Hunnenzug

[250] 1.

Über den Tanais, über den Ister

Winket der Tod mit der Sense der Pest:

»Gürte dich, schürze dich, schwarzes Geschwister!

Ferne nach Gallien ruft uns ein Fest.


Höre mich, hagerer Bruder du, Hunger!

Rüttle dich, schlafender Geier du, Krieg,

Allunersättlicher, immer noch junger,

Schüttle die blutigen Schwingen und flieg!«


Sieh da, in Wolken, den Völkern ein Grauen,

Ballt sich ein schwarzer, ein schrecklicher Zug:

Riesen und Schlangen, entsetzlich zu schauen,

Rasende Rosse mit Flügeln am Bug!


Allen voran der verderbliche Geier,

Kreischend nach Fraß und die Fänge gespannt:

Sonneverfinsternd erstrecket der Schreier

Schattende Schwingen vom Meere zum Land.


Flammendes Züngelein schlägt er zuweilen

Rot aus des Schnabels, des klaffenden, Ritz:

– Hinter ihm Nacht –: doch in zischenden Keilen

Zuckt aus dem Schnabel dann zündender Blitz.
[250]

2.

Aber noch grausiger als an dem Himmel

Wälzt sich auf Erden ein flutender Streif:

Drachenvergleichlich, ein Völkergewimmel,

Feuer im Rachen und Gift in dem Schweif!


Blies da ein Mann auf gewundenem Horne

An der Alutha vor felligem Zelt:

Schauernd in Lust und in Schreck und in Zorne

Bebt da der Okzident, zittert die Welt.


»Hunnen, die Erde, mir gab sie der Kriegsgott!

Hunnen, euch schenk' ich sie, mordet sie aus!«

»Attila, scholl es da, Väterlein, Siegsgott,

Danke dir, danke dir! Richten es aus.«


Horch! Von dem Kaukasus bebt bis nach Böhmen

Dröhnend Europa von Hufengestampf,

Hoch auf den Bergen und tief in den Strömen

Woget und wütet und würget der Kampf.


»Attila, Attila, Spender der Beute!

Väterlein, sage nur, machen wir's recht?

Pfählen die Jünglinge, schleifen die Bräute,

Bügelgebunden, am Lockengeflecht.


Attila, willst du so? Nieder die Römer!

Siebenfach nieder Germanengeschlecht!

Völkerzermalmender Länderdurchströmer,

Attila, sag' es uns, machen wir's recht?«


Aber die Geißel, neunsträngig, mit Blute,

Hebet gen Himmel der Chan im Gebet:

»Seht ihr in Wolken die stammende Rute?

Vorwärts! nach Westen hin weist der Komet.«
[251]

3.

Aber in Gallien, fern an der Marne,

Standen zwei Männer in Waffen gesellt:

»Soll denn, erwürgt in mongolischem Garne,«

Klagte der Eine, »verröcheln die Welt?«


»Nein doch, Aëtius,« – lachte der Zweite,

Warf in den Nacken das goldene Haar –

»Laß uns vergessen verstrittener Streite:

Sage, wen fürchten wir, – wir: – wenn ein Paar?


Rufe vom Tiber durch fliegende Boten

Deiner Legionen gepanzerte Wehr,

Traue Theoderichs freudigen Goten:

Römischer Schild und germanischer Speer!


Laß sie nur kommen auf zottigen Gäulen!

Laß sie empfahn uns mit Schild und mit Schaft:

Warte nur, ob sie nicht weichen mit Heulen

Römischer Kunst und germanischer Kraft.«

Quelle:
Felix Dahn: Gesammelte Werke. Band 5: Gedichte und Balladen, Leipzig 1912, S. 250-252.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Balladen
Balladen Und Lieder (German Edition)

Buchempfehlung

Anselm von Canterbury

Warum Gott Mensch geworden

Warum Gott Mensch geworden

Anselm vertritt die Satisfaktionslehre, nach der der Tod Jesu ein nötiges Opfer war, um Gottes Ehrverletzung durch den Sündenfall des Menschen zu sühnen. Nur Gott selbst war groß genug, das Opfer den menschlichen Sündenfall überwiegen zu lassen, daher musste Gott Mensch werden und sündenlos sterben.

86 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon