld geben wolle. Wieder erhebt der erfahrene Hagen seine warnende Stimme, wird aber vom König mit höhnenden Worten der Feigheit geziehen, so dass der also Geschmähte schweigt und von Ferne dem bevorstehenden Kampfe zuzuschauen gedenkt. Sein früheres Verlangen zu wiederholen wird Camelo nochmals von Gunther angeschickt. Er geht und nachdem Walthari vergebens zweihundert Spangen ihm angeboten, entspinnt sich der Zweikampf, welcher mit dem Tode Camelos ein blutiges Ende nimmt. Dem Camelo folgen die übrigen Helden, deren jeder in der ihm eigentümlichen Waffe und Gefechtsart den Helden vergebens angreift; Walthari erwehrt sich sämtlicher Gegner und tötet sie. Nur Gunther und Hagen bleiben übrig. Kalt bleibt Hagen bei den inbrünstigen Bitten seines Herrn, auch teilzunehmen am Kampfe, einge denk der frühern bittern Worte des Königs, die ihn und seine Ahnen der Feigheit beschuldigt. Erst als Gunther auf den Knien vor ihm liegt und er sieht, dass die Ehre der Franken auf dem Spiele steht, entschliesst sich Hagen endlich im Zweikampf seinem Freund entgegenzutreten. Doch will er Walther in das freie Feld ziehen lassen und dort den Waffentanz beginnen. Um ihn sicher zu machen und so seinen Abzug zu veranlassen, ziehen sich die beiden Franken zurück. Gegen Morgen erhebt er sich aus dem Schlummer, schaut nach den gefangenen Rossen und nimmt als Kriegsbeute den Besiegten Panzer, Spangen, Schwert und Wehrgehenk ab. Dann rüsten sich er und Hildegunde zur Weiterreise, die mit der Beute beladenen Rosse treibt er vor sich her, als plötzlich von einer Anhöhe Gunther und Hagen herabsprengen zum blutigen Entscheidungskampf. Durch einen furchtbaren Schlag mit dem Schwert trennt Walthari dem König Gunther das eine Bein vom Rumpfe; ihm den Todesstreich zu geben gelingt nicht, da Hagen dem Hiebe sich entgegenwirft, so dass an seinem eisenharten Helme Waltharis Schwert wie Glas zersplittert. Walthari will den Schwertknauf verächtlich wegwerfen, da gibt er seiner Rechten eine Blösse und mit wohlgezieltem Schlage haut sie ihm Hagen ab. Noch ist Walthari nicht verloren, mit seiner Linken erfasst er das krumme Hunnenschwert und schlägt dem Hagen ins Gesicht, dass ein Auge und sechs Backenzähne der grimme[1064] Kämpe lassen muss. Jetzt hat das Ringen ein Ende. Versöhnt setzen sich die beiden Helden auf den Wiesengrund. Hildegund kommt herbei, verbindet die klaffenden Wunden und kredenzt den Lechzenden den Labetrunk. Mit Scherz und Neckereien über die gegenseitigen Verstümmelungen wird der Wein gewürzt, dann geht jeder seiner Wege.

Mit Freuden wird Walthari in Aquitanien empfangen und an der Seite seiner treuen Hildegund beherrscht er nach seines Vaters Tod noch dreissig Jahre lang das Volk von Aquitanien zu dessen Segen und Ruhm.

Der Verfasser des Walthariliedes ist der St. Gallische Mönch Ekkehart, der durch den Beinamen der I. unterschieden wird von seinen beiden Neffen Ekkehart dem II. und III. und Ekkehart dem IV., von denen der erstere es war, der wegen seiner funkelnden Augen und seiner herrlichen Gestalt von der Herzogin Hadwig zum Lateinlehrer ausgewählt wurde und 990 als Dompropst zu Mainz starb, während von Ekkehart dem III. man nur weiss, dass er seinen Neffen Ekkehart den II. auch einmal auf den Hohentwiel begleitete und es in St. Gallen bis zur Würde des Dekans gebracht, Ekkehart der IV. (c. 980 bis c. 1060) aber besonders bekannt ist als Verfasser verschiedener lateinischer Gedichte und als Fortsetzer der von Ratpert bis zum Jahre 883 geführten Casus Sancti Galli, die er selber mit dem Jahre 975 abschliesst.

