Die Wittwe

[288] Eine Romanze


Dem Herrn Kanonikus Gleim gewidmet.


»Grausamer Tod für feige Seelen,

Dich fleh ich an!

Zu früh kannst du mich nicht vermählen

Mit meinem Mann.

Nichts kann der armen Freude geben,

Die laut dir ruft;

O komm und endige mein Leben

Auf seiner Gruft!«


So rief von Klagen ganz ermattet,

Dem Tode nah,

Von Nacht und Schrecken noch umschattet,

Angelika.

Ein Ritter im vorübergehen

Hört ihr Geschrei,

Gerührt von Mitleid bleibt er stehen

Und tritt herbei.


Und schon zerfließt im Rosenlichte

Des Morgens Grau,

Er blickt mit strahlendem Gesichte

Aus Duft und Thau,

Und Lindor sieht, bedeckt von Sträuchen,

Ein Weib so schön,[289]

Daß ihr die schönsten alle weichen,

Die er gesehn.


Von welchem Pfeil wird er getroffen!

Verstört ihr Kleid,

Verwirrt das Haar, der Busen offen,

Im Auge Leid,

Doch daß daraus ein Funke blinket,

Der Liebe spricht;

Wem Schönheit noch und Jugend winket,

Braucht soviel nicht.


»Hier, ruft er aus, hier widerstehet

Kein Felsenherz!

Nur einen Blick, und es zergehet

In Lieb und Schmerz.

Gott Amor! Wenn dein Wink auch nimmer

Mir Witz verlieh –

Doch darf ich sie betrügen? Immer!

Ich rette sie!« –


Und ganz der Schönen hingegeben

In seinem Sinn,

Wirft er, ihr unbemerkt, sich neben

Dem Grabe hin;

Und sicherer ihr zu gefallen,

Als spräche er nur,

Läßt er von seinen Seufzern schallen

Die ganze Flur.


Angelika hört ihn erschrocken,

Sieht sich umher,

Hört wieder, ihre Tränen stocken,

Sie ächzt nicht mehr. –

Warum vergeßen wir die Plagen

Die uns gedrückt,

Sobald ein andrer gleiche Klagen

Gen Himmel schickt? –
[290]

Zu elend um für sich zu beben,

Sucht sie den Mann,

Der solche Seufzer hier erheben,

So jammern kann.

Neugierig seinen Gram zu wißen,

Tritt sie hinzu:

»Von welchem herben Schmerz zerrißen

Erseufzest du?« –


»Die Frau, die ich verloren habe,

Ist meine Quaal!« –

»Und ach! spricht sie, in diesem Grabe

Liegt mein Gemahl!« –

»Die Zeit wird Euer Unglück mindern,

Den Trost habt ihr.

Doch nichts kann meinen Jammer lindern –

Ich schuf ihn mir.«


»Grausamer! Deine Hand verübte

Die Unthat? Wie? –«

»Nein! weil ich sie zu feurig liebte!«

»Zu feurig? sie?«

»Bei jeder Schönheit, die Euch schmücket,

Ich schwör es Euch!

Die mich an ihren Busen drücket,

Erblaßet gleich.«


»So komm! Der Tod verschmäht das Leben,

Das ich ihm bot;

Er weigert sich mir Trost zu geben.

Sei du mein Tod!

O komm! ich geb in deine Hände

Hin meinen Harm.

Es sind Angelika ihr Ende

In deinem Arm!«


Der du die Einfalt der Empfindung

So edel singst,[291]

Und Witz und Wohllaut in Verbindung

Mit Stärke bringst,

Gleim, könnte von den Huldgöttinnen

Dies Liedchen mir

Ein kleines Lächeln abgewinnen,

So dankt ichs dir.

Quelle:
Heinrich Christian Boie. Beitrag zur Geschichte der deutschen Literatur im 18. Jahrhundert von Karl Weinhold, Halle 1868, S. 288-292.
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