Aus der Gegend von Gossau oder Herisau, nach anderen von Jonswil war Ekkehart I. nach St. Gallen in die Klostermauern eingezogen. Er brachte es zu hohen Würden, indem er die Stelle eines Dekans bekleidete und nach Abt Cralohs Tod 958 interimistisch selbst als Amtsverweser die Geschäfte des Klosters leitete, dann aber auf die Würde eines Abtes verzichtete zu gunsten Purchards, des Sohnes des Grafen Ulrich von Buchhorn. Vom ganzen Kloster tief betrauert starb er den 14. Januar 973. Das Gedicht ist eine Jugendarbeit, denn als Klosterschüler verfasste es Ekkehart im Auftrage seines Lehrers Geraldus. Die Entstehung des Gedichtes fällt in die Zeit von 920–940. Die uns vorliegenden Verse sind allerdings nicht die ursprünglichen, welche Ekkehart der I. verfasste. Sie sind vielmehr durch die bessernde Hand des Geraldus gegangen und haben später nochmals in Ekkehart dem IV., dem oben erwähnten gewandten Lateiner, einen sorgfältigen Korrektor gefunden. Wie hoch schon die Zeitgenossen Ekkeharts das Gedicht zu schätzen wussten, zeigt der Umstand, dass es mit einer Widmung versehen von Gerald dem Bischof Erchenbald von Strassburg zugesandt wurde und durch Ekkehart des IV. Vermittelung auch an dem Hofe des Erzbischofs Aribo von Mainz sich Ansehen zu verschaffen wusste.

Unserem lateinischen Walthariliede diente offenbar als Vorlage ein althochdeutsches Heldenlied, das die Waltharisage behandelte, uns aber leider verloren gegangen ist.

Nach Wackernagel enthält die Waltharisage wahrscheinlich eine Beimischung aus der Göttersage, oder wurzelt vielleicht ganz in letzterer: in dem Entscheidungskampfe wird Walthari einhändig, wie Tyr und Hagen einäugig wie Hödhr blind ist; Hildegund aber vereinigt in sich die Namen zweier Valkyrien Hildr und Gunnr.

Die Waltharisage liegt uns in drei Gestalten vor (Müllenhoff, Zeitschrift für deutsches Altertum XII., 273):

1. in einer alemannischen, 2. in einer fränkischen, und 3. in einer polnischen.

Die alemannische Gestalt der Sage tritt uns in dem Waltharius [1065] manufortis des Ekkehart entgegen, ferner in den Anspielungen auf die Waltharisage in dem Nibelungenlied und im Biterolf und endlich noch in dem angelsächsischen Gedicht Valdere, das aus dem 9. Jahrhundert stammend die älteste uns erhaltene Aufzeichnung der Sage ist und uns in zwei Fragmenten wenige einzelne Züge der Sage erzählt.

In der fränkischen Fassung liegt uns die Waltharisage in der Thidrekssaga vor, wo der Held als Valtari af Vaskasteini, dessen Vater nicht genannt wird, und als Schwestersohn Ermenrichs erscheint. Ihr schliesst sich auch das Fragment eines österreichischen Gedichtes über Walthari aus der besten Zeit des mittelhochdeutschen Epos an. Auf die Seite der Hunnen stellt sich der Pole Boguphalus († 1253), der in seinem Chronicon Poloniae die Waltharisage erzählt.

Über die Litteratur des Walthariliedes vgl. die Walthariusausgabe von Scheffel und Holder p. 174.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 1062-1066.
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